Wie grün wird die Zukunft?
Die Republik ist in Bewegung geraten. Vom Massenprotest gegen Stuttgart 21 über das Wiedererstarken der Anti-AKW-Bewegung bis zum Hamburger Schulentscheid – zum ersten Mal seit längerer Zeit formiert sich an verschiedenen Stellen so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition, die die Regierenden in Furcht und Schrecken versetzt. Die baden-württembergische CDU steht vor einer historischen Wahlniederlage, Gorleben ist umstritten wie lange nicht, die grüne Schulpolitik in Hamburg ist schwer angeschlagen und die Integrationspolitik zumindest von Union und SPD verschiebt sich spürbar nach rechts.
Gleichzeitig befinden sich die Grünen in einem historischen Umfragehoch und sind nun plötzlich nicht nur mit dem Segen, sondern auch mit dem Fluch einer „Volkspartei“ konfrontiert: Die zu integrierenden Milieus werden vielfältiger und breiter, mehr Aufmerksamkeit richtet sich auf Schwächen und Fehler. Und so beobachten nun viele mit Argwohn, ob der grüne Fuß auch in den großen Schuh passt. Dabei ist doch völlig klar, dass der Fuß erst einmal in den Schuh hineinwachsen muss, und die Chancen dafür stehen nicht schlecht.
Das Hoch der Grünen hat viele Gründe, und einige davon lassen darauf hoffen, dass es sich dabei nicht um eine Blase handelt, sondern um eine strukturelle Verschiebung in der Parteienlandschaft. Ein in jüngerer Zeit immer wieder angeführter Grund ist nun gerade deren besondere Nähe zu Bürgerprotesten wie in Stuttgart oder Gorleben. Diese Nähe wird zum Teil wohlwollend als demokratische Tugend interpretiert, die den alten Volksparteien abhanden gekommen sei. Sie wird zunehmend aber auch als Beleg eines Populismus gewertet, der sich egoistische, zukunftsvergessene Ressentiments parteipolitisch zu Nutze mache. So wie sich die Protestbewegungen im Laufe der Jahrzehnte von „links“ nach „bürgerlich-konservativ“ gewandelt hätten, so die steile These, hätten sich eben auch die Grünen in diese Richtung entwickelt. Eine unheilige Allianz also aus grüner Politik und politikverdrossenem „Wutbürger“?
Dass sich hinter dieser These viel Missgunst oder Parteitaktik verbirgt und wenig Substanz, lässt sich leicht aufzeigen. Die Grünen sind seit Jahren eine tragende Säule der Proteste sowohl in Gorleben wie auch in Stuttgart. Es ist gerade diese Beharrlichkeit, die die Grünen in beiden Fällen glaubwürdig macht, und nicht das populistische „Sich-Draufsetzen“. Das gilt trotz der Tatsache, dass man in den rot-grünen Regierungsjahren Kompromisse in der Atompolitik machen musste. Auch im Hamburger Schulen-Streit und in der Sarrazin-Debatte standen die Grünen sehr klar, nämlich gegen die Bürgerproteste gegen die Hamburger Schulreform und gegen den Rechtspopulismus der Sarrazin-Unterstützer. Klarer als die SPD. Deshalb kann keine Rede davon sein, die Grünen würden sich wahllos Bürgerproteste zueigen machen, um den Wähler-Zuspruch zu maximieren.
