Wie Merkels »asymmetrische Demobilisierung« zu knacken ist
D ie Lage der Union scheint aussichtslos. Eine bürgerliche Mehrheit aus Unionsparteien und FDP nach der Bundestagswahl 2013 ist kaum vorstellbar. Bei allen Landtagswahlen seit 2009 (bis auf die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus) hat die Union zum Teil erhebliche Stimmenverluste erlitten – in Hamburg sogar mehr als 20 Prozent. Im Bundesrat ist Schwarz-Gelb von einer Mehrheit inzwischen weit entfernt. Über 60 Prozent der Bundesbürger sind mit der Arbeit der Bundesregierung im Mai 2012 weniger oder gar nicht zufrieden.
Doch die Kanzlerin bleibt (relativ) ruhig. Kein blinder Aktionismus, von Nervosität wenig zu spüren. Wie kann das sein? Angela Merkels weitgehende Gelassenheit lässt sich nur damit erklären, dass sie etwas anderes im Blick hat als eine Fortsetzung der konservativ-liberalen Regierung. Ihr geht es um eine dritte Kanzlerschaft, egal in welcher Konstellation und Koalition.
Merkels Selbstbeschränkung auf ein persönliches Machtziel reduziert die Ansprüche an sich und ihre Partei. Was als Ziel bleibt, ist die eigene strategische Mehrheitsfähigkeit. Es soll keine Regierung gegen die CDU/CSU gebildet werden können. Ist der Anspruch erst einmal derart reduziert, wird die Maximierung der eigenen Stimmenanteile beziehungsweise die möglichst umfassende Mobilisierung des bürgerlichen Lagers zweitrangig. Zuerst und vor allem anderen geht es darum, politische Mehrheiten jenseits der Union zu verhindern. Und hierfür hat Merkel eine Strategie: die asymmetrische Demobilisierung.
Der Begriff ist unaussprechlich und im christdemokratischen Lager tabuisiert (die Suche nach einem anderen Namen läuft). Aber konzeptionell bildet die asymmetrische Demobilisierung seit der letzten Großen Koalition das richtungspolitische Fundament der Merkel-Union. Die Grundidee ist einfach: Es geht um die Schwächung des Gegners durch Demobilisierung. Dagegen sind die Anstrengungen zur Mobilisierung des eigenen Wählerspektrums reduziert. „Asymmetrisch“ bezieht sich also auf das Verhältnis von starker Fremddemobilisierung und schwacher Eigenmobilisierung.
Die Demobilisierung des Hauptgegners SPD erfolgt über eine Verschiebung der Union in die Mitte. Die „Sozialdemokratisierung“ ist einerseits ein Lernergebnis Merkels aus ihrer (gefühlten) Wahlschlappe 2005, bei der sie die Sehnsucht der Deutschen nach sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit unterschätzte. Andererseits handelt es sich um einen gezielten Angriff auf die SPD, die mit einem strukturellen Mobilisierungsproblem zu kämpfen hat. Fehlen den sozialdemokratischen Wählern wirkliche Anreize für eine Wahl der SPD, bleiben sie – anders als die Wähler des bürgerlichen Lagers – zu Hause. Hier setzt die Demobilisierung an. Die Merkel-Union „klaut“ der Sozialdemokratie deren Themen wie Mindestlohn oder Elterngeld und nimmt SPD-Sympathisanten damit Gründe, zur Wahl zu gehen. Warum wählen, wenn es um nichts geht und die Union ohnehin „sozialdemokratische“ Politik macht?
Regierungsbonus plus Kanzlerin – das muss genügen
Zur Eigenmobilisierung der Unionswähler verlassen sich die christdemokratischen Strategen auf Weniges, nämlich den Regierungsbonus und die persönliche Zugkraft der Kanzlerin. Strukturelle Vorteile der Regierung, die allgemeine Regierungsfähigkeit der Union und die persönlichen (von der CDU und der Regierung inzwischen abgekoppelten) Zustimmungswerte Merkels müssen – neben Gewohnheit – als Gründe für die Wahl genügen.
