Eine neue Kultur des Fortschritts
Seit die Folgen der Finanzkrise vom Alltag vieler Europäer Besitz ergriffen haben, wächst das Unbehagen über die Zustände, in denen wir leben. Wo ein Drittel der Menschen keine Arbeit hat, wie in Griechenland, Spanien oder Irland, stellt sich die soziale Frage in einer Radikalität, wie wir sie – zumindest in der EU – überwunden geglaubt hatten: Geheimnis und Gewalt kehren zurück. Noch spüren die Menschen in Deutschland, in den Benelux-Ländern und in den skandinavischen Staaten die Krise im Alltag nicht wirklich. Der muntere Überseehandel vieler Branchen lässt vergessen, dass die abstürzende Nachfrage in einstigen europäischen Hauptabsatzmärkten auf Sicht auch die Produktion in Deutschland bedroht. Nach dem kurzen Sommer der Kurzarbeit 2008 erscheint die Krise den Deutschen zwar als bedrohlich, aber zugleich auch als hinreichend abstrakt – weit genug weg, um eine Sache von Politik und Wissenschaft zu bleiben.
Angesichts dieser Asymmetrie von Krise und Bewusstsein sowie der konservativen politischen Reformen wie dem Fiskalpakt oder dem Euro-Plus-Pakt macht sich unter kritischen Intellektuellen Pessimismus über die Zukunft des Demokratischen und Sozialen breit. So stellte Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialforschung, Ende 2011 in der Zeitschrift Lettre IV fest: „Mehr denn je scheint wirtschaftliche Macht heute zu politischer Macht geworden zu sein, während die Bürger fast gänzlich ihrer demokratischen Verteidigungsmöglichkeiten und ihrer Fähigkeit beraubt sind, der politischen Ökonomie Interessen und Forderungen aufzuprägen, die mit denen der Kapitaleigner nicht vereinbar sind.“ Der französische Soziologe Marcel Hénaff pflichtete ihm in der darauffolgenden Ausgabe der Zeitschrift bei. Es sei sogar noch schlimmer: Über die Wirkung von Zins und Tilgung ergreife angesichts der enormen Schulden von Staaten, Unternehmen und Menschen das tote Kapital Besitz von der Zeit. „Genauer gesagt, es geht um eine bestimmte Art und Weise, die Zukunft vorzustellen und zu kontrollieren, ein Bestreben, das der Macht der Menschen stets entzogen schien.“ Hénaff spricht von einer nihilistischen Weltsicht der Finanzwelt, denn Zins und Tilgung „verfügen über keinerlei Vision von der Größe oder Vollendung unserer Gattung, sondern entwickeln sich als eine Art Geiselnahme unserer Freiheit und unserer Fähigkeit zur Hoffnung“.
»Energiewende« klingt lahm. Es geht um viel mehr!
Große Worte. Es sind gute Beschreibungen dessen, was an den gegenwärtigen Verhältnissen falsch ist. Aber der Defätismus, der auf beiden Texten lastet, ähnelt stark jenem dunklen Zweig der Umweltdebatte, dessen Protagnisten das Ende der Menschheit für wahrscheinlicher halten als die menschliche Kraft zur Innovation. Ich glaube vielmehr, dass es Anlass gibt zu hoffen. Meine Hoffnung ist eng verknüpft mit dem, was viel zu kalt und bürokratisch „Energiewende“ genannt wird. Denn in Wirklichkeit geht es um mehr. Es geht um eine der größten Herausforderungen der Menschheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es geht um eine der größten Chancen zur technologischen, sozialen und ökologischen Erneuerung, die sich uns bieten.
Die Energiebasis einer Gesellschaft ist keine „Rahmenbedingung“ gelingender unternehmerischer und privater Entwicklung. Sie ist eine prägende Grundvoraussetzung dafür. Ich will daran erinnern, dass die vorerst letzte Erneuerung der Energiebasis – die zivile Nutzung der Atomkraft – mithalf, die Entwicklung Bayerns von einem Agrar- zu einem Industrieland voranzutreiben. Die Nutzung fossiler Kohle in Verbindung mit der Dampfmaschine beendete in Europa das Zeitalter der Leibeigenschaft und in den Vereinigten Staaten die Sklaverei. Mit Leibeigenen und Sklaven ist schlicht keine Industrie zu machen. Die Entfaltung der Produktivkräfte ist nicht die einzige, wohl aber eine wesentliche Bedingung sozialer Innovationen. Aus diesem Grund setzen Länder, die den Weg industrieller Entwicklung erst jetzt beschreiten, in der Regel auf die Atomkraft. Der Pfad ist vielfach begangen, er scheint gut beschildert zu sein, die Abgründe der zivilen Nutzung des atomaren Feuers werden erfolgreich verdrängt.
