Wir als Generation

In diesem Jahr feiern die Granden der SPD sechzigste Geburtstage als Dauerfestival - die Pensionierung der Generation 68 steht bevor. Doch wer folgt auf Heidi, Rudolf, Renate und Gerd? Und auf welche Themen setzt die nächste Generation?

Uns fällt es schwer, auf die gleiche Weise Generation zu sein wie unsere Vorgänger. Natürlich könnten wir dieselben Rollen spielen, das Drehbuch kennen wir, die Chargen sind unverändert populär: junge Wilde, romantische Rebellen, unbeugsame Idealisten, höchstmoralische Anhänger weiser Visionäre. Das Stück könnten wir spielen - tragisch oder komisch, realistisch oder satirisch. Wir haben die alten Aufführungen gesehen und darüber gelesen, wir sehen, wie die Charaktere sich in dreißig, fünfunddreißig Jahren gemeinsamen Spiels entwickelt haben, unromantischer geworden sind, biegsam, doppelmoralisch, cool, argwöhnisch den Nachkommenden gegenüber. Wer heute gegen die regierenden Achtundsechziger-Väter, die APO-Opas "rebellieren", sich einen Namen machen, in ihre Institutionen einmarschieren möchte, kann das individuell mit schönem Medienerfolg genau auf ihre Weise versuchen: Leg dich quer, dann bist du wer! Scheinbare Fundamentalopposition als Karriereprinzip - das finden besonders Journalisten dieser Maßstabsgeneration nach wie vor originell. Ein neuer Karsten, eine neue Heidi, ein neuer Rudolf, Björn, Gerd ...

Nach den APO-Opas die Populisten?

Es liegt so blödsinnig nahe, aber so geht es nicht! Wie jede politische Formation sind wir eine eigene Generation nur in Beziehung und Abgrenzung zur Vorgängergeneration. Alles andere wäre ödes Epigonentum, was es auch nach 68 gab und noch immer gibt. Es muss aber nach einer kraftvollen Generationenbewegung gar nicht gleich wieder ein neuer dynamischer Generationenzusammenhang kommen, Brüche sind möglich. Für die SPD des alles besetzenden Alt-Achtundsechziger-Establishments wäre eine erkennbare Lücke allerdings gerade jetzt nicht so ideal.

 

Zwar traut man in Kreisen der grande generation jedweden Jüngeren nicht über den Weg, aber käme nach ihnen tatsächlich nichts mehr, so hätten doch sie selbst, die eines Tages die Fackel weitergeben müssten, historisch irgendwie versagt. Sie bildeten in den Staatskanzleien und Chefredaktionen, in Lehrerzimmern und Uni-Instituten den Höhepunkt und Abschluss einer linken politischen Emanzipationsbewegung, an deren Ende das Pendel kräftig nach rechts schwänge, vielleicht zu neoliberalen Sozialstaatsverächtern oder zu neudeutschen Populisten.

Misstrauen als Erfolgsrezept

Zum Durchsetzungserfolg der rot-grünen Achtundsechziger gehört, dass sie ihr Misstrauen gegen Andersaltrige praktisch werden ließen: Sie blieben eine durch die Gesellschaft wandernde Modellgeneration, sich selbst genug, hermetisch. Solange sie gemeinsam nicht am anderen Ufer angekommen waren, mussten die Nächsten außen vor bleiben. Diese waren als politisch Engagierte zum Beispiel in der SPD - Jusos der achtziger und neunziger Jahre - ohnehin nicht mehr so zahlreich, weniger halbstark, mit kleinlauteren Ambitionen. Und wurden, indem sie die Ideologiekonflikte der siebziger Jahre verbissen nachspielten, offenbar ihrem Ruf gerecht, nicht viel zu taugen. Nun landen unsere großen Vorbilder in rascher Folge am anderen Ufer, treten von ihren Ämtern zurück, bewegen sich auf die Pensionierung zu, feiern 60. Geburtstage als politisches Dauerfestival (2003: Peter Struck, Christoph Zöpel, Heide Simonis, Herta Däubler-Gmelin, Oskar Lafontaine, Ursula Engelen-Kefer, Wolfgang Thierse, Renate Schmidt).


Was kommt danach? Wer? Und wie? Ein Generationenwechsel im Konflikt ist nach all dem nicht mehr zu erwarten. Aber wiegten 1998 sozialdemokratische Granden und politische Beobachter noch bedenklich die Köpfe, wenn die Rede auf das Personal der Zeit nach Schröder kam, und würgten mit Mühe den einen oder anderen Namen hervor, so behauptet heute kaum noch jemand, daß es in der SPD kein personelles Erneuerungspotential gäbe. Waren am Ende der letzten Kohl-Regierung gerade acht sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete jünger als 40, so wurden es mit der Wahl von 1998 gleich drei Dutzend, vier Jahre später kamen noch einmal dreißig hinzu, aufgestellt von ihrer sozialdemokratischen Basis, zum Teil direkt gewählt. Potenzial ist da. Mit Ute Vogt in Baden-Württemberg, Olaf Scholz in Hamburg, Christoph Matschie in Thüringen und Heiko Maas im Saarland setzten sich Nach-Achtundsechziger an die Spitze von Landesverbänden. Im Bundeskabinett schlägt sich diese Erneuerung noch nicht nieder, aber in der Parteiführung (dem Vorstand gehören sechs Mitglieder unter 40 an) steht Generalsekretär Scholz schon für die Nach-Schröder-Ära. Und Sigmar Gabriel drängelt. Dessen Schicksal könnte allerdings noch mancher Frühstarter aus dieser Generation erleiden: als Jüngster abgemeiert. So ging es etwa Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig, der für die Berufung des 67-jährigen Manfred Stolpe 2002 wieder zurückstecken musste.


