Wie wir das schaffen
Sie kamen in Massen, sprachen kaum Deutsch und brachten merkwürdig anmutende kulturelle Eigenheiten mit. Fast 600 000 Menschen zog es nach dem Abschluss eines Anwerbeabkommens mit Italien im Jahr 1955 aus dem Mittelmeerstaat nach Deutschland.
Von den Deutschen wurden die Neuankömmlinge, die in den Fabriken im Südwesten und in den Kohlegruben des Ruhrgebiets für das „Wirtschaftswunder“ schufteten, argwöhnisch beäugt und als „Spaghettifresser“ bezeichnet. Kein Wunder, dass sie eher unter sich blieben und den Kontakt zu den Deutschen beschränkten. „Aber dann stellte sich gerade das, was seitens der Mehrheitsgesellschaft herausgestellt wurde, nämlich eine unterschiedliche Ernährung, als Integrationsbrücke heraus.“ Pizza und Pasta trugen dazu bei, dass italienische Gaststätten „schon bald … keine Refugien italienischer Gastarbeiter mehr (waren), sondern Treffpunkte der deutschen Gesellschaft, die das mediterrane Essen als willkommene Abwechslung zur heimischen Küche annahm.“ Die Integration ging also gewissermaßen durch den Magen.
Herfried und Marina Münkler beschreiben diese Vorgänge, um zu zeigen, wie Integration gelingen kann. „Am Beispiel der Integration von italienischer und mediterraner Speisekultur lässt sich beobachten, wie das, was anfänglich eine Parallelgesellschaft mit allen Voraussetzungen zur Abschottung war, sich zur Mehrheitsgesellschaft geöffnet hat und zu deren Bestandteil geworden ist.“ Doch die beiden Münklers haben kein historisches Buch geschrieben. Ihnen ist am Hier und Jetzt gelegen, vor allem aber am Blick nach vorn. Die Geschichte soll dabei helfen, diesen zu schärfen.
Den Stresstest haben wir bestanden
Es ist viel passiert in Deutschland, seit die Bundesregierung 2015 entschied, die Grenzen für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak zu öffnen. 1,4 Millionen Asylsuchende wurden hierzulande bis August 2016 erfasst. Nach den ersten Monaten der Unterbringung und Versorgung geht es mittlerweile vor allem um die Integration der Neuankömmlinge. Das erste Fazit der Autoren fällt positiv aus. „Die deutsche Gesellschaft hat den Stresstest vom Herbst 2015 durchaus bestanden. In jedem Fall hat sie das in einer für die anderen Mitgliedsstaaten der EU vorbildlichen Form getan.“ Allerdings stehe uns das härteste Stück Arbeit noch bevor.
Um „aus Fremden ‚Deutsche‘ (zu) machen“ müsse man zunächst die Flüchtlinge davor bewahren, in die Illegalität abzurutschen. Denn Drogen verkaufende Flüchtlinge führten nicht nur zu einem negativen Bild der Migranten in der Öffentlichkeit, sondern erschwerten auch eine „vorausschauende Integrationspolitik“.
Für diese formulieren die Münklers eigentlich einfache und zugleich revolutionäre Leitlinien. So sollten Flüchtlings- und Integrationspolitik nicht mehr voneinander getrennt, sondern zusammen betrachtet werden, „da keine … ohne die andere längerfristig erfolgreich sein kann“. Auch fordern sie einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Bisher sei die Aufnahme von Flüchtlingen an die Perspektive ihrer Integrierbarkeit gekoppelt. Da aber oft nicht von Anfang an klar sei, „wer bleibt und wer wieder geht“, sei es „sinnvoll, sämtliche in Deutschland angekommenen Migranten so zu behandeln, als ob sie auf Dauer bleiben würden“. Ihre Integration könne dann sofort beginnen und nicht erst nach Monaten des Wartens.
Die Forderung aus konservativen Kreisen nach einer „Integrationspflicht“ lehnen die Münklers dagegen ab. „Dieser Vorschlag ist nicht … durch die Erfordernisse von Integration bestimmt, sondern an ‚die Besorgten‘ im Land gerichtet“, sind sie überzeugt. Vielmehr sollte „eine kluge Integrationspolitik … zunächst über die zu Integrierenden nachdenken“, statt über die Integrationsskeptiker.