Der Weg ins Zeitalter erneuerbarer Energien wird – das zeichnet sich auch ohne historische Parallelen ab – viel weiter reichende Folgen haben als gemeinhin angenommen. Diese Energiewende hat mehrere Dimensionen, die bedacht werden sollten. Ich will zunächst eine Herausforderung benennen, an die wahrscheinlich die wenigsten denken. Sie dürfte sogar eine der größten sein, da wir in einer Zeit leben, in der Schulden per se als böse gelten. Jedoch ist die Erneuerung der Energiebasis ohne massive Verschuldung nicht gestaltbar. Nötig sind neben vielen anderen Dingen: die energetische Sanierung von Millionen Gebäuden, der Aufbau von Offshore-Windkraftwerken, deren Anschluss an das Festlandsnetz, der Transport von Strom zu den Industriezentren in West- und Süddeutschland, die Bedachung von Häusern und Äckern mit Solarpanels, der Aufbau gewaltiger Pumpspeicher in norwegischen Hochtälern und die Verbindung des norwegischen Netzes mit dem europäischen Kontinentalnetz, der Bau einer Generation höchsteffizienter Gas- und Kohlekraftwerke, die Digitalisierung des Stromnetzes zu einem „intelligenten“ smart grid. Das alles wird unvorstellbar viel Geld kosten. Nicht zu vergessen der notwendige Versuch, die Sonne über den Regionen am Mittelmeer und in der Sahara anzuzapfen – es wird Milliarden Euro brauchen, niemand weiß genau wie viel. Was wir wissen ist, dass der für die Küsten zuständige Netzbetreiber finanziell nicht in der Lage ist, das Geld für den zügigen Anschluss von Offshore-Windparks aufzubringen.
Kurzum: Vor uns liegt eines der größten Investitionsprogramme seit Generationen – übrigens auch dann, wenn wir die deutsche Energielandschaft in zahllose, miteinander verschachtelte und kommunizierende Strominseln auflösen. Der Umbau wird so gewaltig, dass er auf keinen Fall aus den laufenden Erträgen einer Volkswirtschaft zu bewältigen sein wird. Die nötigen finanziellen Ressourcen werden dann kreditiert, wenn die Geldgeber darauf vertrauen, dass der Schuldner auch in zwanzig oder dreißig Jahren eine leistungsfähige Volkswirtschaft ist.
Einstweilen befinden wir uns noch in der Erprobungsphase. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) förderte bislang die Einspeisung unter anderem von Solarstrom so, dass die meisten Energieverbraucher die Kosten über eine erhebliche Umlage trugen. Diese Förderung läuft zum Glück aus: Arbeiter, kleine Angestellte und Empfänger von Arbeitslosengeld II finanzieren bisher über ihre Stromrechnung die Gewinne von Menschen, die sich Solardächer leisten können. Mehr noch: Das planwirtschaftliche Element in dem Konzept – ein Garantiepreis für 20 Jahre – verhinderte, dass die deutsche Solarwirtschaft bereitstehende Innovationen hinreichend aufnahm, stattdessen ihr Glück in der Mengenproduktion sah. Was wir brauchen, ist eine kluge Industriepolitik, die Forschung und Entwicklung auf dem Feld der Solarenergie voranbringt. Zumindest ist das Vorgehen ausgereizt, die neue Energiestruktur aus laufenden Erträgen zu finanzieren. Auch das energieintensive Industrielle Netz kann nicht weiter mit Kosten belastet werden, ohne das ausgerechnet seine Innovationskraft leidet.
Kostenlos werden wir die Zukunft nicht gewinnen
Uns muss das Gegenteil gelingen: Die Innovationskraft unserer Industrien muss vorangetrieben werden. Für die meisten der vor uns liegenden Herausforderungen fehlen uns gegenwärtig entweder die Kapazitäten oder – noch bedenklicher – die Innovationen. Das gilt etwa für die Möglichkeit, Strom in aufnahmestarken Batterien zu speichern. Beispielsweise müssen wir die Elektrochemie wieder an die Hochschulen und in das Industrielle Netz zurückbringen – Jahrzehnte, nachdem sie in Deutschland fast aufgegeben worden war.
Die finanzpolitische Herausforderung lautet also: Wir müssen wieder lernen, dass der Kredit der Finanzierung der Zukunft dienen kann. Wir müssen lernen, dass die Kosten der Energiewende Investitionen sind – auch in Beschäftigung. Der Beschluss zur Energiewende hat aus einer politischen Forderung ein Innovations- und Investitionsprojekt gemacht. Das muss allen klar sein.
Und nun zu den mit der Energiewende verbundenen Chancen der Erneuerung: In den vergangenen Jahrzehnten hat das Industrielle Netz unter Ausdünnung gelitten. Beschäftigung und Know-how gingen verloren, weil Teile des Netzes nach Mittel- und Osteuropa ausgelagert wurden. Im Wettbewerb um die dynamischen Märkte Asiens wurden Produktion, Forschung und Entwicklung verlagert. Auch die enorme Entfaltung der Produktivität hat hunderttausende Arbeitsplätze gekostet. Und: Es ist nicht gelungen, das Industrielle Netz zu erweitern – etwa durch Computer-, Bio- oder Gentechnologie. Das Innovationsprojekt Energiewende könnte hingegen die Chance sein, die deutsche und die europäische Industrie aus einem Strukturwandel mit mehr Beschäftigung und mehr Wachstumspotenzial hervorgehen zu lassen.
