Wo die Vision fehlt
Die Karikatur unserer Überflussgesellschaft füllt ganze Fernsehserien. Wer etwa Homer Simpson dabei zusieht, wie er Whopper um Whopper verschlingt, darf zu Recht vermuten, dass diese Art des Konsums nicht nachhaltig ist, weder für Homer noch für den Planeten. Wie also den Comic-Helden – und uns selbst – überzeugen, dass wir eine neue Art von Wachstum und Konsum brauchen? Schauen wir uns zwei Varianten an.
Variante 1: Man könnte Verzicht predigen, etwa so: „Homer, Dein amerikanischer Traum vom Wachstum ist ausgeträumt! Dein Burgerkonsum schadet dem Klima, Deine künftigen Herzbeschwerden belasten das Gesundheitswesen und überhaupt wird die demografische Entwicklung dafür sorgen, dass bald alle weniger auf dem Teller haben. Bis dahin: Guten Appetit!“
Variante 2: Auch könnte man Homer einen neuen Lebensstil schmackhaft machen: „Homer, überleg mal, wie gut frisches Wokgemüse mit Reis schmeckt. Wenn du anders isst, wirst du dich morgens fühlen, als wolltest du den Tag umarmen. Deine Rückenschmerzen werden mit jedem Kilo Gewicht abnehmen, und Deine Frau Marge wird dich begehren wie bei Eurem ersten Date.“
Eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie Homer und wir anderen unser Verhalten ändern sollen, fordert zum einen Kommunikationsexperten heraus, zum anderen unser aller Fantasie. Denn es geht um nicht weniger als um die Frage, wie wir in 20 oder 30 Jahren leben, arbeiten und wirtschaften wollen. Wonach streben wir in der Praxis, und was halten wir theoretisch für erstrebenswert? Welchen Planeten wollen wir dereinst hinterlassen? Wie Güter, Vermögen und Chancen verteilen, innerhalb eines Landes, aber auch zwischen Staaten? Kurzum, es geht um eine Vision für unser Zusammenleben, eine Vision, die die Generation unserer Kinder und Enkel vor den Folgen unseres Konsums schützt, eine Vision, die begeistert und die uns motiviert, die Zukunft mit beiden Händen zu gestalten, statt ihr angstvoll entgegenzusehen. Genau diese Vision aber fehlt uns.
In der gerade wiederbelebten Debatte über die Grenzen des Wachstums hört man oft die Schreckensszenarien der Variante 1. Der Planet habe Fieber, erinnert uns der Umweltschützer und Friedensnobelpreisträger Al Gore; der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel wiederum bewirbt in seinem soeben erschienenem Buch Exit den Zwang zum Wirtschaftsschrumpftum; der Ökonom Karl Georg Zinn mahnt, die Wachstumsmöglichkeiten hoch entwickelter kapitalistischer Volkswirtschaften seien generell fehleingeschätzt worden. Dystopie, wo immer sich eine Tür nach vorn öffnet.
Der Nutzen der schlechten Nachrichten
Doch die schlechten Nachrichten haben auch ihr Gutes. Ohne diese Weckrufe hätte es keine sparsameren Motoren gegeben, keinen Atomausstieg und keine Förderung erneuerbarer Energien. Das Scheitern des Weltklimagipfels zeigt, dass manche dieser Schreckensszenarien sogar noch zu optimistisch sein dürften. Und die Wirtschaftskrise verdeutlicht, wie gefährlich eine aus kurzfristigem Renditestreben resultierende Fatamorgana des Wachstums für uns alle ist. Das herkömmliche Wachstumsmodell führt in die Sackgasse, das ist keine neue Einsicht. Denn dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht alleiniger Maßstab unseres Wohlergehens sein sollte (weil es etwa wächst, wenn Umweltschäden beseitigt werden, oder weil es so viele andere Dinge, die das Leben lebenswert machen, nicht misst), dass Wachstum nicht die Zukunft des Planeten gefährden darf, kurzum: dass es nicht weitergehen kann wie bisher, das ist im Prinzip seit 1972 bekannt, seit der Club of Rome vor den Folgen ungezügelten Wachstums gewarnt hat.
