Wunsch und Wirklichkeit
Im Interview mit der Frauenzeitschrift Brigitte erklärte Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), im Januar: „32 Stunden sind genug“ und „32 Stunden sind die neue Vollzeit“. Yippie! Hurra! Herzlichen Glückwunsch! Endlich ein vorwärtsweisender Vorschlag.
Nein, im Ernst: Der Gedanke ist völlig richtig. Im Zeitalter der modernen Doppelverdienerfamilie, in dem es für Männer und Frauen das Versprechen und die Erwartung der gleichberechtigten Verteilung von Aufgaben und Rollen gibt, können nicht beide Partner vollzeitbeschäftigt sein. Kinder müssen zum Sport und zur Nachhilfe gebracht werden, älter werdende Eltern brauchen Unterstützung bei ihren Arztbesuchen, Nachbarn wollen besucht und Freunde eingeladen werden. Ich könnte spielend den größten Teil des Tages nur mit dem Management meiner Familie verbringen. Wie will man da 40 Stunden in der Woche oder mehr arbeiten? Früher funktionierte die 40-Stunden-Arbeitswoche des Mannes unter der Voraussetzung, dass die (Haus)Frau die Familienarbeit übernahm. Es ist kein Wunder, dass Familien heute überfordert sind mit den Anforderungen, die auf sie einprasseln, und mit der Zeit, die an allen Ecken und Enden fehlt.
Nur: Die Verhältnisse sind nicht so. In Deutschland ist nicht die Doppelverdienerfamilie der Normalfall, sondern die Anderthalbverdienerfamilie. Arbeitszeiten sind extrem geschlechtsspezifisch verteilt. Heute arbeitet fast die Hälfte der Frauen weniger als 35 Stunden wöchentlich. Beinahe ein Viertel der Frauen ist bereits jetzt in der „neuen Vollzeit“, das verbleibende Viertel ist geringfügig beschäftigt. Dagegen liegt der Anteil der Männer, die weniger als 35 Stunden wöchentlich arbeiten, bei nur 8 Prozent. Dafür arbeiten 25 Prozent der Männer 49 Stunden und länger; bei Frauen sind überlange Arbeitszeiten deutlich seltener (7 Prozent).
Diese Arbeitszeitverteilung entspricht in Teilen den Wünschen beider Partner. Umfragen zufolge wollen mehr Frauen eine Teilzeitbeschäftigung als eine Vollzeitbeschäftigung. Und fast keine Frau möchte mehr als 40 Stunden arbeiten. Hingegen wünschen sich die meisten Männer die normale Vollzeit im Umfang von 40 Stunden. Jedoch wollen deutlich mehr Männer gern in Teilzeit arbeiten, als dies derzeit tatsächlich tun. Und weniger als 10 Prozent von ihnen möchten sehr lange Arbeitszeiten. Das zeigt: Die Wünsche beider Geschlechter gehen tatsächlich in Richtung „neue Vollzeit“. Frauen würden tendenziell gerne mehr arbeiten – und Männer eher weniger.
Wie können wir den Familien helfen, ihre Arbeitszeitwünsche zu verwirklichen? Eine offensichtliche Antwort lautet, die Subventionierung der geringfügigen Beschäftigung abzuschaffen. Zu viele Frauen landen in der 450-Euro-Falle und kommen aus ihr nicht wieder heraus. Die jüngste Anhebung der Einkommensgrenze bei den Minijobs weist eindeutig in die falsche Richtung.
Eine weitere Antwort betrifft die Betriebe. Nur langsam setzt sich in den Unternehmen die Einsicht durch, dass überlange Arbeitszeiten für moderne Familien große Probleme verursachen. Als ich vor zehn Jahren an eine Universität in einer anderen Stadt berufen wurde, bat mein Mann seinen Arbeitgeber um eine Vier-Tage-Woche, um mehr Zeit mit unserem Sohn verbringen zu können. Damals arbeitete er regelmäßig bis nach 19 Uhr. Die Reaktionen reichten vom ungläubigen Staunen darüber, dass er seine Karriere so leichtfertig aufs Spiel setzen wollte, bis zu ernsten Zweifeln an seiner Arbeitsmotivation. Sein Anliegen wurde selbstredend abgelehnt. Dass die Entscheidung heute anders ausfallen würde, wage ich zu bezweifeln. Aber in der Wissenschaft hat der Kulturwandel jetzt stattgefunden. Zumindest am WZB, wo sich die 32 Stunden-Woche für alle durchgesetzt hat. Oder etwa nicht?