Wir stehen vor wunderbaren Tagen
Die Bundestagswahlen 2013 waren ein bemerkenswerter Einschnitt in die Geschichte unserer jungen Republik. Die Wählerinnen und Wähler haben diese FDP in die Insolvenz geschickt. Und vier von fünf Wählern, die ihre Stimme einer Partei mit Aussicht auf Einzug in den Bundestag gegeben haben, sind – größtenteils bewusst – das hohe Risiko einer Großen Koalition eingegangen. Oder rechnete jemand am Wahltag mit Rot- oder Schwarz-Grün? Noch bemerkenswerter: Bei der Wahl stand die soziale Frage im Vordergrund, aber die Parteien der Linken vermögen es nicht, aus ihrem knappen und relativen Wahlerfolg politisches Kapital zu schlagen. Dass die beiden Unionsparteien in der Wählergunst so weit vorne liegen zeigt, dass sie sich erhebliches Vertrauen bis hinein in die organisierte Arbeitnehmerschaft erworben haben. Die zentrale Frage lautet, ob die Ursache der oben beschriebenen Erscheinungen erkannt und korrigiert wird.
Die CDU rettete sich dank Kanzlerbonus aus der Krise, in der sie sich nach den Niederlagen von Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Niedersachsen zweifelsohne befindet. Angela Merkel gebietet über eine neue Partei virtuellen Typs. Die CSU wird von Horst Seehofer mit ordnender Hand für den Generationenwechsel präpariert – wer da aus der Reihe tanzt, dem droht der Bannstrahl des Vorsitzenden. So etwas fördert den esprit de corps und die Kampfkraft. Die SPD fragt sich erneut, ob sie am Kandidaten oder an der falschen Werbeagentur gescheitert ist. Die Spitzentruppe der Grünen zerfleischt sich ungeachtet des honorablen Beweises, dass stolze 8,4 Prozent der Wähler grüne Stammwähler sind. Die Linkspartei jubelt über ihre Pyrrhus-Chance, mit einer Kleinfraktion die Oppositionsführerschaft übernehmen zu dürfen. Und nach misslungener Kampagne erklären mal Sozialdemokraten, mal Grüne, ihre Angst vor der unersättlichen Überkanzlerin Angela Merkel hindere sie daran, an eine Große Koalition auch nur zu denken.
Diese politische Misere hat ihren Ursprung darin, dass höchst verschiedene Politikentwürfe zur Wahl standen – dies aber nicht auffiel. Beispiel Mitbestimmung: SPD und Grüne traten mit der Absicht an, die paritätisch mitbestimmten Unternehmen durch eine deutliche Absenkung der dafür notwendigen Beschäftigtenzahl zu vervielfachen. Dies in die Tat umzusetzen, hätte eine der härtesten Auseinandersetzungen um Wirtschaftsdemokratie seit Jahrzehnten nach sich gezogen. Außerdem sollten die viel zu vielen Sonderangebote aus den Discountregalen des Arbeitsmarktes genommen werden, der gesetzliche Mindestlohn kommen, die Bürger- und die Arbeitsversicherung sowieso. Was wären das für wunderbare Tage gewesen, denen wir hätten entgegengehen können!? Aber hat das in diesem Wahlkampf jemand so gesagt? Hätte das jemand so gesagt? Musste Olof Palme all seinen Mut zusammennehmen, um einen Satz von der Klarheit wie diesen auszusprechen? Jede Zeit, muss man einwenden, hat ihre Themen, ihre Gesten, ihre Reden – und Olof Palme war halt gestern.
Muss aber nicht, wer Großes will, das grand design als Person verkörpern? Warum fand sich niemand, der diese klar im Widerspruch zur marktliberal zerzausten Gegenwart stehenden Forderungen auf den Punkt brachte? Wenn man den Vielen mehr Macht und Möglichkeiten geben möchte, ihr Leben zu gestalten, und einen starken Staat will, der ihre Freiheit schützt, warum sagt man es ihnen dann nicht?
