Wer nur grillt, der wird gegrillt
Zunächst: Diese Wahlen waren für alle drei Länder die ersten „normalen“ Landtagswahlen. 1990 fanden inmitten der Vereinigungseuphorie die Gründungswahlen statt. 1994 wurde noch inmitten der Transformation gewählt – bei steigenden Arbeitslosenzahlen und zunehmender Verunsicherung. 1999 wählten sie im Gefolge des unpopulären Kosovo-Krieges, nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines und dem ersten Sparpaket der neuen rot-grünen Bundesregierung. Die Wahlen 2004 prägten heftige Proteste gegen die Hartz-IV-Gesetze. Und fünf Jahre später wählten die drei Länder inmitten der globalen Finanzkrise.
2014 ist alles anders. Seit 2005 sinkt die Zahl der Arbeitslosen in Ostdeutschland fortwährend und die Ost-Länder verzeichnen – unterbrochen nur durch die Wirtschafts- und Finanzkrise 2009/10 – zwar kein großes, dafür aber kontinuierliches Wirtschaftswachstum. Damit erleben die Ostdeutschen mittlerweile seit fast zehn Jahren einen Aufschwung, der langsam auch in den Köpfen angekommen ist. Nach zwei Jahrzehnten permanenter Brüche und Umwälzungen stellt sich erstmals ein Gefühl gesellschaftlicher Konsolidierung ein. Den Menschen geht es gut. Das kann man im Übrigen auch sehen – man muss nur mit offenen Augen durchs Land fahren. Auch in den kleinen Städten und Dörfern abseits von Jena, Dresden oder Potsdam ist der Aufschwung angekommen. Die properen Häuschen zeugen davon, aber auch steigendes ehrenamtliches Engagement.
So gut lief es in Ostdeutschland noch nie
Noch 2004 war die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft extrem verunsichert darüber, ob die rot-grünen Arbeitsmarktreformen ihren sozialen Abstieg besiegeln würden – bei Arbeitslosenquoten von 20 bis 25 Prozent für viele eine reale Befürchtung. Heute ist die Arbeitslosenzahl mehr als halbiert. In einigen Regionen, etwa im Berliner Umland, herrscht de facto Vollbeschäftigung. Kein Wunder, dass zwei Drittel der Brandenburger mit der wirtschaftlichen Lage zufrieden sind. Das ist ein Rekordwert! Noch vor fünf Jahren waren es nur 29 Prozent, vor zehn Jahren gar nur 7 Prozent.
Nun war die politische Debatte in Ostdeutschland noch nie übermäßig ideologisch aufgeladen. Die Probleme waren einfach zu groß, Konfliktlinien weniger scharf ausgeprägt. Mittlerweile besteht über alle Parteien hinweg ein Konsens in der Frage der Haushaltskonsolidierung. Die zurückgehenden EU-Fördermittel, der auslaufende Solidarpakt und die sinkenden Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich haben die ostdeutschen Länder veranlasst, ihre Haushalte tiefgreifend zu konsolidieren – was kaum infrage gestellt wird. Das führt jedoch gleichzeitig zu einer starken politischen Harmonisierung, denn Ausgabenwünsche sind so nur begrenzt erfüllbar.
Im Ergebnis haben vor allem Brandenburg und Sachsen Sommerwahlkämpfe ohne große Kontroversen erlebt. Thüringen hob sich davon ab, denn dort schien erstmals ein Machtwechsel realistisch. Was ist aus diesen drei Wahlen zu lernen? Neben Unterschieden zeigen sich auch Gemeinsamkeiten:
Die Wahlbeteiligung. Zwar sind bei Landtagswahlen – und zwar in Ost wie West – Beteiligungsquoten zwischen 50 und 60 Prozent mittlerweile die Regel, doch die 48 und 49 Prozent in Sachsen und Brandenburg durchbrachen dann doch eine Schallmauer. Über die Gründe lässt sich letztlich nur spekulieren.
In beiden Ländern schien schon lange festzustehen, wer gewinnt. Und die Frage, wer Regierungspartner wird, schien die Leute kaum zu interessieren. Das hat Anhänger aller Parteien demobilisiert. Das hohe Maß an Zufriedenheit und das Fehlen fast jeglicher politischer Kontroverse haben ein Übriges getan, um die Wähler gerade nicht zur Urne zu treiben. Gleichwohl gibt es aber in allen ostdeutschen Ländern eine Gruppe, die mit der gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung ganz grundsätzlich unzufrieden ist. Womit wir bei der zweiten Gemeinsamkeit der drei Wahlen sind.
Die AfD. Mit zehn bis zwölf Prozent der Stimmen hat die AfD auf Anhieb alle drei Landtage erobert. Dabei ist ihr eigentliches strategisches Ziel der Bundestag; für die Landespolitik interessiert sich die AfD kaum. Entsprechend kunterbunt war ihr Programm. Da wurde die Wiedereinführung des DDR-Haushaltstages gefordert und die Drei-Kinder-Familie gepriesen. Da lobte der AfD-Vorsitzende die Innere Sicherheit in der DDR, da wurden ein gegliedertes Schulsystem und die Schließung der Grenze nach Polen eingeklagt. Die Wähler kümmerte das alles nicht, sie wählten die AfD nicht wegen, sondern trotz ihres Programms: weil sie vermeintlich tabuisierte Themen ansprach. So erreichte die AfD vor allem Männer, jüngere Wähler, überdurchschnittlich viele Arbeiter und Arbeitslose. Im Ergebnis schlug sie eine Schneise besonders in das Reservoir von CDU und Linken, begrenzte aber auch das Potenzial der SPD.
