Das Verharren der Befreiten nach dem Ende der Sklaverei
Das Café Solvey besticht durch skandinavischen Charme. Bilder von Vögeln, Landschaften und Blumen zieren die Wände, die im zarten Fender-Stratocaster-Mint gehalten sind. Das Modell eines Segelschiffs rundet die Szenerie ab. Ein Elektrokamin spendet an kalten Junitagen Behaglichkeit. In den zwei kleinen Räumen finden rund 15 Personen Platz, draußen, mit Blick auf die Elisabethkirche, noch einmal genauso viele. Schnell wird dem Besucher klar, dass er in einem richtigen Café gelandet ist: In der Glasvitrine stapeln sich Eier und Backutensilien – und natürlich Kuchen.
Kuchen ist das Kerngeschäft. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich laut Besitzerin Solvey Drees der Käse-Himbeer-, der Mohn- und der Schokokuchen, das Stück für 2,80 Euro. Für Ossis wie sie selbst habe sie auch den Sächsischen Zimtkuchen im Angebot. Immer wieder gibt es im Café Solvey Themenwochen, gerade etwa die britische Woche zum Thronjubiläum der Queen. Dann wird die Kuchenauswahl um Thementypisches erweitert. Das Angebot ergänzt ein täglich wechselndes Mittagsgericht, das sich die Inhaberin jeden Morgen spontan einfallen lässt. Heute gibt es eine Fenchel-Spargelquiche mit Salat für 5,50 Euro. Als herzhafte Alternative sind belegte Roggenschnitten und Brezeln im Angebot.
Mir gegenüber sitzt Tim Renner, Geschäftsführer des Labels Motor Entertainment und ehemaliger Geschäftsführer von Universal Music Deutschland. Der 48-Jährige entscheidet sich für die gewagte Kombination aus Spargelquiche und Cappuccino. Solvey Drees kennt er schon lange, auch wenn sich beide zwischenzeitlich aus den Augen verloren. Per Zufall trafen sie sich wieder, als Drees ihr erstes Café nur wenige Meter entfernt von Renners Firma aufmachte. An ihrem Laden schätzt Renner die Leidenschaft und die große Liebe, welche die Besitzerin dort hineinstecke. Das färbe ja auch auf die Kunden ab. Im Café Solvey sei es wie in der Kreativwirtschaft: „Man kauft das Environment mit.“
Beim Stichwort Kreativwirtschaft ist Renner schlagartig in seinem Element. „Das Café ist beispielhaft dafür, warum Berlin für die Kreativwirtschaft so ideal ist“, sagt er. „In dieser Stadt ist der Raum für kreative Projekte eben noch bezahlbar.“ Aufgabe der Politik sei es, genau dies auch in Zukunft sicherzustellen. Renner beginnt förmlich zu agitieren: Greife die Politik nicht ein, drohten Verdrängung und Verödung. „Man muss sich nur mal die Hamburger Innenstadt anschauen. Es gibt Bereiche, da kann Wirtschaft sich halt nicht selbst optimieren.“ Und weiter: „Wirtschaftliches Handeln wird nach wie vor vom Finanzmarkt und seinen Logiken geprägt.“
Solvey Drees bringt die Quiches und platziert sie auf dem kleinen, etwas wackeligen Tisch. Die Konsistenz ist gut, der Boden nicht zu dick, und der Salat wird optisch durch ein paar Erdbeeren aufgewertet. Ich frage Tim Renner, ob solche Überlegungen auch der Grund gewesen sind, dem Großunternehmen Universal Music 2004 den Rücken zu kehren? „Wir hatten damals den Anspruch, die Musikwirtschaft neu zu denken“, sagt Renner. „In gewisser Weise war Motor Entertainment so etwas wie ein viel zu spät begonnenes ‚Jugend forscht‘.“
In den vergangenen Jahren sei das Motor-Credo von „alternativer Musikpropaganda“ immer besser aufgegangen. „Ein bisschen ist die Situation der heutigen Musiker vergleichbar mit der Zeit nach der Sklavenbefreiung in den USA.“ Auch damals seien viele ehemalige Sklaven direkt in prekäre abhängige Beschäftigung übergegangen. Die Künstler von heute müssten erst lernen, dass es neue Möglichkeiten der Vermarktung jenseits der großen Labels gebe. Ganz viele von ihnen würden in den alten Systemen verharren, aber gerade bei den Jüngeren gebe es viel Bewegung. Der deutsche Markt sei im internationalen Vergleich ganz speziell. Hier würde man sich noch damit rühmen, mit einem Tonträgeranteil von 83 Prozent bei den Musikverkäufen weltweit zu führen. Für Renner ist das ein Negativrekord: „Was neue Formen von Absatzmärkten angeht, ist Deutschland vollkommen unterentwickelt. Das Beharren auf dem bewährten System lässt keine Dynamik zu.“
Dies zu ändern sei aber in erster Linie Aufgabe des Marktes und nicht der Politik, meint Renner, während er den Schaum aus seiner Cappuccino-Tasse löffelt. Er wirkt dabei sehr zuversichtlich. Dann macht er einen weiteren Gegner aus: die deutsche Gründlichkeit. In keinem anderen Land der Welt gebe es ein so hochgradig ausdifferenziertes Chart- und Verwertungssystem. „Die GEMA macht das ja nicht aus Bosheit“, räumt er ein. Es sei aber nun mal ein unglaublich dichtes Geflecht, das innovative Ansätze häufig bereits im Keim ersticke.
Aber Renner ist Optimist. Einer, wie er selbst sagt, der sich über Neues freut – vor allem dann, „wenn sich eine Regel als obsolet darstellt“. Mit seinem eigenen Radiosender MotorFM hatte er sich auf den hart umkämpften Berliner Rundfunkmarkt begeben – auf UKW und analog. Nach seinem einstweiligen Ausstieg aus der analogen Radiowelt soll der Hörfunk, wenn es nach Renner geht, getreu dem Motto „digital ist besser“ im Internet wieder auferstehen. Denn die Leute wollten „einfach etwas anstellen, was dann läuft“, aber gleichzeitig die Möglichkeit haben, das Programm nach eigenem Gusto zu beeinflussen. Darin liege viel Potenzial. Manchmal, sagt Renner, müsse ihn seine Frau bei allem Veränderungsdrang bremsen, denn so wichtig diese Eigenschaft für einen Akteur in der Kreativwirtschaft auch sei, so gefährlich könne sie gelegentlich werden. Da brauche man schlicht einen regulierenden Gegenpart.
Dann muss Renner los. Nach Mannheim, zur Pop-Akademie, um dort über Marius Müller-Westernhagens autobiografischen Film „Zwischen den Zeiten“ zu sprechen. Westernhagens Aufnahmen seien eine tolle Möglichkeit, seinen Studenten die Karrierewege von Künstlern nahezubringen. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Pop-Akademie ist Renner seit 2009 Professor an der kurpfälzischen Hochschule für Popularmusik und Musikwirtschaft.
Mittels iPhone und passender App versucht Tim Renner, sich ein Taxi zum Flughafen zu ordern. Das führt zu wildem Herumgedrücke auf dem kleinen Touch-Screen. Als die Bestellung schließlich gelungen ist, ruft Renner beim Taxi-Unternehmen noch einmal an – „sicherheitshalber“.