Dabei ist der bundesweite Protest in Gorleben weniger als Protest gegen die Zwischenlagerung bereits bestehenden Atommülls zu verstehen, vielmehr als Hinweis auf die fatalen Konsequenzen einer immer weiteren Produktion von Atommüll, wie sie die Bundesregierung gerade beschlossen hat. Mit dem grünen „Dagegen“ korrespondiert hier das klare Zukunftsbild einer Gesellschaft, die ihre Energie auf regenerative Art und Weise gewinnt. Und auch in Stuttgart ist zumindest ein differenziertes Bild zu zeichnen. Dass sich eine Stadtgesellschaft gegen ein Milliarden-Projekt wendet, dessen Vorteile in keinem Verhältnis zu den Kosten stehen, ist zunächst einmal ein gutes Zeichen. Zumal der öffentliche Streit um Stuttgart 21 dieser satten Stadt zu einem neuen Republikanismus verholfen hat, der ihr nur gut tut. Die Schlichtungskommission als Zuschauermagnet im Fernsehen; keine Straßenbahn, in der nicht weiter verhandelt wird; kein Küchentisch, der von dieser Debatte frei bleibt. Demokratische Bildung und Meinungsbildung brauchen solche Streiträume – und es gibt nach wie vor zu wenige davon.
Alles also kein Problem? Grüne und emanzipatorische soziale Bewegungen marschieren Hand in Hand auf dem Weg in eine bessere Zukunft? Nein. Die Zusammensetzung und die Motive der Bürgerproteste sind komplexer. Und die Grünen sind gut beraten, diese genau zu analysieren und konzeptionelle wie strategische Schlüsse daraus zu ziehen. Soziale Bewegungen beziehen ihre Kraft von jeher aus einem Zusammenschluss divergierender Interessen, die sich gleichwohl im Ziel einig sind. Dass sich linke Spontis mit wertkonservativen Bürgern und betroffenen Anwohnern zusammentun, um gegen Atomkraftwerke oder andere sozial oder ökologisch schädliche Großprojekte zu streiten, ist kein neues Phänomen, sondern zieht sich durch die Geschichte dieser Bewegungen. Bekannt ist auch, dass die Grünen in ihrer Entstehung diese unterschiedlichen Weltanschauungen im Sinne eines parteipolitischen Zweckbündnisses in sich vereinigten. Parteien mit einem umfassenden Politikanspruch kommen jedoch anders als Ein-Punkt-Bewegungen nicht umhin, sich Gedanken um die gemeinsame Grundorientierung zu machen, die in der Lage ist, die verschiedenen Politikfelder kohärent auszurichten. Anordnen statt Nebeneinanderstellen heißt die Devise.
Konzeptionelle und strategische Paradoxien
In diesen Prozess haben die Grünen in den vergangenen Jahrzehnten viel investiert. Das Ergebnis ist ein Selbstverständnis, das den Gerechtigkeitsanspruch linker Politik mit Realismus, Aufmerksamkeit für den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer reflexiven Fortschrittsidee verbindet. Mit dem erweiterten Gerechtigkeitsbegriff der Grünen wurden Bildung, Arbeit und Klima ebenso ins Zentrum der sozialen Frage gerückt, wie Generationengerechtigkeit, Internationale Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit. Der Begriff der „Linken Mitte“ verweist nicht nur darauf, dass es nach wie vor einen solidarischen Teil der Mittelschicht gibt, sondern unterstreicht zugleich den grünen Anspruch, die sozialen Blockaden zu lösen und alle an der sozioökonomischen Mitte der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Und mit der „Grünen Industriellen Revolution“ und dem „Grünen New Deal“ stehen zwei Schlagworte für das ökonomische Fundament von nachhaltigem Wohlstand für alle. Das alles ist der Stoff, mit und an dem die Grünen weiter wachsen können.
Gleichwohl ist dieser Orientierungsprozess prekär und gefährdet. Die Partei setzt sich nach wie vor aus Personen mit sehr unterschiedlichen weltanschaulichen Ausgangspunkten zusammen, entsprechend schlummern die konzeptionellen und strategischen Paradoxien an vielen Orten. Dieses Problem nimmt mit dem Zuwachs an zu integrierenden Wählermilieus ebenso weiter zu wie mit den veränderten Weltanschauungen und Interessenlagen, die sich in den neuen Protestbewegungen artikulieren.
