Zeit für den Big Push?
„Unsere Generation kann sich entscheiden, diese extreme Armut zu beenden“, verspricht Jeffrey Sachs, Professor für Entwicklungsökonomie und Leiter des renommierten Earth Institute an der Columbia University in New York. Sachs ist ein Tausendsassa, Direktor des Millennium-Projekts der UN, hat Regierungen in aller Welt beraten – und war für so ziemlich jede internationale Organisation schon einmal in politischer Mission unterwegs. 2005 hat er seine Ansätze zusammengeschrieben: Das Ende der Armut legt die Messlatte hoch. Denn obwohl das Buch „nichts prophezeien will“, verspricht es irgendwie doch etwas. Nämlich, dass globale Armut und Leid mit einer überschaubaren Summe Entwicklungsgelder aus den Industrienationen besiegt werden können. Das Ende der Armut – durch den Big Push der westlichen Welt.
Wie kommt Sachs zu derart kühnen Thesen? Zunächst einmal war 2005 das Feld für große Taten bestellt – auch wenn Sachs die entscheidende moralische Unterstützung erst auf tragische Weise erhielt. Vor allem im Windschatten des verheerenden Tsunami wurde 2005 zum Jahr der Entwicklungspolitik. Die Popularität, in der sich die sonst so mauerblümchenartig vor sich hin arbeitende internationale Kooperation bewegte, reichte endlich auch bis in den Haushalt von Otto Normalverbraucher. Entwicklungspolitik, der Wille zum Helfen und Retten wurde zum gesellschaftlichen Mainstream, in Deutschland mit Herbert Grönemeyer, Claudia Schiffer und vielen anderen Bekanntheiten an der Spitze der Bewegung.
Große Ziele, dürftige Ergebnisse
Vor allem aber wurde 2005 zu einem Jahr, in dem Entwicklungspolitik politisch wichtig wurde. Bei der G8-Konferenz im britischen Gleneagles stand nicht zufällig Afrika ganz oben auf der Agenda. Tony Blair wollte sein durch den Irak-Krieg ramponiertes Image mit viel Herz für Afrika aufbessern. 2005 war auch das Jahr, in dem die ehrgeizige New Yorker Millenniumserklärung das erste Mal auf den Prüfstand gestellt werden sollte und den 189 Regierungschefs, die sie einst unterzeichnet hatten, der Spiegel der (Un-)taten vorgehalten wurde. Zu acht Zielen hatten sie sich verpflichtet. Eines stand vorneweg: Die weltweite Armut solle bis 2015 halbiert werden – und dies nicht nur im globalen Durchschnitt, sondern für jedes einzelne Land.
Bei all der politischen Brisanz, die der mittlerweile zur Lawine mutierte Schneeball Millenniumserklärung mit sich brachte, war unter den erwartet dürftigen Zwischenergebnissen der Entwicklungsziele bereits ein Sicherheitsnetz gespannt. Afrika würde die Ziele unter den aktuellen Rahmenbedingungen niemals erreichen können, das war klar. Die unzureichenden Ergebnisse galt es anzupacken – und der Mann für die visionäre Strategie wurde eben jener Professor von der Columbia University: Jeffrey Sachs.
Sachs’ Strategie orientiert sich vor allem an einem: der Erhöhung der öffentlichen Entwicklungsgelder. Eigentlich sollten es in jedem Geberland 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sein – ein Zielwert, auf den sich die Industriestaaten bereits 1970 verständigten. Tatsächlich erreicht 35 Jahre und etliche Absichtserklärungen später immer noch kaum ein Staat diese Quote. Deutschland lag 2005 bei 0,36 Prozent – knapp über dem OECD-Durchschnitt von 0,33 Prozent. Nur die Skandinavier, Luxemburg und die Niederlande befinden sich über dem Richtwert.
Grund genug für Sachs, genau diese Marke ins Visier zu nehmen und die reichen Länder an ihre Verpflichtung zu erinnern. Würden wir Reichen erst einmal die Zusage der 0,7 Prozent Entwicklungshilfemittel erfüllen, so seine Theorie, dann wäre man auch im Stande, die Millenniumsziele für Afrika zu erfüllen – und noch mehr: Sachs prognostiziert bei einer entsprechenden Erhöhung der öffentlichen Mittel die vollständige Eliminierung der extremen Armut bis 2025. Nach den Vorstellungen des Ökonomen kann die Erhöhung wie eine Anschubfinanzierung für die armen Länder wirken.
