Wie François Hollande die Agenda 2010 entdeckte
Die Franzosen ächzen unter den Lasten einer Wirtschaftskrise, die ihnen nach dem Einbruch von 2009 nur eine sehr kurze Verschnaufpause gegönnt hat. Im vergangenen halben Jahr ist Frankreich zurückgefallen in die Rezession. Ob es diese in der zweiten Jahreshälfte überwinden kann, ist ungewiss. Für den Einzelnen ist die Lage heute eher schlechter als vor vier Jahren: Die Arbeitslosigkeit ist höher. Und im vergangenen Jahr ist zum ersten Mal seit vielen Dekaden die reale Kaufkraft geschrumpft. François Hollande als Staatspräsident zahlt die Zeche dafür, in Form von äußerst schlechten Umfragewerten. Seine Reformen gehen den einen viel zu langsam, den anderen zu schnell. Sein Diskurs versucht, beide Lager zu bedienen – und wird dadurch unscharf.
Die Franzosen reagieren auf die Dauerkrise mit einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Realismus. Die Mehrheit sieht ein, dass das Land nicht nur einer vorübergehenden Schlechtwetterperiode ausgesetzt ist, sondern seit zehn Jahren im Vergleich zur weltweiten Konkurrenz abbaut. Sie erwartet keinerlei schnelle Verbesserung mehr. Viele sind äußerst pessimistisch und denken, dass Frankreich auf Dauer abrutscht und nicht mehr in einer Liga mit Deutschland spielt. Doch die politischen Konsequenzen, die unsere Nachbarn daraus ziehen, sind sehr unterschiedlich.
In der politischen Mitte, zu der man den sozialdemokratischen Flügel der Sozialisten, die Liberalen und den reformerischen Teil der Sarkozy-Partei UMP zählen kann, ist die Bereitschaft zu Veränderungen da. Sie ist sogar ausgeprägter als in früheren Jahren. Technokratisch ausgedrückt geht es um sanierte Staatsfinanzen, wirtschaftliche Strukturreformen und wettbewerbsfähigere Unternehmen. Im Kern sind das auch die Ziele, die Hollande verfolgt, auch wenn sie in seiner widersprüchlichen Rhetorik nicht immer zu erkennen sind.
Andere dagegen, und sie bilden eine nicht mehr so kleine Minderheit, suchen auf simple Weise nach Schuldigen und glauben, sie in Form von „Europa“, einer unfähigen und korrupten politischen Klasse und/oder den Einwanderern zu finden. Diese Populisten vor allem von ganz rechts bieten ein geschlossenes Weltbild, das den Enttäuschten aller politischen Lager zunehmend attraktiv erscheint.
So zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits radikalisiert sich das Land. Dafür steht der seit einem Jahr ungebremste Aufstieg der rechtsradikalen Front National. Unter Marine Le Pen setzt sie derzeit mehr auf die Hetze gegen Europa als auf die Stimmungsmache gegen Einwanderer. Europa werde von „gigantischen Multis und räuberischen Finanzmärkten“ dominiert und nehme das gesunde, bodenständige Frankreich aus. Le Pen und Konsorten stellen Hollande als den Steigbügelhalter des ausländischen Kapitals hin. Ihre Äußerungen sind oft nicht mehr von denen des Führers der Linksfront Jean-Luc Mélenchon zu unterscheiden. Auch für ihn, den sogar die Kommunisten mit zunehmender Skepsis betrachten, sind Europa, die Finanzmärkte und vor allem Hollande der Hauptfeind. Dem Präsidenten wirft er vor, „neoliberale Politik“ zu betreiben und „einzuknicken vor dem Kapital“.
Straßenschlachten um die Homo-Ehe
Auch die bürgerliche Opposition ist Teil der Radikalisierung. Die Mobilisierung gegen die Homo-Ehe, die von der UMP und der Kirche mitgetragen wurde, hat der konservativen Partei nicht genützt. Sie steht in den Umfragen derzeit schlechter da als noch vor einigen Monaten. Doch sie hat einen Teil des bürgerlichen Lagers radikalisiert, angefacht im Ressentiment gegen alles, was sie mit der Linksregierung verbindet. In drei großen Demonstrationen zogen in den vergangenen Monaten jeweils Hunderttausende durch die Straßen von Paris. Für Deutschland ist völlig überraschend, dass ein Thema wie die Ehe für homosexuelle Paare solche Emotionen freisetzen kann. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft werfen der Linken vor, mit der „Ehe für alle“ die französische Gesellschaft zerstören zu wollen. Profitiert haben von dieser verschärften Auseinandersetzung vor allem die in kleinen Gruppen organisierten extremen Rechten, die sich diese Bewegung mehr und mehr angeeignet haben. Was sich hier entlädt, ist Ausdruck einer Gesellschaft, die sich desorientiert und entwurzelt fühlt und ihre Wut an Schwulen und Lesben auslässt. In den vergangenen Wochen haben sich die radikalen Gruppen Straßenschlachten mit der Polizei geliefert und Verteidiger der Homo-Ehe, die mittlerweile geltendes Recht ist, mit dem Tod bedroht.