Noch vier Jahrzehnte später ist die Debatte an einem ähnlichen Punkt, und das liegt vor allem an der fehlenden Prominenz erstrebenswerter Visionen über das, was jenseits des bisherigen Wachstums-Ufers wartet. Nicht an der Analyse des Problems mangelt es, sondern an Fantasie für eine Lösung, die den Menschen erstrebenswert erscheint.
Dystopien allein – vor allem solche, die uns auf Minuswachstum einschwören wollen – mobilisieren schon deshalb nicht für Veränderung, weil Verzicht für viele Menschen längst zum Alltag gehört. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben in den vergangenen 10 bis 20 Jahren eine neue Unsicherheit akzeptieren müssen. Gut Ausgebildete mögen dies als Flexibilität teils noch zum eigenen Vorteil nutzen können. Viele andere haben die Entwicklung als Bedrohung erfahren.
Wer in den sechziger Jahren nach einem Volksschulabschluss bei der damaligen Bundespost eine Ausbildung zum Mechaniker anfing, besaß eine sichere Perspektive. Er würde in einer bezahlbaren Postwohnung wohnen, einen Mittelklassewagen fahren, er würde hin und wieder Restaurantmarken bekommen, um die Familie zum Griechen auszuführen. Und am wichtigsten: Er würde seinen Arbeitsplatz nicht verlieren. Inzwischen ist die Post privatisiert, sind viele Arbeitsplätze weggefallen. Die Essenmarken: tempi passati. Die Postwohnungen: in Hand von Private-Equity-Investoren, die alljährlich die Miete nach oben schrauben, ohne den Wohnwert zu erhöhen. Wer heute bei der Post anfängt, kann sich kaum darauf verlassen, dass nicht auch seine Filiale bald geschlossen wird.
Die Schrumpfkur hat es für viele also längst gegeben. Das letzte, was diese Menschen hören wollen, ist Variante 1 – ein weiteres Bedrohungsszenario, das ihnen Verzicht abfordert. Zumindest wollen sie verstehen, warum es zu der Schrumpfkur kam.
Für den Harvard-Professor Ronald Heifetz sind „adaptive Herausforderungen“ solche, die Menschen das Infragestellen ihrer Werte, ihrer Glaubenssätze, ihrer Sicherheit abverlangen. Solche Veränderungen müssen sorgsam intoniert werden. Es gibt in der Regel, so Heifetz, keine raschen Antworten. Heifetz’ Leadership-Theorie besagt, dass scheitert, wer den Druck in einem System zu stark und zu schnell erhöht. Ohne Druck geht es aber auch nicht. Es ist diese Rasierklinge, auf der jene Politiker balancieren, die sich der Frage unseres künftigen Wohlstandsmodells so annehmen, dass am Ende nicht nur Analysen und Ideen, sondern konkrete Beschlüsse stehen. Und noch eines sagt Heifetz: Dass Menschen, die sich adaptiven Herausforderungen stellen, verstehen müssen, wofür.
It’s the Wohlergehen, stupid!
Einen Schritt in diese Richtung geht die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission. Sie hat die Entwicklung eines Indikators vorgeschlagen, der das Wohlergehen der Bevölkerung misst, nicht nur ihren ökonomischen Output. Unter anderem Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Umwelt und Ergebnisse der Glücksforschung soll diese Kennzahl berücksichtigen. Die Diskussion darüber, was dieser Indikator wie gewichtet, ist weit spannender als die Entwicklung weiterer Schreckensszenarien. Jeder dieser Faktoren – Bildung, Einkommensverteilung, Gesundheit, und andere – ließe sich auf einer Skala abbilden. Ob wir den Durchschnittswert erhöhen wollen oder den Median, ob wir die unteren und die oberen Skalenwerte lieber ganz eliminieren wollen, ob wir Ungleichheit als Ansporn oder als Entmutigung empfinden – all das wird Gegenstand von Kontroversen sein. Diese dürften mindestens entlang von vier Spannungsfeldern entstehen: zwischen dem Wohlergehen einzelner Individuen, zwischen dem Wohlergehen eines Individuums und dem Wohlergehen der Gesellschaft, zwischen verschiedenen Gesellschaften sowie zwischen Gegenwart und Zukunft.