Um diesen Effekt zu erreichen, stellt sich Sachs ein ganzes Bündel von Interventionen vor – in Böden, Maschinen und soziale Sektoren, in Verkehrsnetze, Rechtssysteme und Technologie. Kritik an diesem „übertriebenen Interventionismus“ weist er zurück. Eine zeitliche Streckung der Interventionen ergebe in Anbetracht der bestehenden Probleme keinen Sinn: „Sollen wir vielleicht lieber bis 2010 in Impfstoffe investieren, in die AIDS-Bekämpfung in der nächsten Dekade, in den 2020er Jahren in Malariakontrolle, in den 2030ern in sauberes Trinkwasser und irgendwann ab 2040 in die Produktion von Nahrungsmitteln?“
Pro Person und Jahr, so rechnet Sachs es vor, braucht man 110 Dollar. Geld, mit dem eine ordentliche Gesundheitsversorgung auf die Beine gestellt wird, die Schulbildung sich verbessert und in erreichbarer Nähe sauberes Wasser verfügbar sein kann. Geld, von dem man auch leicht die notwendigen 12 Cent pro Kind zur Verfügung stellen kann, um diesen die lebensnotwendigen Malariamedikamente kaufen zu können. Dann sei die gesellschaftliche Grundlage geschaffen, damit die Wirtschaft zu wachsen anfangen könne. Oder wie Sachs plakativ formuliert: „Dann erreichen die Menschen in den armen Ländern die unterste Stufe der Treppe und können von selber weiterklettern.“ Die Armutsfalle wäre durchbrochen.
Warum kein Moskitonetz für jede Familie?
Nicht jeden überzeugt die Sachs’sche Theorie. „Wieso nur wird die Debatte um wirtschaftliche Entwicklung von ineffektiven, wirklichkeitsfremden Plänen beherrscht?“ fragt William Easterly. Auch er ist Wirtschaftsprofessor, auch er aus New York. Easterly leitet das Development Research Institute an der New York University und ist zugleich der intellektuelle Gegenspieler von Jeffrey Sachs. Man kennt sich, man respektiert sich – und man streitet miteinander. Easterlys Buch Wir retten die Welt zu Tode ist aber mehr als nur eine Reaktion auf die mutigen Thesen seines Kontrahenten. Es ist eine Abrechnung mit all den vielen großen Plänen, die er in den Jahren seiner Entwicklungsforschung und Tätigkeit bei internationalen Organisationen hat scheitern sehen.
Easterlys Zahlen erdrücken den hilfsbereiten Leser mit voller Wucht. Auf 2,3 Billionen Dollar summierten sich die Entwicklungshilfegelder der Industriestaaten in den vergangenen fünf Jahrzehnten. Nur: „Wir haben es trotzdem nicht geschafft, den Kindern in den armen Ländern die 12 Cent teuren Medikamente zukommen zu lassen, welche die Hälfte aller malariabedingten Todesfälle verhindern könnten.“ Es lassen sich problemlos weitere Beispiele finden. Trotz all der Mittel wurde es nicht geschafft, jede Familie mit einem nur vier Dollar teuren Moskitonetz zu versorgen. Trotz des vielen Geldes hat man nicht jeder jungen Mutter die notwendigen drei Dollar gegeben, um den Tod von fünf Millionen Kindern zu verhindern. Und trotzdem gibt es Schulen und Trinkwasser noch lange nicht überall in Afrika.
Warum ist das so? Warum haben angesichts der doch immerhin 30 Dollar Entwicklungshilfe pro Kopf und Jahr, die aktuell als Hilfsgelder für Afrika eingesetzt werden, nicht wenigstens ein paar Länder den Sprung geschafft und eine signifikante Verbesserung der Lebensumstände erreicht? Easterly sieht die Probleme im Ansatz der Entwicklungshilfe. Die Großbürokratie „Internationale Entwicklungszusammenarbeit“ plant ihre Interventionen zentral, ohne wirkliche Kenntnisse der Situationen am Ort. Wer wiederum die Kenntnisse am Ort selbst hat und dort in den Projekten arbeitet, kann nur an kleinen Stellschrauben drehen. Die „Planer“, so Easterly, sind zu weit entfernt von den „Suchern“ am Ort.
Hauptsache, die Mittel „fließen ab“
Easterly zufolge krankt die Entwicklungszusammenarbeit daran, dass sie niemandem rechenschaftspflichtig ist. „Wird der britische Finanzminister Gordon Brown etwa zur Rechenschaft gezogen, wenn die neue Hilfswelle den Kindern in den Entwicklungsländern wieder nicht die nötigen Medikamente für die Malariabehandlung beschert?“ Haben die Bürger in den Geberländern die Möglichkeit, sich über erfolglose Projekte zu beschweren? Die Realität zeigt: Die Bemühungen und Ergebnisse der internationalen Hilfsorganisationen in Entwicklungsländern sind nahezu unsichtbar. Wer weiß denn schon, was die Weltgesundheitsorganisation – von der Bundesregierung mitfinanziert – in Afrika für Gesundheitsprojekte unterstützt? Auch beim Blick auf die deutschen Entwicklungsorganisationen wird das Ergebnis kaum anders ausfallen. Dies ist nur teilweise die Schuld der Organisationen selbst. Erst eine kritische Öffentlichkeit schafft Transparenz. Die meisten Menschen interessieren sich aber nun einmal nicht dafür, welche Ansätze zur Dezentralisierung der Provinzverwaltung in einem kenianischen Dorf ausprobiert werden.