Eine Analyse der neuen Protestbewegungen zeigt mit Blick auf die oben genannten Kernpunkte grüner Programmatik sehr deutlich, wo die Grenzen von inhaltlichen und strategischen Bündnissen liegen. Diesen Abgleich sollten die Grünen nutzen, um ihre Grundorientierung weiter zu verdeutlichen und ihr Verhältnis zu den neuen Bürgerprotesten zu präzisieren.
Erstens: Soweit sich in den Protestbewegungen – wie in Teilen des Protests gegen Stuttgart 21 – ein Kulturkonservatismus artikuliert, der etwa mit moderner, gar avantgardistischer Stadtplanung und Architektur per se fremdelt, steht dies diametral gegen einen grünen Optimismus der Veränderung: dem Ziel, mit Neugierde und Kreativität an einer Verbesserung der Lebensbedingungen für alle zu arbeiten.
Zweitens: Soweit sich in den Protestbewegungen – wie ebenfalls teilweise in Stuttgart – vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eine Zukunftsvergessenheit artikuliert, die keine Belastungen in der Gegenwart in Kauf nehmen will, von denen man später nicht mehr selbst profitiert, steht dies diametral gegen die grüne Erweiterung des Gerechtigkeitsbegriffs auf der Zeitachse. Das „Hier und Jetzt“ ist wichtig, und Moral wird schnell zur bequemen Hypermoral, wenn sie sich nur noch auf das „Übermorgen“ und das „Ganz Anderswo“ bezieht. Bis morgen denken sollten wir schon. Das sind wir unseren Kindern schuldig. Und das heißt eben nicht nur sparen, sondern auch in deren Zukunft investieren.
Drittens: Soweit sich in den Protestbewegungen – wie in Hamburg – ein Klientelismus der gehobenen, wohlhabenden Mittelschicht artikuliert, die sich nach unten abschotten und ihre Privilegien verteidigen will, steht dies diametral gegen den grünen Gerechtigkeitsanspruch einer in die sozioökonomische Mitte durchlässigen Gesellschaft und einer Parteinahme gerade für die sozial Schwächeren. Bei allen handwerklichen Fehlern, die in der Hamburger Schulpolitik gemacht wurden, wissen wir, dass dieser Abschottungsreflex die stärkste Triebfeder im Kampf gegen eine inklusive Schulpolitik war. Und es sind auch grüne Milieus, die diesem Klientelismus zunehmend erliegen. Es ist eine der größten Aufgaben grüner Politik, berechtigte Sorgen aus der gesellschaftlichen Mitte zwar aufzunehmen, aber diesen Klientelismus nicht aus wahltaktischen Gründen zu übernehmen.
Viertens: Soweit sich in den Protestbewegungen – wie ebenfalls teilweise in Stuttgart – ein Ökozentrismus beziehungsweise Naturalismus artikuliert, der mit dem Selbstwert „der Natur“ gegen jegliche Veränderung argumentiert, steht das diametral gegen das grüne Verständnis von Umweltgerechtigkeit. Für die Grünen ist ökologische Politik eine Grundanforderung an eine soziale Politik, die sich um die Lebensbedingungen morgen und anderswo kümmert. Im Mittelpunkt grüner Politik – so der erste Satz im grünen Grundsatzprogramm – steht der Mensch mit seiner Würde und Freiheit, und nicht „die Natur“, was immer das sein soll. „Die Natur“ wird den Menschen um Milliarden von Jahren überleben – soviel steht fest.