Der empathiefreie Geist der Sozialtechniker
Diese eigenwillige Diskrepanz zwischen der Niederschrift von Ideen, Beschlüssen von Parteigremien und der anschließenden Kampagne ohne Emphase erklärt sich aus meiner Sicht allein mit einem gesunden Misstrauen der Werbenden gegen ihr Produkt. Dabei sehe ich nicht die Inhalte als Problem, sondern die Art und Weise, wie sie zustande kamen. Sie können ja mit oder ohne Faszination entwickelt werden. Die gewichtige Forderung, tief in den unternehmerischen Mittelstand hinein die Mitbestimmung auszudehnen, ist von so weitreichender Konsequenz, dass die Entscheidung, dies zu wollen, faszinierend ist! Man kann dieses Ziel aber auch einfach so hinschreiben. Weil man es immer schon so hingeschrieben hat, weil jemand gesagt hat, das sei wichtig, weil der Satz schon im Programm einer anderen Partei steht.
Ich fürchte, dies ist mit vielem der Fall, was in den vergangenen Monaten aufgeschrieben wurde. Zu vieles atmet diesen empathiefreien Geist, den Sozialtechniker an den Tag legen, wenn sie erklären, wie der Fortschritt mithilfe von Gesetzen, Verordnungen, Agenturen und grauen Beamten zur Welt kommen soll. Wenn Menschen, die Politik mit Sozialtechnik verwechseln, von Menschen kopieren, die ihrerseits Sozialtechniker sind, dann kommt dabei mal die Rente mit 67, mal ein „Veggie-Day“ in öffentlichen Kantinen heraus. Es spricht gar nichts gegen einen Gemüsetag, es spricht auch vieles für eine Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung. Es spricht aber alles gegen den Verordnungsweg. Das fällt auf. Als seltsam distanziert.
Um es auf den Arbeitsmarkt zu fokussieren: Der Beitrag besserer Gesetze für eine neue Ordnung des Arbeitsmarktes ist wichtig, aber nicht entscheidend. Was nützen die besten Gesetze, wenn die Menschen ihnen nicht folgen? Der Sozialtechniker freut sich über ein schönes Gesetz zur Begrenzung der Zeitarbeit. Damit allein ist wenig gewonnen. Das schönste Gesetz braucht Anhänger, um seine Kraft zu entfalten.
Wie die Lust auf eine bessere Zukunft entsteht
Der Sozialstaat kann an zu vielen Gegnern, aber auch an einem Mangel an Anhängern scheitern. Sinkende Wahlbeteiligungen korrespondieren auffällig mit einem gesunkenen Organisationsgrad von Menschen in Gewerkschaften und Unternehmen sowie Unternehmern in funktionstüchtigen Arbeitgeberverbänden. Ein Gesetz mag man beschließen. Das erscheint leicht. Eine Kultur zu stiften entzieht sich der Beschlusslogik. Sie ist die Sache mindestens einer Generation, die aufbrechen will (und dies auch eines Tages wird, die Frage ist gegenwärtig nur: wie und mit wem?).
Man kann freilich versuchen, diese Kultur zu simulieren. Sozialtechniker finden dafür sofort Formate und Techniken, um Eliten in den Dämmerzustand der Autohypnose zu versetzen. In Mode gekommen sind das für die Autosuggestion vortrefflich geeignete Fishbowl-Format sowie die Townhall-Simulation. Das vermeintlich Schöne ist: Am Ende des Tages sind alle Checklisten abgearbeitet. Das Doofe: Der Erfolg mag sich nicht einstellen. Aus diesem Schlammassel wächst die Angst vor einer Bundeskanzlerin, der es gelungen ist, anfangs noch contre coeur vieler ihrer Wähler, zur Projektionsfläche einer mit ihrem gegenwärtigen Leben einverstandenen Gesellschaft zu werden.
Progressive Politik speist sich nicht aus dem Zuspruch zur Gegenwart. Ihr Grund liegt im Widerspruch zur Zeit und in einer mit einer besseren Zukunft einverstandenen Gesellschaft. Wer diesen Erfolg will, darf nicht glauben, es könnte je gelingen, „Menschen in den Mittelpunkt von Politik“ zu stellen, wie Sozialtechniker gerne sagen. Eine politische Kultur des Fortschritts bedeutet: Menschen setzen sich selbst in Bewegung und entdecken Parteien, Gewerkschaften und ihnen nahestehenden Vereine als ihre Instrumente, um die vielen Hindernisse auf dem Weg zu einem guten Leben erst zu benennen und beiseite zu räumen. Wenn die am besten ausgebildete Generation in unserem Land dann jemanden hört, der von wunderbaren Tagen spricht, die vor ihnen liegen, werden sie diesen Satz verstehen. Weil es endlich ihr eigener ist.