Wolfgang Thierse meint es gut.
Immerhin lässt sich Wolfgang Thierse wieder auf die Vorstellung und den Begriff der Freiheit ein - freilich nicht ohne den mahnenden Hinweis darauf, was Freiheit zunächst nicht sei (nämlich Wahlfreiheit) und die Einsicht, dass "Freiheit für alle" nur durch Organisation erreicht werden könne. Wer die eigene Abneigung gegen Bernstein über die Jahre relativiert hat, dem fällt spätestens beim Zitat "organisatorischer Liberalismus" alles wieder ein.
Nun ist es tatsächlich so, dass Grundsatzprogramm und Alltagspolitik nicht dasselbe sein können. Trotzdem gehören sie zusammen. Das Ungewöhnliche am Zeitpunkt der Programmdebatte in der SPD ist doch gerade, dass wir sie in der Regierungsverantwortung führen - und nicht zu Oppositionszeiten, in denen Parteien der Theorie naturgemäß näher sind als der Praxis. "Eben das ist ja das Problem", mögen manche meinen, die sich ohnehin lieber in programmatischer Strenge als in praktischem Handeln üben.
In Wirklichkeit ist die Programmdebatte zu Regierungszeiten aber kein Problem - sondern gerade deshalb notwendig geworden, weil manche das Regieren als Problem empfinden. Denn die sozialdemokratische Programmatik ist doch gerade in der realen Verantwortung für das Handeln - also in der Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Menschen und in der häufig komplizierten Umsetzung und Kommunikation von Politik - auf eine Probe gestellt worden. Und diese Probe hat sie an einigen Punkten nicht bestanden. Es geht nicht um das Für und Wider staatlichen Handelns, nicht um "Freiheit oder Staat". Es geht vielmehr darum, was der Staat tut, wie er es tut, was die Bürgerinnen und Bürger erwarten, was sie heute nicht mehr wollen - und darum, was der Staat selbst nicht mehr kann.
Dürfen die Jüngeren sagen, was ist?
Wolfgang Thierse hat Recht, wenn er schreibt, die staatliche Verantwortung für öffentliche Güter zu regeln, sei die Kernaufgabe der Politik. Aber er irrt, wenn er meint, hier sei es nur notwendig, die staatliche Verantwortung zu verteidigen. Diese staatliche Verantwortung muss auch "beweisbar" sein: Es muss nachvollziehbar sein, dass und wieso der Staat für welche Dinge die Verantwortung trägt. Und vor allem muss diese Verantwortung auch zu spüren sein. Um das herauszufinden, bedarf es einer Fähigkeit, die Wolfgang Thierse bekanntermaßen durchaus besitzt: Es geht ums Zuhören. Was für den Programmentwurf des Netzwerks maßgeblich ist, sind die Erfahrungen einer jüngeren Generation. Natürlich ist das eine Generation, die vieles nicht selbst erkämpft hat, was unser soziales System bietet. Aber dadurch darf niemand gehindert sein zu sagen, was ist. Schließlich hängt die Stabilität unseres sozialen und unseres staatlichen Systems nicht zuletzt davon ab, welche Erfahrungen Menschen damit machen und wie es sich in unterschiedlichen Zeiten bewährt.
Der Staat findet gleich um die Ecke statt
So gesehen ist staatliches Handeln also sehr wohl mitten in der Heimat, in der Familie und am Arbeitsplatz zu finden. Eltern, die zwanzig Seiten Vorschriften und Formulare erhalten, weil sie sich eine Garage bauen wollen, aber gleichzeitig hinnehmen müssen, dass ihr Kind in der Schule auf einem wackligen Stuhl sitzt und um 11 Uhr heimgeschickt wird, erleben den Staat nicht als Organisator oder Bürgen von Freiheit. Sie erleben ihn gängelnd und überfordert. Und sie stellen zu Recht die Frage, wofür sie eigentlich ihre Steuern zahlen.
Die Sozialdemokratie kann darauf nicht nur mit einem programmatischen Wertekanon antworten. Sie muss auch in ihrem Grundsatzprogramm an diese Fragen anknüpfen, muss bereit sein, nachdenklich mit den konkreten Erfahrungen von Bürgerinnen und Bürgern umzugehen. In unserer Debatte über den Programmentwurf haben wir gemerkt, wie schwer es ist, unsere Grundwerte - sozusagen - in das Leben zu holen, sie verständlich zu machen und ihnen Gültigkeit über einen kleinen überschaubaren Zeitraum hinaus zu geben, sie also nicht dem Instrumentenkasten von Regierungspolitik allein zu überlassen. Alle, die sich daran versuchen, sollten so offen sein, auch den umgekehrten Weg zu gehen - also aus heutigen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen, Ungerechtigkeiten und Errungenschaften heraus eigene, sozialdemokratische Grundwerte zu formulieren.
Beispielhaft für die Argumentation des Grundsatzbeitrages "Akzente für ein neues SPD-Grundsatzprogramm", zu dessen Verfassern auch Wolfgang Thierse gehört, ist die Bildung. Energisch verteidigen die Autoren die staatliche Zuständigkeit für die schulische und universitäre Bildung. Dabei steht die Zuständigkeit als solche in der Sozialdemokratie gar nicht zur Debatte. Aber es muss doch möglich sein, die heutigen Anforderungen an unser Bildungssystem auch im Grundsatz zu diskutieren.
