"Wir brauchen eine ästhetische Geschichtsschreibung der Berliner Republik."
joachim sartorius: Mein Berufsziel als junger Mann war der diplomatische Dienst. Damals gab es dort noch ein absolutes Juristenmonopol. Obwohl ich viel lieber Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte studiert hätte, was meinen Passionen mehr entsprochen hätte, zwang ich mich damals zur Rechtswissenschaft. Ich studierte mit größtem Hass Jura! Ich wollte aber unbedingt ins Auswärtige Amt. Das klappte dann ja auch.
michael roth: Wie sind sie als Diplomat zur Literatur, wie zur Poesie gekommen?
joachim sartorius: Ich hatte immer eine Leidenschaft für Literatur. Meine berufliche Beschäftigung mit der Poesie aber begann auf meinem ersten diplomatischen Posten in New York. Ich war damals Kulturattaché am Deutschen Generalkonsulat und lernte viele amerikanische Dichter kennen. Ich übersetzte manche ins Deutsche und fand auch einen Verlag in Deutschland. So kam ich über das Übersetzen zum Herausgeben und schließlich zum Selberschreiben. Eigentlich habe ich von da an immer ein Doppelleben geführt. Eines verbrachte ich im Literaturbereich, das andere in der Kulturpolitik oder im Kulturmanagement.
michael roth: Sie gelten als ausgesprochen durchsetzungsfähiger und prinzipienfester Mensch. Zumindest eines der Attribute ist eine Bedingung für den Erfolg in der Politik - jetzt können Sie überlegen, welches. Hatten Sie nie Lust, Politiker zu werden?
joachim sartorius: Bis zu einem gewissen Grad habe ich immer Kulturpolitik gemacht. Als Generalsekretär des Goethe-Instituts stand ich in einer stark außenkulturpolitisch geprägten Position. Ich wollte aber nie einer politischen Partei beitreten. Ich bilde mir ein, unabhängiger zu sein, wenn ich mich von Parteipolitik und vom unmittelbaren politischen Tagesgeschehen fernhalte. Die zwei Jahre im Büro von Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher im Auswärtigen Amt waren sehr spannend. Die Nähe zur Macht hat eine ganz eigene Qualität. Das übte schon eine gewisse Faszination auf mich aus.
michael roth: Sie waren vor ihrer Zeit als Generalsekretär des Goethe-Instituts mit Sitz in München schon einmal in Berlin in der Senatsverwaltung für Kultur aktiv. Sind sie gerne von München nach Berlin zurück gekehrt?
joachim sartorius: Das Amt als Generalsekretär des Goethe-Instituts ist unglaublich spannend. Ich hatte drei schlaflose Nächte, bevor ich mich entschloss, zurück nach Berlin und zu den Festspielen zu gehen. Ich habe diese vier Jahre beim Goethe-Institut wirklich sehr geschätzt. Es waren allerdings auch sehr schwierige Jahre. In meiner Amtszeit begannen die großen Kürzungen. Wir übten eher eine Politik der Verteilung des Mangels aus. In meiner Amtszeit wurden über 20 Institute geschlossen. Das war schwierig und bitter. Durch die Sparpolitik der Bundesregierung nahm auch die Gremienarbeit enorm zu. Es tauchten plötzlich Schlagworte auf wie "Kosten-Leistungs-Rechnung" und "Evaluierung". Meine Tage sahen am Schluss so aus, dass ich fast jeden Tag zwölf Stunden in öffentlichen Gremien saß. Insgesamt waren für mich absurderweise im Goethe-Institut die Kultur und die Künstler so weit entfernt, wie sonst nie in meinem Leben. Es war ein Übermaß an Management, ein Übermaß an Administration - die Künstler waren Lichtjahre entfernt.
michael roth: Meinen Sie denn, dass es für Sie als Intendant der Berliner Festspiele jetzt anders wird? Programm und Anspruch der Berliner Festspiele lassen doch eher einen riesigen Wust von Verwaltungsaufgaben vermuten.
joachim sartorius: Obwohl diese Berliner Festspiele schon eine enorme Masse von Komponenten haben - von der Berlinale bis zum JazzFest - und damit ein kleines Imperium darstellen, sind die Strukturen wirklich einfach. Es gibt weniger als 50 feste Mitarbeiter, alles ist einigermaßen überschaubar. Es herrscht auch, was ich sehr schön finde, von Seiten der Politik eine große inhaltliche Gestaltungsfreiheit. Das finde ich wunderbar.
michael roth: Die Berliner Festspiele waren ja früher so ein West-Berliner Eigengewächs: Das Signal der Freiheit in den Osten. Wie wollen Sie diese eher nostalgische Komponente einer zum Glück vergangenen Zeit jetzt weiter entwickeln? Wie wollen Sie den Berliner Festspielen in dieser kulturell sehr wirkungsmächtigen Stadt zukunftsweisende Impulse verleihen?