Kontroversen zwischen Individuen: Die Bedürfnisse der Menschen sind so unterschiedlich, dass es schwierig wird, eine einzige Vision nachhaltigen Wirtschaftens für alle zu entwickeln. Ein Kranker wird das Thema Gesundheit in einem Indikator anders gewichten als ein Gesunder. Ein Aluminium-Produzent wird saubere Luft anders einordnen als ein Solar-Unternehmer, ein Gutverdiener Freizeit anders als ein Geringverdiener, dem Konsumverzicht im Tausch für freie Tage kaum attraktiv erscheinen dürfte. Wie hier einen Kompromiss finden?
Kontroversen zwischen Individuum und Gesellschaft: Stellen wir uns ein Koordinatensystem vor, auf der X-Achse der individuelle Nutzen, auf der Y-Achse der gesamtgesellschaftliche. Ziel wäre dann der obere rechte Quadrant: hoher Nutzen für beide. Trittbrettfahrer – etwa Steuerhinterzieher oder Spekulanten – erzeugen für sich selbst hohen Nutzen, schaden aber der Gesellschaft. Bisweilen sind wir fast alle Trittbrettfahrer. Wer Benzin verbraucht, wer in den Urlaub fliegt, wer zu viele Whopper isst oder im Winter Erdbeeren kauft, konsumiert nicht nachhaltig und erzeugt externe Kosten. Wo aber die Grenze ziehen? Wo hört der Spaß am Leben auf, welche Opfer können wir gerade noch erbringen?
Kontroversen zwischen Gesellschaften: Dies zeigt sich etwa bei der Frage, wer die Folgen des Klimawandels bezahlt. Oder wer wie produziert. Ein Staat wie Deutschland, der beim Thema Nachhaltigkeit vorangeht, kann einen Wettbewerbsvorteil erreichen, wenn er beispielsweise neue Öko-Technologien exportiert. Er kann aber auch einen Nachteil erfahren, wenn er wie Australien durch höhere Umweltstandards die heimische Schwerindustrie schwächen würde, von der er zugleich aber stark abhängt. Auch international gibt es nämlich Trittbrettfahrer, sowohl in Schwellenländern als auch in Industrienationen. Wie stellt man sicher, nicht übervorteilt zu werden?
Kontroversen zwischen Gegenwart und Zukunft: Dieses Spannungsfeld entsteht nicht so sehr, weil innerhalb Europas Uneinigkeit über das Prinzip des nachhaltigen Wachstums bestünde. Spannungen erwachsen vielmehr aus unterschiedlichen Graden an Optimismus darüber, wie sehr technologischer Fortschritt uns erlauben wird, unseren bisherigen Lebensstil im Kern beizubehalten. Da wir die Antwort nicht exakt kennen können, lautet die Frage also, wie viel Risiko wir in die Zukunft verlagern.
Jeder wird aus dem Blickwinkel seiner Werte diese Spannungsfelder unterschiedlich auflösen wollen. Mit ihrem Bottom-up-Vorgehen fragt die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, was messbar ist, nicht was machbar oder gar wünschenswert wäre. Für Wissenschaftler ist das ein adäquates Vorgehen. Politiker sollten aber nach dem Top-down-Prinzip darüber nachdenken, welches Bild entstehen soll, bevor sie die Puzzleteile eines neuen Indikators zusammenfügen. Oder hat etwa Moses, als er sein Volk ins gelobte Land führte, erst Faktoren für die Messung dessen Wohlergehens entwickelt?
Bloss nicht irgendwie in die Zukunft schlittern
Mit seinem Deutschland-Plan für ein soziales und ökologisches Wachstum hat Frank-Walter Steinmeier eine bestimmte Vision für die Wirtschaft und Arbeit von morgen entworfen. Das Steuer-Modell der FDP bildet eine auf ganz anderen Werten basierende Vision ab. Die Union würde ihre Indikatoren des Wohlergehens anders zusammensetzen als die Grünen oder die Linkspartei. Wer immer über das Morgen nachdenkt, wird seinen eigenen Traum formulieren müssen. Nichts wäre spannender, als die Visionen der Gruppierungen und Parteien zu erfahren; nichts wäre aufregender als die anschließende Debatte, die den Wählerinnen und Wählern Unterschiede deutlicher machen würde, als es die Tagespolitik oft vermag. Und nichts wäre wichtiger, als hin und wieder den Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Visionen zu suchen. Nur so stellen wir sicher, dass wir nicht irgendwie in die Zukunft schlittern, sondern sie gemeinsam gestalten. «