Wut Macht Politik

Der Aufstand der "Empörten" hat die spanische Politik schon jetzt verändert - doch die Protestbewegung ist über ihr Ziel hinausgeschossen

„¡Democracia Real Ya!“ – „Wirkliche Demokratie jetzt!“ Unter diesem Slogan versammelte sich die spanische Jugend in den vergangenen Wochen zu Tausenden auf den Plätzen im ganzen Land. Die junge Protestbewegung muss aber erst noch zeigen, ob sie in der Lage ist, ihre augenblickliche Empörung langfristig in praktische Politik zu verwandeln. Die herbe Schlappe der sozialdemokratischen PSOE von Premierminister José Luis Rodríguez Zapatero bei den vergangenen Regionalwahlen – von den Protestierenden als Triumph gefeiert – könnte sich dabei noch als Pyrrhussieg erweisen.

Dennoch: Naiv muten die Proteste in den großen spanischen Städten nur auf den ersten Blick an. Die Jugend rebelliert gegen die Politik, die in ihren Augen einen gewichtigen Anteil an der hohen Jugendarbeitslosigkeit hat. Ihre Gegner sind die politischen Parteien, ganz gleich welcher Couleur. Und das aus nachvollziehbaren Gründen: Nicht erst seit der weltweiten Finanzkrise herrscht in Spanien eine enorme Jugendarbeitslosigkeit, zuletzt lag sie mit 43 Prozent knapp fünfmal höher als in Deutschland. Hinzu kommt ein extremer Mangel an bezahlbarem Wohnraum, ein Umstand, der viele junge Menschen dazu zwingt, weiter bei ihren Eltern zu wohnen.

Aber auch andere Themen haben in den vergangenen Jahren den Zorn der Menschen genährt. Besonders der Fall des populären Untersuchungsrichters Baltasar Garzón, der die konservativen Eliten mit immer neuen Prozessen um  Korruption und Verstrickungen mit dem franquistischen Regime in Aufregung versetzte, trug dazu bei. Dass er – offensichtlich politisch motiviert – kalt gestellt wurde, ist zum Symbol eines auf  Nepotismus fußenden politischen Systems geworden. Als dann die Aufstände in den nordafrikanischen Staaten bewiesen, dass eine große Masse von Unzufriedenen Veränderungen bewirken kann, sprang der Funke auf Spaniens Jugend über. Nicht zufällig ähneln sich die Bilder von den besetzten Plätzen in Kairo und Tunis, Madrid und Barcelona.

Die Form und Intensität der Proteste sind für Spanien ein Novum. Nie zuvor hatte das Königreich, das erst 1976 nach Francos Tod den Übergang in die Demokratie vollzog, mit einem so gut organisierten Volkszorn zu tun. Die Bewegung bereitet sowohl den Kommentatoren in den Medien, also auch den politischen Planern in den Parteizentralen Kopfzerbrechen.

Die Gruppe der Protestierenden ist äußerst heterogen, was ihren sozialen Hintergrund und ihr Auftreten betrifft, und sie ist in ihrer Ablehnung des Zwei-Parteien-Systems und der politischen Klasse weder genuin links noch rechts zu verorten. Was sie eint, ist die gemeinsame Empörung über die herrschenden Zustände – sie nennen sich selbst „indignados“: „die Empörten“. Zu ihrem Forderungskatalog zählt eine Reform des Wahlgesetzes, ein entschiedener Kampf gegen Korruption und ein unabhängiges Justizsystem, frei von politischen Einflüssen. Die „Empörten“ haben also keine (partei-) politische Präferenz, sondern ihre Kritik an den herrschenden Umständen ist fundamental.

Profitieren am Ende vor allem Spaniens Konservative?

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die jugendlichen Protestierer mit ihrer Kritik an Regierung und Parteien, mit ihrer Forderung nach Mitbestimmung und direkter Demokratie genau jenen politischen Kräften in die Hände spielen, mit denen ein solcher politischer Wandel kaum denkbar ist. Die krachende Wahlniederlage der sozialdemokratischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) von Premierminister  Zapatero bei den Regional- und Kommunalwahlen Ende Mai 2011 ging auch in ehemals sozialistischen Hochburgen mit Siegen der konservativen Partido Popular (PP) einher. Diese ist unter ihrem Vorsitzenden Mariano Rajoy wahrlich kein Hort des gesellschaftlichen und politischen Fortschritts. Beispielsweise distanziert sie sich bis heute nicht offen und deutlich von der franquistischen Diktatur.

Unter der Ägide einer von der PP geführten Regierung dürften viele der gesellschaftlichen Reformen, die Zapatero angestoßen hat, wieder zurückgenommen werden: die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, das reformierte Scheidungsrecht oder eben Maßnahmen zur Aufarbeitung der Franco-Diktatur. Diese Reformen müssten bei den meisten „Empörten“ eigentlich auf Zustimmung getroffen sein, immerhin haben die Sozialisten nie die Auseinandersetzung mit den verkrusteten, katholischen-konservativen, teils post-faschistischen Strukturen in Spanien gescheut.

Die Protestierenden brauchen potente Bündnispartner

Offensichtlich zählen die gesellschafts- und sozialpolitischen Errungenschaften der PSOE sowie ihr immer noch vorhandener Modernisierungsimpetus in Zeiten einer drohenden Staatspleite nicht mehr. Das ist ein Fehler. Mit ihrem Frontalangriff gegen Regierung und Parteien ist die junge Protestbewegung über ihr Ziel hinausgeschossen. In Spanien existiert außer den (noch) regierenden Sozialisten keine politische Kraft, mit der auch nur ein Bruchteil der erhobenen Forderungen zu verwirklichen wäre. Zu zerstritten und organisationsschwach sind die vereinigten linken Parteien, zu konservativ und statusfixiert die PP.

Anstatt den Aufstand gegen das gesamte (Parteien-)System zu proben, wären die Protestierenden gut beraten, sich potente Bündnispartner zu suchen. Gerade die PSOE hat unter ihrem Generalsekretär Zapatero in der vergangenen Dekade einen bemerkenswerten Wandlungsprozess von einer behäbigen Staatspartei hin zu einer vergleichsweise offenen und flexiblen Sammlungsbewegung vollzogen, mit enger personeller Bindung zu den mächtigen Gewerkschaften. Ein Engagement innerhalb dieser bestehenden Strukturen, um über diesen Transmissionsriemen die eigenen Forderungen in konkrete Politik zu verwandeln, erscheint allemal aussichtsreicher, als aus der bestehenden Empörung eine eigene Partei zu formen, wie einige Aktivisten es vorhaben.

Die Empörung mag zur kurzfristigen Mobilisierung taugen. Ob der Atem der „Indignados“ aber lang genug ist, um ihre politischen Forderungen tatsächlich mittels einer eigenen Parteiorganisation in die zähen parlamentarischen Auseinandersetzungen hineinzutragen, bleibt angesichts des emotionalen Charakters der Proteste fraglich. «

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