Wer kommt mit Komplexität klar - und wer nicht?
„Komplexität“ könnte das Modewort des Jahres werden. Das zeigen verschiedene Studien und Umfragen. So befragt die Beratungssparte des IBM-Konzerns in der „Global CEO Study“ alle zwei Jahre Führungskräfte weltweit nach ihren Sorgen, den größten Herausforderungen und nach wahrgenommenen Trends. Lange gaben die Führungskräfte branchenübergreifend an, ihre größte Sorge sei die Gestaltung von Wandel und Veränderung. In der Studie 2010 schob sich jedoch eine neue Herausforderung auf den ersten Platz: die zunehmende Komplexität. Und mehr als die Hälfte der 1.500 Befragten glaubte, es fehle an der individuellen Fähigkeit, diese Komplexität zu bewältigen. Eine Einschätzung, die auch eine im Frühjahr 2012 vorgestellte Studie „Jeder für sich und keiner fürs Ganze?“ der Stiftung Neue Verantwortung bestätigte, für die 30 repräsentative Führungskräfte aus Deutschland interviewt worden waren.
Organisations- und Führungsforscher beschäftigt die Frage, wie große Organisationen mit Komplexität umgehen können. Meistens beschränken sie sich auf Wirtschaftsunternehmen und vernachlässigen die Politik etwas – obwohl sich Politiker in mindestens ebenso komplexen Systemen bewegen und Entscheidungen treffen müssen.
Was genau ist Komplexität? Häufig wird sie nur als das diffuse Gefühl beschrieben, dass alles immer mehr und unüberschaubarer wird – etwa wenn sich das E-Mail-Postfach im Minutentakt füllt oder immer mehr Anspruchsgruppen bei Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. In Wirklichkeit handelt es sich bei diesem „mehr von allem“ lediglich um zunehmende Kompliziertheit. Ein kompliziertes System ist ein System, das aus vielen miteinander verbundenen Einzelteilen besteht, zum Beispiel der Motor in einer Mercedes S-Klasse oder ein neues, 120-seitiges Luftverschmutzungsgesetz. Beide, Motor und Gesetz, sind kompliziert. Sie lassen sich nicht sofort erfassen. Um sie genau zu verstehen, braucht es Zeit und Energie. Aber dann können wir sowohl den Motor wie auch das Gesetz in alle Einzelteile zerlegen und jedes Element separat untersuchen. Das Ganze ist die Summe seiner Teile.
In einem komplexen System ist dies nicht mehr möglich. Das Ganze ist mehr als die Summe aller Teile. Beispiele sind eine Ameisenkolonie, das menschliche Gehirn, das Wetter, der Regenwald oder die globalen Finanzmärkte. Wir können zählen, wie viele Ameisen es gibt und was sie tun – wir verstehen aber nicht, über welche Steuerungsmechanismen sie einen Ameisenstaat aufbauen und funktionsfähig halten. Wir wissen, wie viele Neuronen es im Gehirn gibt – aber wir haben kein vollständiges Verständnis davon, wie menschliches Bewusstsein entsteht. Auch könnten wir in einem gigantischen Datenmodell alle Börsenhändler der Welt erfassen – jedoch sind wir nicht in der Lage, Börsenbewegungen auch nur für einen Tag präzise vorherzusagen.
In einem komplexen System erzeugen die Interaktionen der Einzelelemente eine Dynamik, die wir nicht hundertprozentig modellieren können. Die unterschiedlichen Elemente sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft, und ihre Beziehungen unterliegen dynamischen Veränderungen. Im Gegensatz zu komplizierten Systemen führen diese Veränderungen in einem komplexen System zu kaum oder gar nicht vorhersagbaren Aus- und Wechselwirkungen.
Einfach, kompliziert, komplex, chaotisch
Was bereitet den Führungskräften also wirklich Sorgen – Kompliziertheit oder Komplexität? Häufig besteht das Problem lediglich darin, dass Prozesse und Entscheidungen unübersichtlich geworden sind, weil sie immer mehr Teilelemente umfassen. Hinzu kommt die Zeitnot, dass also Entscheidungen in immer kürzeren Intervallen getroffen werden müssen und so der Eindruck entsteht, förmlich erdrückt zu werden. Nicht selten ist das Problem jedoch die Dynamik, dass sich also die Folgen von Entscheidungen nicht mehr vorhersagen lassen. Diese drei Problemlagen – Vielzahl der Elemente, Zeitnot, Dynamik – können getrennt voneinander oder gemeinsam auftreten. In jedem Fall erfordern sie unterschiedliche Lösungsansätze. Es gibt also nicht die eine Handlungsanweisung für Führungskräfte.