Entscheidend ist der Arbeitsplatz
Wie aber gelingt erfolgreiche Integration? Die Antwort der Autoren: über den Arbeitsplatz, „denn hat die Integration in den Arbeitsmarkt erst einmal stattgefunden, fällt die Integration ins soziale und kulturelle Umfeld umso leichter“. Die Politik muss hierfür die Voraussetzungen schaffen über konkrete Arbeitsplatz- oder Qualifizierungsangebote. Das von Andrea Nahles vorangetriebene Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ nennen die Autoren zwar nicht, doch es weist genau in diese Richtung.
Allerdings: Ohne die Unterstützung und Offenheit der Bevölkerung kann die Integration der „neuen Deutschen“ nicht gelingen. „Der Staat kann Ressourcen für die Integration, wie etwa Sprachkurse, berufsorientierende Praktika, Ausbildungsplätze oder Studienzugänge, zur Verfügung stellen“, schreiben die Autoren. „Aber die Integration selbst ist eine gesellschaftliche Aufgabe … für alle – die Neuankömmlinge wie die Alteingesessen.“
Wissenschaftlich fundiert und an der Realität ausgerichtet formulieren Marina und Herfried Münkler auch „elf Imperative“ für eine gelingende Integrationspolitik. Dazu zählt die Tatsache, dass Integration in der Stadt besser gelingt als auf dem Land oder dass Schulunterricht so gestaltet sein muss, dass er Kinder und Jugendliche integriert und nicht segregiert. Dies ist ein besonders starker Teil des Buchs.
Gekonnt demaskieren die Autoren auch die Argumentation selbst ernannter besorgter Bürger, die um die Identität ihres Landes fürchten. „Sie sagen ‚deutsch‘, aber sie meinen Selbstprivilegierung“, halten die Münklers ihnen entgegen. „Die Vorstellung des Deutschseins dient hier dem Selbstschutz derer, die sich vor einem Leistungsvergleich scheuen und keinerlei Konkurrenz ausgesetzt sein wollen.“ Klar, dass eine solche Aussage Vertretern und Anhängern von AfD, Pegida und Co. nicht schmecken. Sollten diese das Buch zur Hand nehmen, dürften sie also enttäuscht werden – obwohl gerade sie eine Menge lernen könnten. Es soll nämlich nicht zuletzt dazu anregen, „über die eigene Kollektividentität neu nachzudenken und dabei zu klären, was für sie elementar und unverzichtbar ist und was eher einer vergangenen geschichtlichen Etappe angehört“.
Ausruhen ist keine Option
Erst auf den letzten Seiten ihres durchweg gelungenen und Mut machenden Buchs konstituieren Herfried und Marina Münkler „die neuen Deutschen“. Sie legen den Begriff weit aus, sodass er neben den Neuankömmlingen auch die Einheimischen umfassen kann – aber nicht muss. Dafür bestimmen sie fünf „Identitätsmarker“. Als Deutscher soll demnach gelten, wer sich und seine Familie mit Arbeit selbst durchbringen kann, wer aber gleichzeitig darauf vertraut, dass ihm die Gemeinschaft im Notfall zur Seite steht.
Diese „sozioökonomischen Identitätsmarker“ werden durch zwei soziokulturelle Marker ergänzt: die Überzeugung, dass religiöser Glaube eine Privatangelegenheit ist, sowie das Zugeständnis individueller Entscheidungsfreiheit, wie und mit wem man leben möchte. Als fünften und entscheidenden Identitätsmarker bestimmen die Münklers schließlich das Bekenntnis zum Grundgesetz. Dieses sei Richtschnur und Verpflichtung zugleich – übrigens für alle Deutschen, denn „Deutschsein ist dieser Definition nach kein Merkmal, auf dem man sich ausruhen kann, weil man es qua Geburt bekommen hat“. Deutsch zu sein bedeutet also Arbeit – Arbeit, die getan werden muss.
Herfried und Marina Münkler, Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft, Berlin: Rowohlt 2016, 336 Seiten, 19,95 Euro