Wie nach dem Dreißigjährigen Krieg

Das Afghanistan-Abkommen kommt dem Versuch gleich, ein Haus vom Dach her zu bauen. Wenig spricht dafür, dass die Ära der Gewalt in dem zerstörten Land zu Ende ist - noch weniger dafür, dass sich der islamistische Terror erledigt hat

Vordergründig steht alles zum Besten. Die Amerikaner haben in Afghanistan einen Sieg nach dem anderen errungen. Die Taliban wurden gestürzt, ihr Führer Mullah Omar ist auf der Flucht, früher oder später wird er ebenso zur Rechenschaft gezogen werden wie Osama bin Laden. Die Medien haben Bilder von lachenden, tanzenden, entschleierten Menschen in Kabul und anderen afghanischen Städten gezeigt - Machtpolitik im Dienste der Menschlichkeit. Amerikanische Kommentatoren empfehlen bereits die Ausweitung des Anti-Terror-Krieges auf andere Ziele in der Region, damit auch die Menschen in Bagdad und Basra wieder lächeln: "to put a smile on their face", wie es in der International Herald Tribune hieß.

Auf die militärische Intervention folgte die politische Initiative. Das unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen am 5. Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn unterzeichnete Afghanistan-Abkommen legt den Grundstein für die Neuordnung des Landes. Zum ersten Mal nach 23 Jahren wird es in Afghanistan eine legitime Regierung geben, die nach einem politischen Konsens mehrerer, wenn auch nicht aller Interessengruppen gebildet wurde und die Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft besitzt. Diese 30 Minister zählende Übergangsregierung hat im Dezember ihre Arbeit aufgenommen und soll sechs Monate im Amt bleiben. Darauf haben sich die Vertreter des Anti-Taliban-Bündnisses der Nordallianz und der drei wichtigsten Gruppen von Exil-Afghanen verständigt. Vor Ablauf der sechs Monate soll eine Sonder-Loya-Jirga - die traditionelle Stammesversammlung der Afghanen - unter Vorsitz des ehemaligen Königs Zahir Schah einberufen werden. Sie wird, so das Abkommen, "über eine Übergangsverwaltung entscheiden, einschließlich einer breiten Übergangsregierung, damit diese Afghanistan so lange führt, wie eine vollständige repräsentative Regierung in freien und fairen Wahlen gewählt werden kann, die spätestens zwei Jahre nach dem Datum der Zusammenkunft der Sonder-Loya-Jirga stattfinden müssen".

Streit in der Regierung ist programmiert

Der Regierungschef der Übergangsregierung ist Hamid Karsai. Als Angehöriger eines feudalen paschtunischen Clans genießt er die Unterstützung der einflussreichen Durrani-Dynastie im Süden Afghanistans wie auch der Königstreuen im Exil. Der 46-Jährige hat in Indien studiert und spricht fließend Englisch. Vor allem die Vertreter der USA, Großbritanniens und der Vereinten Nationen hatten Karsais Namen ins Gespräch gebracht. Die Paschtunen, die größte ethnische Gruppe in Afghanistan, erhalten 11 Ministerposten in der Übergangsregierung, die Nordallianz 17. Die Nordallianz, ein politisch-militärisches Zweckbündnis der ethnischen Minderheiten, das sich neuerdings "Vereinigte Front" nennt, ist also deutlich überrepräsentiert. Besonders die Tadschiken, die höchstens ein Viertel der Bevölkerung stellen, sind überdurchschnittlich vertreten; sie besetzen die Schlüsselressorts Außen, Innen und Verteidigung. Damit sind Rivalitäten innerhalb des Kabinetts programmiert. Der einflussreiche Usbekenführer Dostum, der sich in der neuen Regierung nicht angemessen vertreten sieht, erklärte zunächst, er werde die neue Regierung nicht anerkennen - und kurz darauf genau das Gegenteil. Vermutlich hatte er eingesehen, dass Regierungsgegner kein Geld bekommen und beim Wiederaufbau übergangen werden.

Das Afghanistan-Abkommen bedeutet den Versuch, das Haus vom Dach her zu bauen. Ob dieses ehrgeizige Projekt gelingt, ist gegenwärtig vollkommen offen. Das optimistische Szenario sähe folgendermaßen aus: Es gelingt der Übergangsregierung, einen politischen Prozess einzuleiten, der einigermaßen stabile und glaubwürdige Strukturen schafft, angefangen mit einer funktionierenden staatlichen Verwaltung. Die Regierung wird in Kabul zunächst wie auf einer Insel sitzen und von dort in Verhandlungen mit den lokalen Kriegsherren ihre Legitimität erweitern müssen. Sowohl für den Wiederaufbau des Landes wie auch als politisches Druck- und Schmiermittel braucht die Regierung langfristig finanzielle Unterstützung aus dem Westen. Die Kosten hierfür werden auf bis zu zehn Milliarden Dollar geschätzt.