Zu dem Eindruck, hier könne sich eine neue politische Generation formieren, hat ganz wesentlich die Gründung des Netzwerks Berlin Anfang 1999 beigetragen. Das Netzwerk ist quer zu den alten Parteiflügeln aus Frankfurter Kreis/Parlamentarische Linke und dem fraktionsrechten Seeheimer Kreis aufgespannt. Eine formale Altersbegrenzung gibt es nicht, aber mehr oder minder mildes Achtundsechziger-Bashing macht schon den Grundton des Selbstverständigungsdialogs aus, der hier geführt wird. Dem sozialdemokratischen Netzwerk gehören inzwischen etwa so viele Abgeordnete an wie den kleineren Fraktionen im Bundestag. Die Abgeordneten bilden den koordinierenden Kern, drumherum versammeln sich sitzungswöchentlich jüngere Ministeriale und Medienmenschen, Verbandsvertreter, Wissenschaftler und Studenten zu einem Diskussionsabend, einmal jährlich zu einer Wochenendtagung. Gemeinsam geben die Abgeordneten die politische Zweimonatszeitschrift Berliner Republik heraus, im fünften Jahrgang mittlerweile, ein erfolgreiches Generationenprojekt. Begonnen hat jetzt ein intensiver Kontakt zu den Erneuerern in den Ländern. Mancherorts gibt es auch regionale Netzwerke.

Mehr als ein Sandkastennetzwerk

Die sich da am Netzwerkabend treffen, sind alle einzeln nach Berlin gekommen, keine allgemeine Erhebung hat sie in die Hauptstadt befördert. Wir kennen uns nicht schon seit jungsozialistischen Sandkastenzeiten, sondern lernen uns nun hier kennen, uns auf Gemeinsamkeiten zu verständigen und im Konfliktfall zu unterstützen. Währenddessen läuft vorsichtshalber das Warnprogramm unserer Vorgänger-Freunde weiter: Auf Phase eins ("Nicht hingucken - da ist nichts!") und Phase zwei ("Falls da was ist, gefällt es uns aber nicht!") folgt gerade Phase drei ("Die wissen doch gar nicht, was sie wollen!").

Bei unseren Altvorderen wusste man dagegen immer, so oder so, woran man war. "Was wollen die Jungsozialisten?" hieß 1971 ein Antwortbuch, das Norbert Gansel herausgab. Andere schrieben andere Bücher, überwanden beschlussweise den Kapitalismus, kritisierten die Sekundärtugenden des SPD-Kanzlers, erfanden den Ökosozialismus, rüttelten am Kanzleramtszaun und riefen "Ich will hier rein".

Eine große theatralische Gesellschaftsalternative, ein nassforscher Machtanspruch, "Tabu"-Brecherei aus Kalkül - das wird es nicht geben von unserer Generation, die gar nicht anders kann, als die öffentlich inszenierte Geschichte der Vorgänger zu reflektieren. Man müsste die Augen fest schließen, um das alles in unserer Zeit zu wiederholen.

Um welche Fragen muss es gehen?

Also: Vertrauen auf die eigenen Antworten, die eigene Kraft, den eigenen Weg einer zusammengewürfelten Generation, die noch dabei ist, sich zu finden. Um welche Themen muss es gehen?
Erstens kümmern wir uns um die Erweiterung des alten sozialdemokratischen Grechtigkeitsbegriffs, der - quasi horizontal - den jeweils aktuellen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, später auch zwischen reichem Norden und armen Süden, zwischen Frauen und Männern forderte. Hinzukommen muss - vertikal - der gerechte Ausgleich zwischen den Generationen. Das heißt zum Beispiel: heute grundsätzlich keine neuen Schulden auf Kosten späterer Zinsen, Tilgung, Steuererhöhungen mehr machen.


Von Generationengerechtigkeit ausgehend wollen wir, zweitens, die materiell-ökonomischen Entwicklungen vom Wachstum des Ressourcenverbrauchs und fortgesetzter Naturzerstörung abkoppeln, manche sprechen von "nachhaltiger Entwicklung". Das heißt zum Beispiel: Energieeffizienz, Stoffkreisläufe, Langlebigkeit von Konsumgütern. Dies muss die Richtung des technischen Fortschritts werden.


Drittens brauchen wir so etwas wie einen Wandel des Wertewandels, weg von der Superindividualisierung, der Vereinzelung und Vereinsamung, von Bindungsangst und Flexibilitätszwang - hin zu einem Mehr an Verbindlichkeit (Familie, Nachbarschaft, Verein ...) in einem Meer individualistischer Unsicherheit. Man könnte angesichts der Globalisierungskrise von einer Politik zum Schutz der sozialen Umwelt sprechen.
Viertens: Ein neuer gesellschaftlicher Großtrend, dem vor uns noch keine Generation begegnen musste, ist der oft harmlos so genannte "demografische Wandel", das Ausbleiben von Kindern, das nicht mehr aufzuhaltende Kippen der Bevölkerungspyramide in Deutschland und etlichen anderen europäischen Ländern. Indem wir auf Nachwuchs verzichten (1,3 Kinder auf zwei Erwachsene), schaffen wir uns als Generation selbst ein Problem, zu dessen noch gar nicht absehbarer Lösung eine große politische und soziale Bewegung nötig sein wird: Wie können Wohlstand und soziale Sicherheit in einer schrumpfenden Gesellschaft bewahrt werden?
Das aber ist wirklich ein neues Stück, in dem ganz neue Rollen zu besetzen sind.

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