Fünftens: Soweit sich in den Protestbewegungen – wie ebenfalls teilweise in Stuttgart – eine generelle Skepsis gegen Großprojekte äußert, steht dies diametral gegen den grünen Ansatz einer dritten industriellen Revolution. Grüne Politik weiß um die ökonomische Basis von Wohlstand und realen Verwirklichungschancen für alle. Grüner Politik geht es um eine Ökologisierung von Massenproduktion und Massenmobilität, nicht um deren Abschaffung zugunsten einer Verschärfung der Privilegiengesellschaft oder einer allgemeinen pietistischen Verzichtsethik, die den Leuten auch noch einredet, das sei das bessere Leben. Das grüne Leitbild von nachhaltigem Wohlstand für alle setzt dabei in vielen Fällen auf dezentrale Lösungen mit hoher Effizienz, großen Mitsprachemöglichkeiten und mit gerechter Lastenverteilung. Und grüne Politik weiß auch um die Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen, dort wo der Freiheitsgebrauch des einen die Freiheit des anderen verletzt. Das alles ändert aber nichts an der Sinnhaftigkeit und der Notwendigkeit von Großprojekten im Rahmen einer Idee vom sozialen Fortschritt – sei es bei der industriellen Anfertigung nachhaltiger Produkte, sei es bei der Errichtung von Stromleitungen für nachhaltige Energie oder sei es bei der Infrastruktur für nachhaltige Mobilität inklusive moderner Bahnhöfe.
Auch die grüne Zukunft braucht Infrastruktur
Sechstens: Soweit in den Protestbewegungen eine einseitige Sparpolitik („mir kaufet nix“) vor dem Hintergrund hoher Staatsverschuldung zum Ausdruck kommt, steht dies gegen die grüne Finanz- und Haushaltspolitik, die Haushaltskonsolidierung, höhere Steuerrealerträge und gezielte Investitionen in öffentliche Institutionen und öffentliche Infrastruktur zu kombinieren versucht. Gute Bildung für alle kostet Geld. Ein gutes Gesundheitssystem für alle kostet Geld. Und auch eine gute öffentliche Infrastruktur für alle kostet Geld. Bei weitem nicht jede Ausgabe, die wünschenswert wäre, ist in Anbetracht der Kassenlage möglich. Knappe Ressourcen machen eine Prioritätensetzung notwendig und verbieten eine Politik des wahllosen Nebeneinanderstellens finanzrelevanter Forderungen. Aber eine Politik für eine bessere Zukunft braucht Zukunftsinvestitionen. Deshalb kommt es bei dem berechtigten grünen Protest gegen Stuttgart 21 sehr darauf an, die eigene Idee von Investitionen in eine Infrastruktur und eine Stadt der Zukunft deutlich zumachen.
Siebtens: Soweit sich schließlich in den neuen Protesten eine schon lange diagnostizierte Demokratieverdrossenheit artikuliert, steht dies gegen den grünen Anspruch einer Stärkung unserer Demokratie und ihrer Institutionen. In den Protesten äußert sich vielfach der Wille zur republikanischen Einmischung – und diese Einmischung braucht unsere Demokratie, brauchen ihre Institutionen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass daneben gerade in Teilen der gehobenen Mittelschicht ein Politikverständnis wiederaufersteht, das sich gegen das Primat der Demokratie in Stellung bringt. Der demokratische Staat und seine Institutionen werden hier nicht mehr als Garant, sondern als Gefährdung des eigenen Status verstanden. „Bürger-sein“ wird nicht mehr mit Verantwortung für die Gesellschaft übersetzt, sondern mit der Frage, wo man selber bleibt. Demokratische Entscheidungen werden so zur unzulässigen öffentlichen Einmischung in private Angelegenheiten. Dagegen arbeitet grüne Politik daran, die Legitimation demokratischer Entscheidungen und demokratischer Institutionen weiter zu verbessern. Auch die Parteien haben aus grüner Sicht als Transformationsriemen von Partikularinteressen und Politikansätzen der Gerechtigkeit entgegen der neuen bürgerlichen Parteienferne eine neue Aktualität. Wo in den neuen Protesten rechtspopulistische Ressentiments gegen unsere Demokratie als grundlegendes Entscheidungsverfahren auftauchen, ist aus grüner Sicht größtmögliche Distanz angezeigt. «