Die bei der Bundestagswahl 2009 noch bestens funktionierende Lagerausschöpfung, bei der die Union in der Mitte fischte und die FDP das neoliberale Segment des konservativ-bürgerlichen Lagers abdeckte, hat sich mit dem Niedergang der Liberalen erledigt. Das ist die erste empfindliche Schwächung der Strategie – jedoch bei weitem nicht die Einzige. Doch zunächst sind es vor allem zwei Stärken, die die Strategie asymmetrischer Demobilisierung so erfolgreich machen. Die erste ist zweifellos die Chance, der SPD thematische Mobilisierungschancen zu nehmen. Kann die Sozialdemokratie nicht „ins Kämpfen kommen“, hat sie schon verloren. Und wogegen soll man kämpfen, wenn der Gegner die eigene Position bereits (wenn auch nur scheinbar) übernommen hat? Die zweite Stärke der Strategie liegt in der Chance, die eigene strategische Mehrheitsfähigkeit zu erhalten. Zwar begrenzt Merkels Abgrenzungs- und Mobilisierungsverzicht die Union auf die 35 Prozent-Marge. Ihr Vorsprung vor der SPD sichert ihr aber angesichts der Zersplitterung des linken Lagers immer noch Macht und eine Lead-Position bei der Koalitions- und Regierungsbildung. Solange das linke Lager schon zu Ende ist, bevor es überhaupt begonnen hat, bleibt eine Regierungsbildung gegen die Union schwer.
Dennoch ist diese Strategie nicht unangreifbar. Mindestens fünf Schwächen bestehen. Die erste Schwäche liegt in der Gegnerfixierung bei Vernachlässigung eigener Mobilisierungspotenziale. Wenn der Union die Demobilisierung der SPD wichtiger ist als die umfassende Mobilisierung des eigenen Lagers (unter Einschluss der traditionsorientierten konservativen Segmente), dann wächst langfristig die Gefahr einer Rechtskonkurrenz. Außerdem verschenkt man Möglichkeiten einer konstruktiven Mehrheitsbildung jenseits der Großen Koalition.
Zweiter Schwachpunkt: Die Gegnerfixierung bewirkt eine reaktive und sicherheitsorientierte Strategieanlage, die abhängig macht vom Handeln des Konkurrenten. Sie nimmt einem die eigenen Themen und läuft weniger auf Stimmenzuwachs als auf den Erhalt des Status quo hinaus. Einseitige Sicherheitsorientierungen wirken umso prekärer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Union seit 1990 allein 5,3 Millionen Stimmen aufgrund des Ablebens älterer Wähler verloren hat.
Das dritte Problem der Strategie besteht darin, dass ihr durchschlagender Erfolg von einer funktionierenden Lagerarchitektur abhängt. Bürgerliche Gestaltungsmehrheiten bedürfen einer FDP, die nicht nur überlebt, sondern wirklich lebt. Anderenfalls haben wir es nicht nur linksseitig mit sich auflösenden Lagerstrukturen zu tun. Für die Union würde es nur noch den Fluchtpunkt Große Koalition oder die (noch) nicht realistische, lagerübergreifende Option von Schwarz-Grün geben. So gesehen war die Bundestagswahl 2009 für die Union ein glücklicher Zufall, bei der die Stärke der FDP über grundlegende Probleme der asymmetrischen Demobilisierung hinwegtäuschte.
Prinzipienlosigkeit und Opportunismus
Die vierte und zentrale Schwäche der Strategie ist ihre nicht ausbalancierte Anlage. Merkel gelingt es nicht, den Mitte-Bias des Konzepts nach rechts hin abzufedern. Das schafft Probleme. Anders als eine komplexe Dreiecksstrategie (Dick Morris), bei der – unter Nutzung eigener und fremder Instrumente – die Probleme des Gegners gelöst werden, man sich aber zugleich weiter auf die eigenen Kernkompetenzen konzentriert, kennt die lineare asymmetrische Demobilisierung Merkels stets nur eine Richtung: die Mitte. Bei der Verwirklichung der Strategie ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten: einerseits eine (gewollte) Vernachlässigung der konservativen Parteibasis und Kernwählerschaft; andererseits abrupte Schwenks nach rechts, die meist durch Mit- und Gegenspieler aus den eigenen Reihen ausgelöst beziehungsweise erzwungen wurden (vor allem von CSU und FDP). Sie passen nicht zur Anlage der Strategie und nagen an der Glaubwürdigkeit der Modernisierungslinie.
Beispiele dafür gibt es viele. Die unvermittelten Rechtspositionierungen reichen vom Betreuungsgeld über die Verlängerung der Laufzeit für Atomkraftwerke bis hin zu Steuergeschenken für Hoteliers. Klare Konturen eindeutig „sozialdemokratisierter“ Politikfelder und weiterhin fortbestehender konservativer Kernkompetenzen entwickeln sich nicht. Allzu schnelle Positionswechsel wie die Laufzeitverlängerung und – kurz danach – der Wiedereinstieg in den Atomausstieg verdichten sich vielmehr zu einem Ausdruck von Prinzipienlosigkeit und Opportunismus.
