Wir brauchen die Axt für das gefrorene Meer in uns
„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Was Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak vor mehr als einem Jahrhundert zur Qualität guter Bücher zu sagen hatte, kann heute als Maßstab für das neue Grundsatzprogramm der SPD herangezogen werden. Ob der vorliegende Entwurf nun tatsächlich die für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts benötigte Durchschlagskraft, gehaltvolle Visionen und obendrein noch die von Erhard Eppler beschworene Zukunftstauglichkeit besitzt, wird in der Partei derzeit hinterfragt und diskutiert. Eine wichtige Rolle für die Strahlkraft des Grundsatzprogramms wird dem Leitgedanken des vorsorgenden Sozialstaats zukommen, der nicht nur repariert und im Notfall einspringt, sondern vorausschauend gestaltet und deshalb den nachsorgenden Sozialstaat ergänzt.
Arbeit finanzieren, nicht Arbeitslosigkeit
Besonders in den Kapiteln zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird eine qualitativ wichtige Änderung bisheriger Denkmuster deutlich. Während das Berliner Programm aus heutiger Sicht keine schlüssige Begründung dafür liefert, wie das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen ist, wartet die SPD nun mit einer zukunfts- und gerechtigkeitsorientierten Beschäftigungsstrategie auf: Ins Zentrum des arbeitsmarktpolitischen Handelns stellt sie die Förderung von Arbeit anstelle der Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Damit weist sie zum einen mit der gebotenen Entschlossenheit auf den Veränderungsdruck hin. Zum anderen liefert die SPD die so wichtigen Lösungsansätze für die rapiden gesellschaftlichen Neuerungen. Es geht vor allem darum, wie gezielter in Arbeitsplätze investiert werden kann, um die gesellschaftliche Integration durch Teilhabe am Arbeitsleben zu erreichen – sei es mittels öffentlich geförderter und gemeinwohlorientierter Arbeit oder mittels Investitionen in Beschäftigungsfelder der Zukunft.
Unter den Bedingungen gesteigerten Wettbewerbs bedeutet „Vollbeschäftigung“ nicht, dass jeder Arbeitnehmer eine Garantie hat, sein Leben lang am gleichen Ort für dieselbe Firma tätig zu sein. Im Programmentwurf basiert eine Politik der Vollbeschäftigung nicht nur auf Arbeitszeitverkürzung wie im Berliner Programm, sondern auf vier Säulen: Erstens bedarf es eines möglichst hohen Wachstums, eines Vorsprungs in marktfähigen Produkten und einer besonderen Beschäftigungsdynamik im Dienstleistungsbereich, die zusammengenommen zu einem deutlich höheren Angebot an Arbeitsplätzen führen. Zweitens unterstützt der vorsorgende Sozialstaat die Menschen durch koordinierte Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Gleichstellungs- und Familienpolitik dabei, Übergänge und Unterbrechungen in ihren Erwerbsbiografien zu meistern und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Drittens sind für Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Perspektive haben, besondere Angebote öffentlich geförderter oder gemeinwohlorientierter Arbeit auf dem sozialen Arbeitsmarkt nötig, denn der Erwerbsarbeit kommt über die ökonomische Dimension hinaus eine zentrale gesellschaftliche Integrationsfunktion zu. Viertens ist eine moderne Arbeitszeitpolitik nötig. „Gute Arbeit“ zu fördern heißt, Leiharbeit durch Mitbestimmung und Tarifverträge zu gestalten, statt sie wie noch im Berliner Programm zu verteufeln.
Nur wer nicht leugnet, kann gestalten
Ein wichtiger Bestandteil des vorsorgenden Sozialstaats ist das Bekenntnis zum lebenslangen Lernen. Ohne ständiges Dazulernen und Weiterbildung geht in der Arbeitswelt nichts mehr. Häufige Funktions- und Branchenwechsel sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Wer diesen Wandel gestalten will, darf ihn nicht leugnen. Nur wer Qualifizierung und Weiterbildung als permanente individuelle und gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkennt, kann gleiche Bildungschancen sichern und den Ursachen von Bildungsarmut engagiert entgegentreten – und erreicht so letztlich Vollbeschäftigung. Nur wer die Abhängigkeiten globaler wirtschaftlicher Vernetzung nicht leugnet, kann diese politisch gestalten und für faire Spielregeln und die Humanisierung von sich ständig selbst erneuernden Arbeitswelten sorgen.
Entsozialdemokratisierung? Ganz falsch!
Die Schwerpunkte der „Empfehlungen zum Bremer Entwurf“ der Programmkommission vom September 2007 sind daher folgerichtig ein starkes Europa, „Gute Arbeit“ und ein Sozialstaat, der bereits frühzeitig gleiche Lebenschancen für alle ermöglicht. Dies steht nicht im Widerspruch zur Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung, zu sozialer Sicherheit und ökologischem Weitblick. Im Gegenteil: Diese Elemente bedingen einander. Hier von einer „Entsozialdemokratisierung“ der SPD zu sprechen, wäre schlicht falsch. Ziel des vorsorgenden Sozialstaates ist es, das Freiheitsstreben der Arbeiterbewegung – das Streben nach Unabhängigkeit und gleicher Teilhabe – in die Zeit der Globalisierung zu übertragen. Es geht darum, das persönliche, soziale und ökonomische Wohlergehen jedes Einzelnen zu stärken, indem er oder sie in die Lage versetzt wird, selbständig zu handeln.
Eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen wird es sein, schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen durch Beschäftigung Teilhabechancen zu eröffnen. Dies ist eine zentrale Erkenntnis, die den Entwurf vom Berliner Programm unterscheidet: Vollbeschäftigung ist ohne sozialstaatliches Eingreifen nicht möglich. Aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Globalisierung arbeiten viele Menschen in Deutschland zwar Vollzeit, leben aber dennoch am Existenzminimum. Damit Arbeit nicht arm macht, sind eine nationale Mindestlohnpolitik und die Restrukturierung des Niedriglohnsektors unabdingbar. Für den unteren Einkommensbereich bieten Mindestlöhne die Möglichkeit, den Wert und die Anerkennung von Arbeit zu steigern. Hierzu gibt es im Programmentwurf ein klares Bekenntnis.
Ferner ist der „Bonus für Arbeit“ ein vielversprechendes Konzept, um auch für Familien Existenz sichernde Einkommen zu gewährleisten. Bei diesem Bonus handelt es sich, angelehnt an das britische Modell, um eine Form der negativen Einkommenssteuer, die an einen Mindestlohn gekoppelt ist. Der „Bonus für Arbeit“ (der sich im vorliegenden Entwurf noch nicht findet) könnte über das Steuersystem gewährt werden. Im Gegensatz zu heute wäre der Arbeitnehmer voll sozialversichert, unterläge aber nicht mehr der als unwürdig empfundenen Bedarfsprüfung.
Narkose durch Bücher? Nicht mit uns!
Der Programmentwurf zeichnet sich durch realistische Visionen aus. Gerade der Mindestlohn, das Bekenntnis zum sozialen Arbeitsmarkt und die Gestaltung von Beschäftigungsbrücken sind zukunftsweisende arbeitsmarktpolitische Ansätze. Es liegt jetzt in der Hand der Delegierten des Hamburger Parteitags, weitere moderne und klare arbeitsmarkt- politische Signale auszusenden. Dem Hamburger Programm ist sehr zu wünschen, dass es ähnlich wirken wird, wie von Kurt Tucholsky alias Peter Panter beschrieben: „Narkose durch Bücher ... Das Richtige ist: das intensive Buch. Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt, zerrt und nicht mehr loslässt“.