In einem lesenswerten Aufsatz aus dem Jahr 2007 unterscheiden die beiden Managementforscher David J. Snowden und Mary E. Boone vier Arten von Systemen beziehungsweise Herausforderungen: einfach, kompliziert, komplex und chaotisch. Bei einfachen Problemen helfen Best-Practice-Ansätze und Erfahrung, häufig auch das Bauchgefühl. Für komplizierte Herausforderungen eignet sich der Rat von Experten, die in der Lage sind, verschachtelte und umfangreiche Zusammenhänge zu analysieren und zu verstehen. Politiker haben hierfür die Auswahl zwischen den eigenen Experten in Partei, Fraktion oder Ministerium oder externen Fachleuten. Für komplexe Herausforderungen empfehlen die Autoren eine Kultur des Experimentierens und des Sich-Einlassens auf dynamische Veränderungen. Experten können hier nur bedingt weiterhelfen: Die Logik der Komplexität führt dazu, dass wir nicht wissen, welche Fachleute wir brauchen werden. Im Zweifel produzieren die Expertengremien stark voneinander abweichende oder gar sich widersprechende Fachgutachten.
In chaotischen Situationen schließlich geht es vorwiegend darum, dass Führungskräfte möglichst schnell eine Entscheidung treffen und handeln können. Obwohl wirklich chaotische Situationen eher selten sind, stammen viele unserer Vorstellungen davon, was gute Führungskräfte ausmacht, aus derartigen Zusammenhängen. Chaotische Situationen passen gut zur Medienlogik des 21. Jahrhunderts: Führungshandeln besteht dabei vor allem aus dem Handeln an und für sich. Es geht darum, dass jemand die Initiative ergreift und in einem chaotischen oder gar traumatisierten Umfeld mutig vorangeht.
Denken, experimentieren – und entscheiden
Ein gutes Beispiel ist der Flughafen-Bau in Berlin-Schönefeld. Die Boulevard-Presse spricht von chaotischen Zuständen, dennoch ging es ursprünglich nur um ein höchst kompliziertes Gebäude, das mit ausgefeiltem Projektmanagement ohne größere Schwierigkeiten gebaut werden kann. Komplex wird die Sache erst, wenn die Ansprüche der Fluglinien, das unkalkulierbare Verhalten der Passagiere und Gäste sowie die Aktionen der Manager und Aufsichtsräte hinzukommen. Für den komplizierten Teil des Baus gibt es einen Geschäftsführer, der mithilfe von Bauexperten die komplizierten Herausforderungen eines derartigen Großprojekts bewerkstelligt. Die Mitglieder des Aufsichtsrats beaufsichtigen das Gesamtvorhaben. Dass es bei derart wichtigen Bauten immer wieder zu Verspätungen kommt, ist nichts Neues oder Ungewöhnliches. Allerdings sollte in der Verantwortung der Aufseher auch die Aufgabe liegen, mögliche komplexe Herausforderungen zu antizipieren und gegebenenfalls rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ermöglichen. Längst sind Forderungen laut geworden, dass statt Politiker doch besser Bauexperten im Aufsichtsrat sitzen sollten. Aber diese Vorschläge lösen das Problem nicht.
Snowden und Boone entlasten die Politiker mit dem Argument, diese müssten ganz unterschiedliche Stärken mitbringen und seien nicht für alle Herausforderungen gleichermaßen geeignet. So habe der damalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani in den Tagen und Wochen nach dem 11. September 2001 mit Tatkraft und Entschlossenheit Entscheidungen gefällt und den Wiederaufbau Manhattans organisiert, konnte jedoch während seiner übrigen Amtszeit wenig glänzen. Viele Führungskräfte seien in komplexen Situationen nicht geduldig genug und verfielen schnell in den krisenerprobten Stil des command and control, anstatt verschiedene Ansätze auszuprobieren. Ihnen fällt es oft schwer, Fehler zu tolerieren – diese gehören aber zum Experimentieren dazu. In komplexen Situationen haben diejenigen Führungskräfte einen Vorteil, die sich Zeit zum Denken nehmen können. Umgekehrt ist zu langes Grübeln in chaotischen Situationen, in denen schnelles Handeln gefragt ist, eher ein Nachteil.
Folglich zieht das beste Verhalten in komplexen Situationen nicht unbedingt viel Medienaufmerksamkeit auf sich: sich experimentell vorzuwagen, zu schauen, was passiert, verschiedene Optionen zu entwickeln, auszuprobieren und schließlich eine davon auszuwählen. Solch ein Vorgehen passt eher zu Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier als zu Gerhard Schröder und Nikolas Sarkozy. Präsentieren sich Politiker medienwirksam als starke „Entscheider“, wie der ehemalige amerikanische Präsident George W. Bush, drohen komplexe Herausforderungen fahrlässig auf einfache Alternativen reduziert zu werden. Dabei geht es nicht darum, Politiker wieder stärker zum Denken oder gar Grübeln aufzufordern. Sie sollen entscheiden. Aber in einer komplexen Welt müssen Entscheidungen als Teil eines Prozesses gesehen werden, der aus Denken, Experimentieren und Reflektieren besteht.