Kommt der Fortschritt zu nah, wird er bekämpft
Wir stehen gegenwärtig vor einem Dilemma: Nach Fukushima gibt es weder in der Politik noch in der Gesellschaft eine relevante Opposition gegen den Ausstieg aus der Atomkraft, das Ende der Kohlekraft ist ebenfalls beschlossene Sache. Die Zustimmung zu der Frage, ob der Umstieg auf erneuerbare Energien gewünscht ist, ähnelt jenen Werten zur zivilen Nutzung der Atomkraft in den späten fünfziger Jahren. Wenn der Fortschritt jedoch nahe kommt in Form von Hochspannungsleitungen, neuen Speicher- und Kraftwerken, dann wird er bekämpft. Bewohner der Nordseeinseln wollen nicht, dass Kurgäste auf Windspargel blicken. Schwarzwälder lieben die Schwarzwaldtäler mehr als Pumpspeicherkraftwerke. Wir werden also Lösungen finden müssen. Die Demokratisierung von Planungsverfahren und neue Formen des Interessenausgleichs können Schlüssel dafür sein – und zugleich demokratische Innovationen für unsere Gesellschaft, die dank der Digitalisierung mehr und mehr Möglichkeiten entdeckt, wie demokratische Prozesse organisiert werden können.
Ist die Erneuerung der Energiebasis erfolgreich, wird sie nicht ohne Einfluss auf die Arbeitswelt bleiben. Wenn die neue Infrastruktur steht, bedarf sie keiner Kohle und keines Spaltmaterials mehr. Gelingt die Abkopplung von fossilen und atomaren Brennstoffen, würde der Wegfall von Brennstoffkosten in den Unternehmen enormen Gestaltungsspielraum mit sich bringen für neue Forschung, Entwicklung und für die stärkere materielle Teilhabe der Beschäftigten. Heute ist es umgekehrt: Die stetig steigende Energierechnung bremst die Innovationskraft des Industriellen Netzes aus.
Wenn mit den erneuerbaren Energien enorme Produktivkräfte freigesetzt würden, hätten wir nicht nur unser grünes Gewissen gestillt, sondern damit wäre auch ein ungeheurer Aufbruch verbunden. Angesichts wachsender Verteilungsspielräume könnte ein neuer Produktionskonsens zwischen Kapital, Arbeit und Umwelt geschlossen werden, vor dessen Hintergrund die Verteilungskonflikte der Zukunft besser lösbar erscheinen als heute.
Eine neue Fortschrittsdynamik ist möglich
Der Gebrauch des Konjunktivs macht deutlich, dass die Lösung der sozialen Frage infolge eines energetischen Zukunftsinvestitionsprogramms keineswegs programmiert ist. Es gibt Herausforderungen, die nicht unterschätzt werden dürfen (aber ständig unterschätzt werden). Erstens: Die Staaten der Welt müssen einen restriktiven Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte schaffen, so dass Investitionen in die Realwirtschaft attraktiver werden. Zweitens: Zur Finanzierung des künftigen Energienetzwerks müssen wir den Aberglauben überwinden, Schulden seien schlecht, weil die Kosten höchst ertragreichen Investitionen dienen sollen. Drittens: Für die Zukunftskredite sollten Formen der Refinanzierung gefunden werden, die möglichst frei von Spekulationen sind. Viertens: Es muss gelingen, das ökologische Dilemma zu überwinden – der technologische Fortschritt in Richtung erneuerbarer Energien hat die Kraft, eine Gesellschaft zu begeistern. Dann braucht man aber auch Parteien, Verbände, Gewerkschaften, Kirchen, Bürgerinitiativen und Unternehmen, die begeistern wollen. Fünftens: Die Begeisterung darf nicht wieder, wie in der Ära der Atomkraft, blind machen für negative Folgen des Fortschritts. Sechstens: Wir brauchen also nichts weniger als eine neue Kultur des Fortschritts.
Industrie und Industriegewerkschaften haben den Ball aufgenommen. Entgegen mancher Befürchtung bedroht ihr Engagement das Vorhaben nicht. Die Energiewende ist Teil eines progressiven Verständnisses von qualitativem Wachstum geworden. Ein Scheitern der Energiewende würde das deutsche Industrielle Netz zerstören, von dessen Stabilität der Wohlstand in Europa und die Fähigkeit zu ökologischen und sozialen Innovationen abhängt. In dieser Verantwortung stehen wir. Gelingt es, neue Produktivkräfte zu entfalten, könnte eine neue Dynamik helfen, viele der gegenwärtig ungelösten demokratischen und sozialen Fragen zu klären. Die Sonne des europäischen Südens kann der Ausgangspunkt seiner Reindustrialisierung werden. Hand aufs Herz: Ein alternatives Projekt, um gemeinsam aufzubrechen, ist nicht in Sicht. Misslingt der Aufbruch, könnten Marcel Hénaff, Wolfgang Streeck und viele andere recht behalten.