Die Krise und die widersprüchlichen Reaktionen der Franzosen darauf sind auch eine Zerreißprobe für die großen Parteien. Die UMP müsste von Hollandes Unbeliebtheit eigentlich profitieren. Doch davon ist sie weit entfernt. Sie hat sich nach der Wahlniederlage ihres Idols Nicolas Sarkozy vor einem Jahr mehr oder weniger gespalten. Die Urwahl eines Parteivorsitzenden geriet zum unkontrollierten Machtkampf und führte in ein Fiasko. Zu persönlichen Rivalitäten gesellen sich strategische Differenzen: Die einen wollen eine möglichst harte Opposition und hofften, in der Mobilisierung gegen die Homo-Ehe neue Energie zu finden. Doch sie landeten in einer politischen Sackgasse und fanden sich im Schulterschluss mit radikalen Kräften. Für diese harte Linie steht der amtierende Vorsitzende Jean-François Copé. Die anderen, geführt vom früheren Premier François Fillon, setzen auf Moderation, Abgrenzung von der extremen Rechten und die Betonung der eigenen Regierungsfähigkeit. Für François Hollande, der seit einem Jahr im Amt ist, bedeutet die zerstrittene Opposition natürlich einen Segen. Sein Problem ist weniger die gemäßigte Rechte als vielmehr der linke Flügel der Sozialisten, die Opposition in der eigenen Partei.
Für Hollande kam der Rückfall in die Rezession überraschend und hat seine politische Strategie durchkreuzt. Denn er hatte gehofft, von einer wirtschaftlichen Belebung profitieren zu können. Sein Plan war, im Aufschwung auf sanfte Weise den Haushalt zu sanieren und gleichzeitig mit ein paar Reformen das Land wirtschaftlich zu stärken, ohne harte Konflikte durchstehen zu müssen. Anschließend wollte er die Wachstumsgewinne für eine klassische Umverteilungspolitik nutzen. So wollte er das heikle innerparteiliche Gleichgewicht sichern, die nicht immer friedliche Koexistenz des linken, des sozialdemokratischen und des neo-colbertistischen, staatskapitalistischen Lagers. Die eigene Mehrheit sollte handlungsfähig bleiben, um bei den Kommunalwahlen und der Europawahl im nächsten Jahr ordentlich abzuschneiden.
Doch die erneut aufbrechende Krise zwingt ihn nun zu kontroversen Entscheidungen. Mitten in dieser schwierigen wirtschaftlichen Lage muss er die Haushaltssanierung fortsetzen und gleichzeitig bei den Strukturreformen etwa im Sozialsystem härter herangehen, als er es sich gewünscht hat. Das bringt die Linke gegen ihn auf, die mit einer völlig anderen Politik gerechnet hatte. Der Ärger entlädt sich in offener Kritik an Hollandes Politik, die sogar aus der eigenen Regierung kommt. Beispielsweise kritisierte Industrieminister Arnaud Montebourg Hollandes Politik der „budgetären Ernsthaftigkeit“: „Wenn diese Politik das Wachstum schwächt, ist sie nicht mehr seriös, sondern dumm.“ In Deutschland wäre diese Intervention ein Grund für die Entlassung gewesen. Doch Hollande will alle Strömungen auch weiter am Kabinettstisch versammeln und damit, wie er glaubt, unter Kontrolle halten.