Die Nordallianz ist kein Knabenchor

Um der Regierung Autorität zu verleihen und einen Rückfall in die Zeit der Stammes- und Bandenkriege zu verhindern, ist die vereinbarte UN-Friedenstruppe, notwendigerweise ausgestattet mit einem "robusten Mandat", unerlässlich. Ihr Ein-satz dürfte allerdings ebenfalls auf Kabul und Umgebung beschränkt bleiben, da für ein landesweites Engagement hunderttausende Soldaten benötigt würden. Der designierte Verteidigungsminister der Übergangsregierung, Mohammed Fahim, wollte zunächst maximal 1000 UN-Soldaten mit befristetem Mandat in Kabul akzeptieren. In dieser Größenordnung wären sie politisch und militärisch bedeutungslos gewesen. Doch offenbar fürchtet die Nordallianz auch weiterhin, im Schatten einer ausländischen Ordnungsmacht an Autorität zu verlieren und eigene Herrschaftsansprüche nicht ausreichend durchsetzen zu können. Ungeachtet ihrer Regierungsbeteiligung sind die Vertreter der Nordallianz keineswegs geläuterte Demokraten. Ihr Programm lautet schlicht und einfach Machterhalt. Für die Zerstörung Afghanistans sind sie ebenso verantwortlich wie die Taliban, ihre Mentalität ist nicht weniger auf Gewalt ausgerichtet. Nur genießen sie im Augenblick die Unterstützung des Westens, und diese Gunst wissen sie zu nutzen.

Für den Idealfall, die Einleitung eines von der Bevölkerung unterstützten politischen Prozesses, spricht dennoch zweierlei. Zum einen sind die Menschen überall im Land kriegsmüde. In dem Maße, in dem Jobs und somit Perspektiven geschaffen werden, dürften die Milizen an Rückhalt und Zulauf verlieren. Zum anderen sind jenseits der traditionellen Stammesstrukturen, die teilweise durch den Krieg zerstört oder zurückgedrängt wurden, neue Führer und Gruppierungen entstanden, die eine Friedensordnung der bisherigen Kriegsökonomie vorziehen dürften. Dazu zählen Geschäftsleute und Drogenschmuggler, Mullahs, entmachtete Kommandanten und Händler - der Kern einer künftigen "bürgerlichen Mittelschicht", wenn man so will.

Zu fürchten ist allerdings, dass innere wie äußere Faktoren die Befriedung Afghanistans erschweren, wenn nicht verhindern. Nach 22 Jahren Krieg ist eine ganze Generation herangewachsen, die Gewalt für eine legitime Form der politischen Auseinandersetzung hält. Der gegenwärtige Zustand des Landes, das Ausmaß an Zerstörung, Anarchie und innerer Zerrissenheit erinnert stark an Deutschland unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg. Die Afghanistan-Konferenz hat mit Hilfe lokaler Akteure eine Friedensvision verabschiedet, die zuvor von den Vereinten Nationen entworfen wurde. Doch in dieser gewissermaßen projektiven Vorgehensweise liegt zugleich die Gefahr. Denn sie wird tragfähige Strukturen erst nach Jahren kontinuierlichen Engagements von außen vorweisen können. Sind die Vereinten Nationen, sind die westlichen Geberländer tatsächlich bereit, sich mittel- und langfristig in Afghanistan zu verpflichten, allen Rückschlägen und Risiken zum Trotz?

Die Geschichte könnte sich wiederholen

Gegenwärtig erlebt kein Land der Dritten Welt so viel politische und mediale Aufmerksamkeit wie Afghanistan. Aber spätestens in dem Moment, da die amerikanische Regierung den Anti-Terror-Krieg gegen Somalia, Jemen oder Irak ausweitet, wird Afghanistan nicht mehr im Brennpunkt der internationalen Aufmerksamkeit stehen. Die Gefahr ist groß, dass die Geschichte sich wiederholt: Als sowjetische Truppen das Land 1979 überfielen, wurde Afghanistan zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges. Kaum waren die letzten sowjetischen Soldaten 1989 abgezogen, geriet das Land in Vergessenheit, bekämpften sich die Mudschahidin gegenseitig, bis die Taliban 1994 antraten, deren Schreckensherrschaft zu beenden. Westliche Politik ist im Nahen und Mittleren Osten bislang fast ausnahmslos Macht- und Interessenpolitik gewesen, ohne ernsthaftes Interesse daran, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufzubauen oder einzufordern - es sei denn von anti-westlichen Gegnern wie Saddam Hussein. Insofern ist die Afghanistan-Konferenz eine beispiellose Premiere.