Bleibt schließlich die fünfte Schwäche der Strategie: ihre unklaren Konsequenzen für den Umgang mit dem eigenen Koalitionspartner FDP. Aus einer Lagerperspektive müsste es der Union darum gehen, der FDP durch kooperatives Koalitionshandeln Luft zum Atmen zu verschaffen und sie dadurch politisch zu stärken. So hatte es Helmut Kohl jahrelang mit den Liberalen gehalten. Die CDU stünde eher für das soziale, die FDP für das neoliberale Profil. Nach dem Verlust der Mehrheitsfähigkeit des konservativ-liberalen Lagers aber verändert sich diese Logik: Die FDP wird für Merkel zur größten Gefahr. Ein möglicher Lagerwechsel der Liberalen mit dem Eintritt in eine Ampelkoalition bedroht nun die strategische Mehrheitsfähigkeit der Union.
Seit der NRW-Wahl geht Merkels Gleichung nicht mehr auf
Will Merkel diese Gefahr aktiv bannen und sich nicht einfach auf den Lauf der Dinge verlassen, muss sie versuchen, die FDP mit allen Mitteln so klein zu halten, dass ihr ein Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde misslingt. Dafür kann sie entweder (ihrer Mitte-Strategie entsprechend) die offensive soziale Abgrenzung zur „neoliberalistischen“ FDP suchen oder aber sich selbst neo-liberal gebärden, um auf diese Weise die Liberalen überflüssig zu machen. Setzt sie letzteres Mittel ein, gerät sie jedoch in einen Widerspruch zur ihrer eigentlichen Strategie.
Wie man es auch dreht und wendet, irgendwann zerbricht die Strategie unter sich dynamisch ändernden Kontextbedingungen an ihrer statischen Anlage und ihren eingebauten Widersprüchlichkeiten. Sie verliert ihre Kalkulierbarkeit. Der Logik eines bürgerlichen Lagers, bei der man dem kleinen Koalitionspartner die politischen Erfolge gönnt, die das Ausschöpfen des insgesamt vorhandenen konservativen Potenzials ermöglichen, wird der Boden entzogen, sobald dem Lager eine eigene Machtperspektive fehlt.
Seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen zeigen sich in Bezug auf die Strategie asymmetrischer Demobilisierung ernsthafte Risse. Die stets richtungsweisende Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland erschüttert die Merkel-Union und gleichermaßen ihr strategisches Konzept. Unabhängig von den Einzelgründen der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen erscheint ein beunruhigendes Bild an der Wand, bei dem die einseitige Konzentration auf eine Schwächung des Gegners ins Leere läuft, weil die SPD diese Strategie aktiv durchkreuzt. Für den Bund heißt das: Wenn die Mitte-Verschiebung der Union keine Stimmenzuwächse bringt, gleichzeitig aber eine konservative Mobilisierung ausbleibt, dann hängt der Gesamterfolg der Strategie nur noch an einem einzelnen seidenen Faden: an der Popularität der Kanzlerin.
Vielleicht passiert auch deshalb, was bislang undenkbar erschien: Merkel zeigt Anzeichen von Nervosität. Als sie Norbert Röttgen abservierte, gewann man den Eindruck, als ginge es um mehr als bloß um die Suche nach einem Sündenbock. Es schien, als ringe Merkel erstmals auch mit sich selbst um die richtige Strategie für ihr politisches Überleben.
Die angeschlagene Kanzlerin und das sichtbar riskante Spiel ihrer Strategie sind eine Chance für die sozialdemokratische Opposition. Für den Erfolg der asymmetrischen Demobilisierung hängt viel von dem Verhalten der SPD ab. Wird sie nicht aktiv, spielt sie der Union und der Kanzlerin in die Hände. Agieren die Sozialdemokraten mutig, können sie Merkel ernsthaft in Bedrängnis bringen. Es geht um die Große Alternative statt um die Große Koalition. Es geht um einen Macht-, Richtungs- und Politikwechsel.
Chancen der Sozialdemokratie liegen in einer Mobilisierung, die auf eigene Stärken setzt und Schwächen gegenüber dem Gegner kompensiert. Hannelore Kraft hat es vorgemacht. Eigene Themen, alternative Positionen und eine sozialdemokratische Wertemobilisierung waren – neben dem Personenfaktor – der Schlüssel zum Erfolg. Auf Bundesebene geht es nicht um eine Kopie des SPD-Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen, sehr wohl aber um Mut und den Glauben an die eigene Stärke – und an eine Strategie, bei der die in ihrem Konzept eingemauerte Merkel-Union mit den eigenen, sozialdemokratischen Mitteln geschlagen wird.