Wollen wir unseren alten Kaiser wiederhaben?
Oldtimer wissen, dass es in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik eine Debatte darüber gab, ob die Verankerung der Demokratie an wirtschaftlichen Wohlstand gekoppelt sei – ob also ein Rückfall in antidemokratische Traditionen drohe, wenn die Nachkriegsverheißung jährlicher Wohlstandsmehrung entfiele. Der Test ist da: Wiedervereinigung und Wettbewerb mit den neuen Großmächten des 21. Jahrhunderts haben die Mehrheit der Deutschen in ihrer Wohlstandserwartung enttäuscht. Die gute Nachricht: Deutschlands Demokratie wirkt stabil. Die schlechte: Ein deutsches Denken ist bedroht, das in der Überwindung des faulen Zaubers des Nationalismus und des süßen Gifts des xenophoben Rausches die zweite wichtige Aufgabe der Politik in Deutschland sah.
Welche Normalisierung eigentlich?
In gebildeten Kreisen wird dieser Wandel mit dem beruhigenden Wort der Normalisierung beschrieben, womit man eine Rückkehr in den Klub der Länder meint, die angeblich „normale“ nationale Interessenvertretung betreiben. Was für ein Unfug. Erstens ist es gaga, im Zeitalter der globalen Problemstellungen flaggenschwenkende, nationalemotionale Verhaltensmuster – wie man sie etwa in Großbritannien praktiziert – zur vernünftigen, also zukunftsweisenden Norm zu erklären. Zweitens ist die Vorstellung, die Bundesrepublik habe in der Ära von Adenauer bis Kohl/Fischer darauf verzichtet, ihre Interessen in Europa durchzusetzen, derart unhistorisch und falsch, dass es den Atem verschlägt, wie solcherlei Blödsinn von Kommentatoren und Politikern beharrlich heruntergeleiert wird.
Man muss nur die Augen öffnen: Die Wettbewerbsordnung in der EU, der Machtzuwachs des EU-Parlaments, die Architektur der Währungsunion, das Tempo der Osterweiterung – all das trägt die Handschrift der deutschen Politik mehr als jeder anderen nationalen Kraft in Europa. Es ist das vermeintlich so selbstlose und wenig auftrumpfende Deutschland, das gerade wegen seiner Zurückhaltung im Stil den Ordnungsrahmen des Kontinents in Gestalt der Europäischen Union mehr als jedes andere Land geprägt hat, und zwar nicht selten gegen Murren und Widerstand der Partner. Mochte es anfangs darum gehen, die Bundesrepublik als europäischen und internationalen Akteur zu legitimieren, handelte es sich spätestens seit Helmut Schmidt um kluge Interessenpolitik, um den sensationell erfolgreichen Export deutscher Vorstellungen und Ordnungsmuster.
Wer die ersten fünf oder sechs Nachkriegsjahrzehnte jetzt als Epoche darstellt, in der sich ein Zahlmeister Deutschland fortwährend seinen europäischen Partnern unterordnete, frönt paranoidem Wahn. Wir kennen diese Paranoia aus der deutschen Geschichte: Die primitive, kurzsichtige, antieuropäische „Zahlmeister“-Propaganda von heute ist das perfekte Echo der „Platz an der Sonne“-Ideologie des zweiten Kaiser Wilhelms. Schon zeigt sich, wie „Normalisierung“ genau die Impulse freilegt, die Germanias Politik bereits vor 100 Jahren in die Irre führte: bramarbasierendes Auftrumpfen („An unserer Kanzlerin beißt sich Europa die Zähne aus“) vermischt mit provinziellen Minderwertigkeitsgefühlen – der immerwährenden Furcht des deutschen Biedermanns, von listigen Ausländern irgendwie über den Tisch gezogen zu werden.
Die Geschichte, der gefährliche Untote
Die Jugoslawien-Kriege haben unsere Generation gelehrt, dass Geschichte ein gefährlicher Untoter ist. Es gehört zu den traurigen Spezialitäten der deutschen Vergangenheit, dass es seit den Religionskriegen der Renaissance praktisch keine Epoche gibt, die für die deutsche politische Bewusstseinsbildung per saldo klar positiv zu Buche schlägt. Da war der Dreißigjährige Krieg, die deutsche Urkatastrophe ausgerechnet in dem Jahrhundert, das europäische Modernität stiftete. Dann das Duodezfürstentum des 18. Jahrhunderts: oft unzivilisierter, zuweilen orientalisch anmutender Lokaldespotismus in eleganter Architektur, verbunden mit kriecherischem Untertanengeist. Dann die nationale Aufwallung im Kampf gegen Napoleon, die schnell in die völkische Deutschtümelei eines Turnvater Jahn abdriftete. Dann die Verschmelzung des deutschen Nationalgedankens mit dem übersteigerten Militärkult des preußischen Staates, die Grundlage für die Wahnsinnspolitik des primitiven Wilhelm II. Dann die Chaos-Episode der Weimarer Republik. Dann die Katastrophe von zwölfeinhalb Jahren Hitler. Nicht vor langer Zeit, sondern gestern. Kindheits- und Jugenderinnerung von Millionen heute Lebender.
Wer auf dieses Panorama blickt und halbwegs bei Sinnen ist, wer Bach und Goethe herausnimmt und die deutsche Geschichte als Politik pur betrachtet, der muss die mit Adenauer eröffnete (und mit seinem Urenkel Fischer hoffentlich nicht abgeschlossene) Epoche als kostbares Erbe erkennen und pflegen – als historisches Wunder, fast die einzige Zeit, in der deutsche Politik in Europa staatsmännisch klug, überwiegend anständig und triumphal erfolgreich war. Nicht auf nüchterne, zuweilen auch harte Vertretung seiner Interessen hat der demokratische Teil Deutschlands in diesen angeblich anormalen Jahrzehnten verzichtet, sondern nur auf den faulen Zauber und das süße Gift nationalistischen Fahnenschwenkens.
Die von Vielen in irrer Verblendung jetzt gewünschte „Normalisierung“ des Umgangs mit dem Nationalgefühl ist nichts anderes als der bewusst herbeigeführte Bruch mit der einzig erfolgreichen Epoche der neueren deutschen Geschichte, das gezielte Freisetzen der stupidesten und zerstörerischsten Impulse der Politik. In kaum einem Land ist dieses Sehnen zurück zur vermeintlichen Normalität des Nationalzeitalters so gefährlich und abwegig wie in Deutschland. Wo sind denn unsere deutschen Modelle, wenn wir den klugen, modernen, aufklärerischen Stil unserer Nachkriegsjahrzehnte für obsolet erklären? „An unserem Kaiser (pardon: unserer Kanzlerin) beißt sich Europa die Zähne aus“: Wilhelminismus pur, reaktionäres politisches Gift, das im 21. Jahrhundert in Deutschland keinen Platz haben darf. «