Doch werden ihr weitere Vorstellungen folgen? Die Prognose liegt geradezu auf der Hand: Wenn beispielsweise Bundeswehrsoldaten im Rahmen des UN-Einsatzes Opfer von Anschlägen werden sollten, wird die deutsche Mission eher früher als später beendet sein. Dafür würde der Druck der öffentlichen Meinung sorgen, dem sich keine Berliner Regierung entziehen könnte. In Somalia waren 19 getötete und grausam entstellte amerikanische Soldaten 1994 der Anfang vom Ende der dortigen UN-Mission zur Entwaffnung der Milizen und zur Versorgung der Bevölkerung.

Die Kriegsherren sind käuflich

Die Strategie ausgewiesener Kriegsherren wie Dostum oder Rabbani, des bisherigen Führers der Nordallianz, dürfte darin bestehen, erst einmal abzuwarten. Es wäre aus ihrer Sicht unklug, zu diesem Zeitpunkt die Amerikaner und die Anti-Terror-Allianz herauszufordern. Wenn die politische und mediale Karawane erst einmal wei- tergezogen ist, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Die Macht dieser Kriegsherren ist keineswegs zu unterschätzen. Jenseits der großen Namen gibt es Hunderte von lokalen Führern, die sich einzig und allein dafür interessieren, ihren jeweiligen Herrschaftsbereich zu sichern. Ihre Loyalitäten sind käuflich, und sie sind immer auf der Seite des jeweiligen Gewinners zu finden. Diese Männer dauerhaft in einen politischen Prozess einzubinden, erscheint nahezu ausweglos. Solange ein General Dostum nicht damit rechnen muss, von den Amerikanern oder der UN-Truppe angegriffen und - vergleichbar den Taliban - besiegt zu werden, wird er Sand ins Getriebe streuen. Ist die Anti-Terror-Allianz bereit, lokale Kriegsherren nötigenfalls militärisch zu entwaffnen? Die Antwort lautet, nüchtern besehen: Nein - solange diese Kriegsherren keine Terroristen unterstützen.

Ungeachtet des Siegeszuges der Nordallianz, die theoretisch das gesamte Land kontrolliert, ist die Sicherheitslage allenthalben prekär. Nicht einmal die wichtigste Verkehrsader, die Straße von Kabul nach Pakistan über Dschalalabad und den Khyber-Pass, ist gegenwärtig sicher. Das nach dem Sieg über die Taliban entstandene Machtvakuum wird vor allem in den entfernteren Landesteilen und außerhalb der Städte von rivalisierenden Banden und Milizen gefüllt, die Wegezoll kassieren, sofern sie nicht plündern und töten. Welten liegen zwischen den Afghanistan-Visionen auf dem Petersberg und den Realitäten vor Ort, die geprägt sind von Machtkämpfen und Stammesmentalitäten. Regionale Akteure und Loyalitäten kennzeichnen Afghanistan, der Nationalstaat ist weitgehend reduziert auf Symbole - deswegen die Bedeutung von König Zahir Schah, der die Erin- nerung an eine bessere, friedlichere Vergangenheit verkörpert. Auch die Gutwilligeren unter den lokalen Führern werden mit Sicherheit zum Faustrecht zurückkehren, sollten sie den Eindruck gewinnen, lediglich Schachfiguren sehr viel einflussreicherer Spieler in Kabul zu sein.

Es geht um Pipelines und Milliarden

Die Zukunft Afghanistans wird auch von den Nachbarn entschieden werden. Und von den externen Mächten Amerika und Rußland, die beide rivalisierende geostrategische Interessen verfolgen, nämlich die Kontrolle über die Transitrouten von Zentralasien nach Pakistan, welche über Afghanistan verlaufen und vor allem für den Bau von Erdgas-Pipelines von größter Bedeutung sind. Die Neuauflage des Great Game der großen Mächte verfolgt in erster Linie wirtschaftliche Interessen: Es geht um die Kontrolle über das Erdgas aus Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, das am kostengünstigsten in Pakistan verschifft wird - ein potentielles Milliardengeschäft. Einig sind sich Washington und Moskau in ihrer Ablehnung des radikalen politischen Islam, nicht allein in seiner terroristischen Variante, der russischen Interessen im Kaukasus und amerikanischen Strategien im Nahen und Mittleren Osten zuwiderläuft. Die Niederlage der Taliban ist daher aus beider Sicht ein Beitrag zur politischen Stabilisierung der Region. Ob diese Stabilisierung dauerhaft ist, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen.