Es mag für Wolfgang Thierses Denkwelt alltägliches Klein-Klein sein, aber es ist für die Einordnung der Sozialdemokratie als politische Kraft wesentlich, dass Menschen wissen, wie wir grundsätzlich zur Frage der ganztägigen Beschulung und Betreuung von Kindern stehen, wie wir uns den Bildungszugang für ausländische Kinder und Jugendliche vorstellen und in welchem Verhältnis von Wissenschaft und wirtschaftlicher Verwertbarkeit sich universitäre Forschung und Lehre entwickeln sollen. Unser Bildungssystem erfüllt die Erwartungen nicht mehr, die daran gestellt werden. Es versagt bei der Garantie des freien Zugangs - und der gleichen Chancen. Soziale Ausgrenzung ist noch immer das Kernproblem unseres Bildungssystems.
Formelhaftes Wiederholen ist längst zu wenig
Aber für Wolfgang Thierses Argumentation kommt es noch schlimmer: Gerade in jener Generation der Sozialdemokratie, in der jetzt uns gegenüber der Alleinanspruch auf programmatische Aussagen erhoben wird, sind Fehlentwicklungen im Bildungssystem übersehen, ja sogar ignoriert worden. Dass die Kinder einkommensschwacher Familien sowie die Kinder von Migrantinnen und Migranten nur ein Viertel der Zugangschancen zum Gymnasium haben, die Kinder einkommensstarker Familien besitzen, muss Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten umtreiben. Da ist es einfach nicht mehr glaubhaft, wenn die SPD beständig formelhaft wiederholt, Bildung müsse allen zugänglich sein.
Das Konzept der Verstaatlichung wollen in Reinform auch die Verfasser der "Akzente" nicht mehr propagieren. Nun gilt aber der umgekehrte Weg für programmatische Aussagen auch: Selbstverständlich ist die Verstaatlichung von Bereichen längst nicht mehr Allheilmittel in der Sozialdemokratie. Und dass alles Nichtstaatliche nur noch individuelle Aufgabe ist, finden auch wir Netzwerker nicht. Erstaunlicherweise geraten aber gerade die selbst ernannten Chefprogrammatiker der SPD mit Begriffen wie "Gemeinwohl" und "gemeinsamer Wohlstand" in Schwierigkeiten. Verliert da am Ende die Generation der Achtundsechziger die materiellen Verhältnisse aus den Augen? Wir reden in Deutschland von beschränkten Zugangschancen zum Bildungssystem, von Familien in dritter Sozialhilfegeneration, von staatlicher Verantwortung für wirtschaftliche Rahmenbedingungen - geht es da nur um den "gemeinsamen Wohlstand"? Ist es nicht so, dass Lebenschancen bei uns ungleich und ungerecht verteilt sind? Und dass staatliche Strukturen, wo sie sich selbst überlassen werden, massiv versagen? Wer schafft Bildung für alle? Wer sorgt für eine funktionierende Arbeitsvermittlung - den Kern des Sozialstaates? Wer thematisiert die Betreuungssituation von Kindern? Wer kümmert sich um die Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt?
Programm und Alltag
Regierungspraxis, mit all ihren Unzulänglichkeiten, taugt viel mehr für das Feld der Programmatik als Wolfgang Thierse und seine Freunde glauben. Schließlich darf nicht der Verdacht aufkommen, die SPD bediene sich eines "Jargons der Eigentlichkeit" im Adorno′schen Sinne. Umgekehrt bedarf unsere Alltagspolitik einer programmatischen Einordnung. Programmatik und Alltagspolitik müssen dort zusammengeführt werden, wo Menschen leben: zu Hause, bei der Arbeit, mit anderen Menschen. Sie bedürfen einer Sprache, die Lebenssituationen aufgreift und keine Denkverbote verhängt.
Am Ende muss ein neues sozialdemokratisches Grundsatzprogramm beides zusammenbringen: das Alltägliche, die Ideen, Träume und Sorgen der Menschen und eine klare Position zu den materiellen Verhältnissen in diesem Land, zu Chancen, zu Freiheit und zu unseren, den sozialdemokratischen Standpunkten. Klar werden muss, wo wir völlig unverwechselbar sind, wo der Unterschied zu den Konservativen und deren Auffassung vom Leben liegt. Es geht nicht nur um den lauwarmen Begriff des Gemeinwohls. Es geht um die Frage, ob ein Mensch lebenslang den Platz in unserer Gesellschaft behält, an dem er oder sie geboren wurde - oder ob unsere Gesellschaft den Menschen die Chance gibt, sich ihren Platz selbst zu erobern.
Was die reinen Hände verschmähen
Wolfgang Thierses Antwort enthält Ansätze, die unruhig machen, weil sie diese Dimension vernachlässigen. Streng wacht er über die Ideengeschichte von Werten, aber fast ängstlich wehrt er Bezüge zur Realität ab. Warum kann die Finanzierbarkeit sozialer Leistungen nicht im Grundsatz Thema von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sein? Wer erwirtschaftet den Staatshaushalt? Wer zahlt Steuern und Abgaben? Für Wolfgang Thierse klingen solche Fragen zu unsolidarisch, zu individualistisch, ja sogar zu materialistisch. Um auf den "Jargon der Eigentlichkeit" von Adorno zurückzukommen: "Die reinen Hände verschmähen es, an geltenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen etwas zu ändern." Und da gilt auch das Postulat der Umverteilung nicht mehr. Denn dieses erfasst ja nur die Eigentumsverhältnisse, aber am Ende doch nicht die Herrschaftsverhältnisse. Und um deren Veränderung, nicht nur um deren philosophische Interpretation geht es doch.