Inhaltlich setzt der Präsident auf sozialdemokratische Reformen, die er aber nicht in ein geschlossenes Konzept à la Agenda 2010 packt und auch nicht mit einem politischen Überbau versieht. Sein Versuch, alle innerparteilichen Lager rhetorisch zufriedenzustellen, zwingt ihn zu einer politischen Slalomfahrt. Bei seiner zweiten großen Pressekonferenz im Elysée im Mai sagte er auf die Frage, ob er nun Sozialdemokrat oder Sozialist sei: „Ich bin ein Sozialist, der Frankreich voranbringen will.“ Stets vermied er es, sich positiv auf die Agenda 2010 zu beziehen. Doch auf der Feier zum 150. Geburtstag der SPD in Leipzig erkannte er plötzlich die Schröderschen Reformen als sinnvoll und erfolgreich an: „Fortschritt, das bedeutet auch, mutige Reformen zu machen, um die Beschäftigung zu sichern und soziale und kulturelle Veränderungen vorwegzunehmen, wie Gerhard Schröder es vorgemacht hat. Man baut nichts Dauerhaftes, wenn man die Realität ignoriert.“
Näher an Schröder als an der aktuellen SPD
Solche Worte waren in der Parti Socialiste bislang tabu. Prompt sorgte die Rede in der Partei für einige Aufregung. Dennoch setzt Hollande gleichzeitig seinen noch aus dem Wahlkampf herrührenden verbalen Kampf gegen „die Austerität“ fort. Seine Partei lässt er auch die Bundeskanzlerin angreifen. Er selber setzt in der Europapolitik auf eine „freundschaftliche Spannung“ gegenüber Angela Merkel. Diese Haltung äußert sich in Forderungen nach einer „Politik für Wachstum“ in der EU (die aber nicht näher ausgeführt wird). Im Inland dagegen bleibt er bei der Budgetkonsolidierung, auch wenn diese eben von Teilen der eigenen Partei mittlerweile offen kritisiert wird. Auch seine eigene Strategie für mehr Wachstum ist nicht von der deutschen Politik zu unterscheiden. Schlüsselelemente sind mehr Wettbewerbsfähigkeit, niedrigere Arbeitskosten, bessere Bildung, die Förderung von Forschung und Technologie und eine Energiewende.
Immer deutlicher tritt zutage, dass die kritische Haltung gegenüber Merkel bei Hollande ein Ersatz für klassische linke Wirtschaftspolitik geworden ist, die er nicht verfolgen will und kann. Der Präsident glaubt nicht an neo-keynesianische Rezepte. „Jeder Staat in Europa muss seine Finanzen sanieren und für Wettbewerbsfähigkeit sorgen, das kann er nicht von Europa als Geschenk erwarten“, dozierte der Präsident Ende Mai auf einem europapolitischen Kolloquium in Paris.
Es gibt auch keinen finanziellen Spielraum für weitere Ausgabenprogramme. Mit einer Staatsquote von gut 56 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ist Frankreich der Spitzenreiter in der Eurozone. Die Verringerung des Haushaltsdefizits ist zu Hollandes politischem Anker geworden. „Es geht um die Souveränität unseres Landes“ oder „Wir dürfen uns nicht angreifbar machen und zum Spielball der Märkte werden“ – mit solchen Formulierungen bemüht er sich, die in der eigenen Partei als „rechts“ verschriene Konsolidierungspolitik akzeptabel zu machen.
In der EU hat Frankreich einen zweijährigen Aufschub für die Sanierung des Budgets erreicht. Statt 2013 muss das Haushaltsdefizit erst 2015 unter den Wert von drei Prozent gedrückt werden. Doch diese Verzögerung ist an die Bedingung gebunden, in der Zwischenzeit Strukturreformen in Angriff zu nehmen. Diese allerdings hat Hollande ohnehin vor: Er will noch 2013 eine weitere Rentenreform beschließen, die härter werden wird als die von Sarkozy 2010, gegen die sich damals die Sozialisten aufgelehnt hatten. Außerdem will er die Arbeitslosenversicherung reformieren, die Staatsausgaben dauerhaft durch eine Vereinfachung des Apparates verringern, die Bürokratie abbauen und die Finanzierung von Unternehmen verbessern. Mit diesem Programm ist Hollande mittlerweile näher an der SPD der Schröder-Jahre als an der des Jahres 2013 – was nicht nur am Präsidenten liegt, sondern auch daran, dass Frankreich gewaltigen Nachholbedarf an Veränderungen hat, die seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Die hohe Arbeitslosigkeit geht vor allem darauf zurück, dass die Exportwirtschaft seit zehn Jahren Marktanteile im Ausland verliert.
Man darf allerdings annehmen, dass Hollande sich auch weiterhin rhetorisch von Merkel abgrenzen und immer wieder kleinere oder größere Differenzen mit ihr pflegen wird, um sein eigenes Profil erkennbar zu halten. Ob das ausreicht, um alle Flügel der Sozialisten auf Dauer zu kontrollieren, ist eine offene Frage. Dabei darf man nicht vergessen, wie stark die Stellung des Präsidenten in Frankreich ist. Sollte ein größerer Teil der eigenen Partei ihm tatsächlich irgendwann die Gefolgschaft versagen, könnte er immer noch die liberalen Abgeordneten des Parlaments an sich binden und eine andere Regierung bilden. Das allerdings wäre ein harter Einschnitt, der kaum zu Hollandes Charakter passt.