Auf Pakistan ist wenig Verlass

Vor allem der Iran und Pakistan müssen in den Wiederaufbau Afghanistans einbezogen werden und an der "Friedensrendite" teilhaben, politisch wie wirtschaftlich, zum Beispiel bei der Zuteilung von Aufträgen. Anderenfalls besteht das Risiko, dass beide Länder destabilisierend in Afghanistan eingreifen, um eine als Pax Americana empfundene Neuordnung zu unterlaufen. Der Iran würde sich dabei, wie schon in der Vergangenheit, der schiitischen Hazara bedienen, Pakistan wiederum der Paschtunen, die auf beiden Seiten der Grenze leben. Islamabad, Mentor und Förderer der Taliban, hat nach dem 11. September eine vollständige Kehrtwende seiner Afghanistan-Politik vollzogen und sich uneingeschränkt auf die Seite der Anti-Terror-Allianz gestellt. Als Gegenleistung erwartet Islamabad amerikanischen Druck auf Indien, um die Kaschmirfrage im Sinne Pakistans einer Lösung zuzuführen. Da Washington diesen Druck nicht ausüben wird, dürfte auf Seiten des pakistanischen Militärs wie auch der Geheimdienste die Neigung wachsen, die eigenen Interessen in Afghanistan mit der gewohnten Rücksichtslosigkeit durchzusetzen. Sollten einflussreiche paschtunische Stammesführer den Eindruck gewinnen, die Regierung in Kabul vertrete in erster Linie die ethnischen Minderheiten, wird Islamabad dieses Einfallstor nutzen.

Die selbst aus Sicht amerikanischer Militärs verblüffend schnelle und vollständige Niederlage der Taliban sollte nicht zu dem Trugschluss verleiten, die der Bewegung zugrunde liegende Ideologie sei am Ende oder könne auf keinen Zulauf mehr hoffen. Die Madrasas, die religiösen Hochschulen in Pakistan, Hochburgen der Taliban, in denen Hunderttausende Studenten aus unteren sozialen Schichten mehr oder weniger einer Gehirnwäsche unterzogen werden, als Gegenleistung für kostenlose Verpflegung und Unterkunft, dürften auch weiterhin einen radikalen Dschihad-Islam predigen: Der Weg zur Erlösung führt über das Schlachtfeld, egal wo. So gesehen hat der radikale Islam eine Schlacht verloren, aber nicht notwendigerweise bereits den Krieg. Die Gründe für den Anti-Amerikanismus im Nahen und Mittleren Osten (und darüber hinaus im Fernen Osten, in Afrika und Südamerika) spielen im politischen und medialen Diskurs in den Vereinigten Staaten überhaupt keine und in Europa nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden jedoch neue Nahrung erhalten, sobald Washington weitere islamische Staaten angreift.

Vor allem ein Angriff auf den Irak hätte eine gefährliche Eskalation zur Folge - politische Instabilität, Staatszerfall, Anarchie und Chaos. Der regionale Flächenbrand, der in diesem Fall droht, gefährdet besonders die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien. Auch die weitere Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern wird die arabisch-islamische Öffentlichkeit zunehmend mobilisieren und dem radikalen Islam, nicht zuletzt in seiner terroristischen Variante, weiterhin Zulauf bescheren. Selbst aus der Perspektive gemäßigter Muslime ist es unerträglich, dass arabische und islamische Staaten mit härtesten Konsequenzen zu rechnen haben, falls sie sich "unbotmäßig" verhalten, während Israel in den besetzten Gebieten nach Belieben gegen internationales Recht verstoßen darf, ohne auch nur die Andeutung von Konsequenzen seitens der westlichen Staatengemeinschaft. Gerhard Schröder sagte kürzlich im Bundestag, im Nahen Osten "könnte uns mehr um die Ohren fliegen, als jeder von uns zu tragen in der Lage ist". Der Bundeskanzler dürfte Recht behalten.


Von Michael Lüders ist soeben erschienen: "Wir hungern nach dem Tod": Woher kommt die Gewalt im Dschihad-Islam? Arche Verlag: Hamburg und Zürich 2001, 120 Seiten, 10 Euro


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