Das nächste Problem ist die Zusammenarbeit mit korrupten Regierungen. Easterly benennt das Dilemma: „Natürlich wollen die Hilfsorganisationen nicht den Reichen helfen, sondern den Armen. Es ist jedoch Tatsache, dass Hilfsgelder vor allem an Regierungen gezahlt werden.“ Sind die Länder schlecht regiert und gibt es hohe Korruptionsraten, fließt das Geld zunächst durch die Hände von oftmals korrupten Beamten – mit ungewissem Ziel. Eine Gegentendenz ist nicht auszumachen: In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wird als neuer Trend weltweit die direkte Finanzierung in die Budgets der Entwicklungsländer gefördert – und oftmals scheint dies im Vergleich zu kleineren Projekten sogar der einzige Weg, auf dem größere Summen reibungslos in die Entwicklungsländer „abfließen“ können.
Vortänzer der Geht-nicht-Ökonomie?
Nun ist es nicht so, dass Easterly die weltweiten Entwicklungstransfers am liebsten ganz abschaffen möchte. Was ihn stört, sind die großen medienwirksamen Pläne mit ungewissem Ausgang. „Verabschieden wir uns doch endlich von der Vision, Gesellschaften verändern zu wollen!“ Als konkrete Interventionsideen hören sich Easterlys Lösungsvorschläge allerdings gar nicht mehr so anders an als die von Jeffrey Sachs. Impfstoffe, Saatgut, Wasserleitungen, Schulbücher, Krankenschwestern – die wesentlichen Dinge müssen bereitgestellt werden. Am besten sollten sie aber direkt an die Bedürftigen geliefert werden und nicht über die oft undurchsichtigen Regierungsapparate in den Entwicklungsländern. Um die Rechenschaftspflicht zu erhöhen, empfiehlt Easterly zudem, dass Hilfsorganisationen einen Teil ihres Etats für eine internationale, unabhängige Evaluierungsgruppe zur Verfügung stellen, die stichprobenartig Projekte bewertet.
Direkt nach der Publikation der beiden Bücher haben sich die beiden verdienten Ökonomen in der Washington Post einen regelrechten Hahnenkampf geliefert. Da kritisierte zunächst Easterly Sachs’ Vorschläge als „nicht überzeugend“. Daraufhin konterte Sachs, Easterly sei ein „Vortänzer der Geht-nicht-Ökonomie“. Easterly seinerseits befand, es sei „eine Schande“, dass Sachs persönliche Attacken der intellektuellen Debatte vorziehe. Selten haben zwei Wissenschaftler so divenhaft um die Meinungsführerschaft in einem ethisch so sensiblen Thema gekämpft.
Wer hat nun Recht? Und wer hat die Moral auf seiner Seite? Wahrscheinlich sollte man mit einer einfachen Antwort vorsichtiger sein als es die beiden Wissenschaftler selbst sind. Sachs’ Programm ist lesenswert – sogar wenn man ihn einen Utopisten nennen will. Vielleicht braucht die Welt gerade jetzt einen Utopisten wie ihn für die große Herausforderung Armut. Sachs tut gut daran, den Kosten seines Programms immer wieder die Kosten des Irak-Krieges gegenüber zu stellen: ein Vielfaches ist es Jahr für Jahr. Und auch die 1,6 Milliarden Euro, die sein Plan die deutschen Steuerzahler kosten würde, nehmen sich übersichtlich aus angesichts der versprochenen bahnbrechenden Wirkungen.
Dieselben Ideen wie vor 50 Jahren
Aber würden diese Wirkungen tatsächlich eintreten? Wo Sachs die Rolle des Utopisten einnimmt, bleibt Easterly skeptisch. In der Vision vom Big Push steckt für ihn zugleich das Risiko des Planes: „Wenn die großen Strategien scheitern, werden die Menschen in den Industriestaaten noch desillusionierter sein, was Entwicklungshilfe angeht. Es fehlen von vornherein tragfähige Konzepte, um Hoffnung auf Erfolg zu haben.“ Auch andere Kritiker sehen sich zurückversetzt in die Anfänge der Kooperation mit den Entwicklungsländern. Für sie achtet Sachs erstaunlich wenig auf die Lehren der Vergangenheit. Man erkennt, wie sehr Easterly an den Kernideen seines New Yorker Konkurrenten zweifelt. Der Big Push als Antwort auf die Armutsfalle: So argumentierte man doch schon einmal. „Wann wird man sich hier endlich einmal bewusst, dass die Ideen exakt denen von vor 50 Jahren gleichen?“ fragt Easterly. Man hört förmlich sein Seufzen. Und die Armut bleibt unbesiegt.
Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut: Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, München: Siedler Verlag 2005, 480 Seiten, 24,90 Euro
William Easterly, Wir retten die Welt zu Tode: Für ein professionelleres Management im Kampf gegen die Armut, Frankfurt: Campus Verlag 2006, 388 Seiten, 24,90 Euro