joachim sartorius: Ich sehe drei Hauptaufgaben. Erstens zeigen wir in Berlin, was auf der Welt an künstlerisch Exzeptionellem produziert wird. Metropole zu sein, ist auch eine Haltung. Wir sind Gastgeber für die wichtigsten Kulturprojekte, die im Ausland produziert werden. Zweitens müssen die Festspiele - so übertrieben das jetzt klingen mag - versuchen, eine Art ästhetische Geschichtsschreibung der Berliner Republik zu betreiben. Wir schauen offen nach vorne. Mit eher jungen Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen suchen wir nach der Bedeutung der neuen Medien in den Künsten. Drittens halte ich die kulturellen Beziehungen zu den Nachbarländern im Osten für außerordentlich wichtig. Ich möchte mit einer gewissen Regelmäßigkeit die junge Szene in Polen, Tschechien und Ungarn vorstellen, aber auch einige große Projekte mit Russland machen. Das hängt natürlich mit der geografischen Lage von Berlin zusammen. Wären die Festspiele in Saar-brücken, würde man in ganz andere Richtungen schauen.
michael roth: Den Festspielen steht mit der Freien Volksbühne erstmalig ein festes Theater zur Verfügung. Bei deren Eröffnung 1963 forderte Willy Brandt, dass Berlin wieder der Ort werden möge, von dem aus Deutschlands Beitrag zur europäischen Kultur am stärksten ausstrahle. Welchen Auftrag sehen Sie heute für Berlin?
joachim sartorius: Berlin ist die Hauptstadt! Deswegen kann man sie nicht, wie Herr Nida-Rümelin das, frisch aus München kommend, getan hat, mit anderen großen deutschen Städten gleichsetzen. Berlin hat eine Sonderrolle. Auch wenn die Bundeskulturpolitik bis zu einem gewissen Grad in den Bundesländern tätig sein muss, vor allem in den neuen Bundesländern, ist für mich die Hauptsache die Hauptstadt selbst. Berlin nimmt gerade hinsichtlich der neuen EU-Beitrittskandidaten eine Sonderrolle ein. Hier muss jetzt nicht nur auf juristischem, wirtschaftlichem, politischem Gebiet eine Angleichung vollzogen werden. Gerade in der Kultur muss ein Beziehungsgeflecht hergestellt werden. Ich würde auch über Europa hinaus gehen. Die Festspiele werden deshalb einen ganz starken internationalen Charakter haben.
michael roth: In Berlin herrscht ständiges Wehklagen. Vergessen wird dabei all zu oft, dass die Bundeshauptstadt immer noch eine ganze Menge zu bieten hat. Nicht die Berliner Kultur ist in der Krise, sondern Kulturpolitik und Kulturpolitiker. Sind Sie noch guter Hoffnung, dass sich an diesem Zustand des Jammerns noch einmal etwas ändern könnte?
joachim sartorius: Zu jeder Metropole gehört immer ein Diskurs, der über diese Metropole geführt wird. Das ist in Paris so, das ist in New York so. Was mich in Berlin immer sehr gefuchst hat, war dieser Jammerton und die ewige Frage: Sind wir noch Provinz oder sind wird schon Metropole? Das lässt eine gewisse Unsicherheit erkennen. Berlin ist auf dem Weg zur Metropole. Die Berliner Theaterlandschaft ist noch immer ein Paradies. Wir haben hier gute, zum Teil ideale Zustände. Ich kann nicht verstehen, dass ein Opernhaus, das 85 Millionen Mark öffentliche Mittel bekommt, schreit: Ich sterbe morgen, wenn ihr mir nicht noch einmal 10 Millionen gebt. Sie müssen mal Menschen aus New York oder London sprechen. Nur Broadway, nur Musical! Nichts ist subventioniert! Im Grunde ist dort vieles schlecht und extrem kommerziell.
michael roth: Sie haben die Welt gesehen. Was hat Berlin, was die ganze Welt nicht hat? Was ist das Einzigartige?
joachim sartorius: Ich fürchte, das Einzigartige ist doch die Geschichte Berlins, die von Wechselfällen, von schrecklichen Zeiten geprägt ist. Berlin besteht aus Gedenkstätten. Deswegen brauchen wir gar kein Holocaust-Mahnmal mehr. Es gibt so viele Spuren der Geschichte hier, die in diese Stadt, in ihre Architektur, in ihre Strukturen eingeschrieben sind. Ich habe aber eine Schwäche für die Berliner, für ihren grantigen Humor und für ihre Schnodderigkeit. In anderen Städten findet man das so nicht.
michael roth: Der Titel unserer Zeitschrift bereitet manchen Unbehagen. Ihnen geht die "Berliner Republik" recht locker von den Lippen. Was assoziieren sie damit?