Und wie sieht die Bilanz der Sozialdemokraten aus? Mit der Wahl von 2014 hat die SPD in Brandenburg ihre Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Am Ende der neuen Wahlperiode wird sie das Land fast drei Jahrzehnte geprägt haben. Der überraschende Übergang von Matthias Platzeck auf Dietmar Woidke im vorigen Sommer dürfte als reibungslosester Amtswechsel aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Genau dies gehört zu den Erfolgsgeheimnissen der Brandenburger SPD: absolute Geschlossenheit nach außen, dazu Bodenhaftung und intensive Vernetzungsarbeit in alle gesellschaftlichen Bereiche. Das ist für eine kleine Partei mit gerade 6 200 Mitgliedern extrem anstrengend, doch der Lohn sind eine Scharnierfunktion im Parteiensystem und das Prädikat „Brandenburgpartei“. Damit landet die märkische SPD bislang regelmäßig fünf bis sieben Punkte über den Werten der Bundespartei.
In Brandenburg wird es komplizierter
Trotzdem steht die SPD nun vor einer komplizierten Regierungsbildung, denn die Mehrheitsverhältnisse im neuen Potsdamer Stadtschloss sind komplizierter geworden. Die Linkspartei ist geschrumpft. Der Zuwachs der CDU ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen – die Christdemokraten liegen 20 Punkte unter den Werten ihrer Bundespartei. Gleichwohl sind die Aufgaben für die nächsten fünf Jahre beträchtlich: Verwaltungsreform, Kriminalität eindämmen, eine Wachstumsstrategie für das boomende Berliner Umland sowie eine Perspektive für die schrumpfenden äußeren Regionen – und das alles in einer Wahlperiode, in der die Sonderförderung aus dem Solidarpakt endet. Dabei steht die CDU unter dem Druck der AfD, während die Linke den Nachweis liefern muss, dass das Regieren nicht zwangsläufig zu Verlusten führt. Die SPD wiederum muss sich Gedanken machen, warum von der Linkspartei geflüchtete Wähler nicht bei ihr angekommen sind, so wie es in Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin nach der ersten rot-roten Regierung geschah.
In Sachsen hat die SPD als einzige der „etablierten“ Parteien zugelegt und den 10-Prozent-Turm verlassen, in dem sie zuvor 15 Jahre lang verharrte. Auch wenn der Zuwachs nur zwei Prozentpunkte beträgt – es besteht Hoffnung, denn erstmals seit langem wurden die Sozialdemokraten im Land wieder wahr- und ernstgenommen. Die sächsische SPD hat dabei alles auf eine Karte gesetzt: auf ihren charismatischen Vorsitzenden Martin Dulig. Dass diese Strategie ihre Grenzen hat, zeigt das Wahlergebnis allerdings auch. Für die Zukunft wird es darauf ankommen, dass die SPD für sich ein überzeugendes Funktionsargument entwickelt: Nur mit ihr ist eine Regierung möglich, die sich sozialer Gerechtigkeit ernsthaft annimmt. Sie wird Themen entwickeln müssen, die originär sozialdemokratisch und von den anderen unterscheidbar sind. Einfach mehr Polizisten, Lehrer oder Erzieher zu fordern, ist noch kein sozialdemokratisches Programm – denn das fordern die anderen auch.
Die SPD in Thüringen hat zwar das gleiche Wahlergebnis wie in Sachsen – die Lage ist hier jedoch wesentlich dramatischer. Erstmals haben die beiden „Volksparteien“ CDU und SPD bei einer Wahl zusammen weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten. Das ist eine der zentralen Sensationen dieses Wahlgangs. Christ- und Sozialdemokraten haben im Landtag eine Mehrheit von nur einem Sitz. Und das bei einer CDU, deren Fraktionsvorsitzender oft das Gegenteil von dem sagt, was seine eigene Ministerpräsidentin erklärt; bei einer Fraktion, die ihre eigene Frontfrau 2009 erst im dritten Wahlgang zur Regierungschefin machte und in der jede Menge Leute sitzen, die mit Frau Lieberknecht noch einige Rechnungen offen haben. Doch die Alternative ist genauso unattraktiv. Ein linker Ministerpräsident wäre nicht nur eine Premiere, die SPD würde damit tendenziell auch ihre Meinungsführerschaft im ostdeutschen Mitte-links-Spektrum aufgeben. Es mag ja sinnvoll sein, dass Sozialdemokraten vor Wahlen keine Koalitionstabus aufbauen – dafür ist das Parteiensystem mittlerweile zu kompliziert. Der Fehler der Thüringer SPD war jedoch vor allem, dass sie ohne Kampfansage in den Wahlkampf zog. Weder gab es eine inhaltliches noch eine personelles Angebot mit Führungsanspruch an die Wähler. Stattdessen zog die Spitzenkandidatin grillend durchs Land – und wurde am Ende selber gegrillt. Die SPD geriet unter die Räder einer Auseinandersetzung, die sich nur noch zwischen CDU und Linkspartei abspielte.
Wie geht es jetzt weiter für die ostdeutsche SPD? Eine einfache Antwort gibt es nicht. Zweifellos bedarf es handlungs- und kampagnenfähiger Parteistrukturen, die die mitglieder- und mandatsschwache SPD nicht aus sich heraus aufbauen kann. Sie braucht überzeugende Personen mit Bodenhaftung, die die SPD fest in der gesellschaftlichen Mitte verankern und ostdeutsche Interessen glaubwürdig vertreten. Und natürlich braucht sie Ideen, die sie gegenüber anderen Parteien abgrenzen und die die sozialdemokratische Geschichte überzeugend weitererzählen. Kurz gesagt: Die SPD muss mehr Politik wagen.