joachim sartorius: Es wäre ja absurd in Berlin von einer Bonner Republik zu sprechen. Für mich ist es zunächst einmal eine sachliche Bezeichnung eines Umzugs und eines neuen Zustandes. Die wirklich wichtige Frage ist, wie sich dieser Begriff der Berliner Republik materialisiert? Ich wünsche mir, dass die SPD, vielleicht auch die Berliner Festspiele, mal eine große öffentliche Debattenreihe zur "Berliner Republik" ausrichten. Für mich ist der Begriff nicht a priori mit Großmannssucht verbunden. Es gibt eine ganze Reihe von neuen Parametern für die Politik und eine veränderte Topografie des Realen. Das fängt schon mit der geografischen Lage von Berlin an. Alles ist noch sehr im Entstehen und im Werden. Aber wir reden zu wenig darüber.
michael roth: Ihnen wird gelegentlich vorgeworfen, ihr Ruhm, ihr Ruf und ihr Erfolg beruhten maßgeblich auf ihrem Old-Boys-Network. Davon sollen sie schon seit Jahren zehren, damit sollen Sie auch ihr neues Projekt, die Berliner Festspiele, am Laufen halten. Greifen Sie einfach in die große Klamottenkiste hinein und präsentieren die großen, schönen Namen?
joachim sartorius: Man könnte heute gar keine Politik, erst recht keine Kulturpolitik machen, ohne dass man in einem Netzwerk aktiv und mit anderen Netzwerken verbunden ist. Die Frage ist viel eher: Sind die Old Boys sehr gute, avancierte Künstler oder sind das schlechte Künstler? Ich habe nichts gegen ein Netzwerk. Aber die Voraussetzung ist, dass es ständig ergänzt wird.
michael roth: Aber wo bleiben in ihrem Netzwerk die jungen, wagemutigen, noch nicht etablierten Künstler?
joachim sartorius: Der Ausdruck Old-Boys-Network ist natürlich totaler Blödsinn. Ich kenne vielleicht 40 Schriftsteller unter 30 Jahren in Berlin. Aber das Geburtsdatum ist doch nicht das zentrale Kriterium. Ich lernte, darüber bin ich immer noch sehr glücklich, 1974 in New York den 81-jährigen Max Ernst kennen. Der alte Dada-Max aus Köln hatte mehr Jugend, Feuer und Ideen als manch jugendliche Gruppe von Künstlern zusammen.
michael roth: Wenn Sie, mal vom Geld abgesehen, drei Wünsche an die Kulturpolitik äußern könnten, welche wären das?
joachim sartorius: Zunächst möchte ich mir wünschen, dass die Politik und auch die zuständigen Ausschüsse im Bundestag den Stellenwert der auswärtigen Kulturpolitik höher einschätzen als bisher. Zweitens hoffe ich, dass sich bald mit Blick auf die Besteuerung ausländischer Künstler Änderungen ergeben werden. Das ist wirklich eine ganz fatale Geschichte. Die Engagements internationaler Künstler in Deutschland nehmen rapide ab. Der dritte, auf Berlin bezogene Wunsch ist, dass es zu einer Entspannung des Berliner Kulturhaushaltes kommt. Das Land Berlin hat den Festspielen letztes Jahr noch 11,4 Millionen Mark als regulären Beitrag zur Verfügung gestellt. Diese 11,4 Millionen Mark hat vollständig der Bund übernommen. Wohin sind jetzt die Berliner Mittel verschwunden? Der Kultursenator Stölzl hat von diesen 11,4 Millionen keinen Pfennig gesehen. Wie wir jetzt wissen, ist das Loch im Berliner Haushalt so enorm, dass alles spurlos vergurgelt ist.
michael roth: Wenn sie nicht in ihrem Büro sitzen und nicht in Ihrem Theater, wo sind Ihre Plätze in Berlin, die Sie gerne aufsuchen, die Sie inspirieren?
joachim sartorius: Ich hoffe, irgendwann auch wieder ein bisschen zu schreiben. So ist nach Theater und Büro dann leider, leider der dritte Platz doch der vor dem Computer zu Hause. Ich gehe sehr gerne zum Prater in die Kastanienallee am Prenzlauer Berg. Berlins Mitte wird mir nun langsam schon zu trendyfied. Ich mag einige Ecken um den Kollwitz-Platz. Ich versuche auch etwas von der Off-Offszene oder der Fringe-Szene hier mitzubekommen. Zumindest einmal alle 10 Tage möchte ich mir etwas ansehen, was nicht im Rampenlicht steht und besprochen wird. Es gibt immer wieder tolle Produktionen. Aus denen kommen dann eines Tages auch die neue Sasha Waltz und der neue Herr Ostermeier.
michael roth: Was werden Sie denn, wenn sie ein bisschen träumen, nach den Berliner Festspielen?
joachim sartorius: Gärtner in Istanbul.
1Jurist und Dichter, Diplomat und Essayist, Übersetzer und PEN-Mitglied. Zuletzt ist von Joachim Sartorius der Gedichtband Keiner gefriert anders erschienen