Zuerst die Farce, jetzt die Tragödie
In ganz Europa läuft ein Prozess ab, der womöglich eine historische Zäsur signalisiert. Wir könnten Zeugen vom Ende einer mehrheitsfähigen Sozialdemokratie werden. Wohin man schaut – von Schweden bis Spanien, von Deutschland über Holland bis Großbritannien – überall bietet sich das gleiche, ziemlich trostlose Bild. Sozialdemokratische Parteien, einst fähig, aus eigener Kraft Mehrheiten zu gewinnen und Regierungen zu bilden, befinden sich in einer höchst unerfreulichen Situation. Die Wähler laufen ihnen davon, und das in alle Richtungen.
Ein Teil der ehemaligen Anhänger entscheidet sich für linke Populisten, gleich wie utopisch und illusionär ihre Parolen sind. Daran hat der Linksschwenk, den die meisten sozialdemokratischen Parteien Europas in der vergangenen Dekade vollzogen haben, nichts zu ändern vermocht. Eher könnte das Gegenteil der Fall sein. Andere vormals sozialdemokratische Wähler entscheiden sich für Christdemokraten und Konservative oder wählen rechtspopulistische Parteien. Die dürftigen Resultate von Labour, SPD, griechischer Pasok, spanischen Sozialisten und schwedischen Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren liefern dafür genügend Anschauungsunterricht.
Ein Lehrstück des Niedergangs
Die Folge: Mehr und mehr sind gestandene sozialdemokratische Parteien zum undankbaren Oppositionsdasein verdammt und müssen mit Parteien wie Podemos oder Syriza um Wähler konkurrieren, mit radikalen Grünen oder in der Wolle gefärbten Marxisten, deren Protestparolen zündender daherkommen als die abwägende Haltung klassischer Sozialdemokraten, die um die Notwendigkeit von Kompromissen und die Grenzen des Machbaren wissen. Dadurch sind die Machtoptionen reduziert. Es bleiben Koalitionen mit „bürgerlichen“ Parteien wie der Union oder mit einem Bündel von teilweise schwierigen Partnern links der klassischen Sozialdemokratie. Oft schlüpfen Sozialdemokraten in die undankbare Rolle des Juniorpartners, dessen Leistungen der Wähler generell wenig honoriert.
Optimisten sagen, dass sich diese Situation schon bald als lediglich vorübergehende konjunkturelle Eintrübung erweisen wird, der zwangsläufig eine Phase der sozialdemokratischen Erholung folgt. Doch spricht angesichts der demografischen und technologisch-wirtschaftlichen Veränderungen in den postindustriellen Gesellschaften des Westens wenig für die optimistische Variante. Wahrscheinlicher ist, dass das „Zeitalter vom Ende der Sozialdemokratie“ begonnen hat, wie Ralf Dahrendorf es schon in den achtziger Jahren heraufziehen sah.
In Großbritannien haben sich historische Prozesse generell früher vollzogen als anderswo. Und derzeit wird auf der Insel ein ebenso trauriges wie anschauliches Stück sozialdemokratischen Niedergangs dargeboten. Es passt darauf die Bemerkung von Karl Marx, Geschichte wiederhole sich erst als Tragödie, dann als Farce. Nur lässt sich darüber streiten, ob Labour nicht zuerst die Farce erlebte – und jetzt die Tragödie.
Dem Tod von der Schippe gesprungen
In den frühen achtziger Jahren stand die Labour Party zweifellos gefährlich nahe am Abgrund. Nach der ersten Niederlage gegen die von Margaret Thatcher geführten Tories im Jahr 1979 übernahm die harte Linke die Macht, ein Sammelsurium von Leninisten, Trotzkisten und Sozialisten. Labour rückte scharf nach links. Unter Michael Foot schlug die Partei den Kurs einseitiger atomarer Abrüstung ein, inmitten des Kalten Krieges wollte man die eigene atomare Abschreckungsmacht, die U-Boot-gestützten Tridentraketen, einseitig aufgeben. Die EG galt der Mehrheit der Partei als kapitalistisches Projekt; sie wurde auch deshalb scharf abgelehnt, weil die harte Linke um den wortgewaltigen Tony Benn vom „Sozialismus in einem Land“ träumte. Die Wirtschaft des Landes sollte, allen abschreckenden Erfahrungen zum Trotz, noch stärker staatlich gelenkt werden als dies sowieso schon der Fall war. Der kürzlich verstorbene Denis Healey, Labours Finanzminister in den Siebzigern, nannte das Wahlprogramm von 1983 folgerichtig „der längste Selbstmord-Abschiedsbrief der Geschichte“. Healey hatte 1977 mit scharfen Ausgabenkürzungen und Sparmaßnahmen begonnen, die Margaret Thatchers Regierungen später fortsetzten. Andernfalls hätte der IWF Großbritannien nicht mithilfe gewaltiger Kredite vor dem Staatsbankrott gerettet.
Die Machtübernahme der harten Linke führte damals zur Spaltung der Partei. Gemäßigte Politiker sahen keine Zukunft mehr bei Labour. Roy Jenkins, Shirley Williams und David Owen gründeten die SDP. Im Wahlbündnis mit den Liberalen erzielte die SDP zunächst dramatische Erfolge bei Nachwahlen und zog bei den Unterhauswahlen 1983 beinahe mit der stark geschrumpften Labour Party gleich. Doch das Mehrheitswahlrecht rettete Labour. Die sozialliberale Konkurrenz erzielte 25 Prozent der Stimmen, aber nur wenige Mandate, und fiel schließlich auseinander.
Gleichzeitig hatten entschlossene Reformer um Neil Kinnock begonnen, ihre Partei zu retten und aus der linken Sackgasse herauszuführen. Dieses Werk setzten später John Smith, Tony Blair und Gordon Brown fort, die Labour wieder wählbar und mehrheitsfähig machten. Dieser Kurs verlangte harte innerparteiliche Auseinandersetzungen, allen voran mit „Militant“, einer trotzkistischen Gruppierung, die – inspiriert von Antonio Gramscis „langem Marsch durch die Institutionen“ – die Labour Party zielstrebig unterwanderte. Neil Kinnock bereitete dem Spuk Ende der achtziger Jahre ein Ende und überzeugte die Delegierten seiner Partei von der Notwendigkeit, Militant auszuschliessen.
Trotzkisten, Stalinisten und Idealisten
Labours Nahtoderlebnis ist heute weitgehend vergessen. Das gilt besonders für die Mitglieder der Partei, vor allem für die rund 150 000 neuen Genossen, die 2015 für nur drei Pfund an der Wahl des Parteiführers teilnehmen durften.
Dieses Verfahren ist die einzig nennenswerte Hinterlassenschaft aus den fünf Jahren unter Parteichef Ed Miliband. Das von ihm eingeführte Wahlsystem ermöglichte die Unterwanderung der Partei durch stramme Linke. Eine Studie ergab, dass unter den neuen Mitgliedern viele Trotzkisten, Stalinisten und jugendliche Idealisten sind, die oft aus gutbürgerlichen Familien im Großraum London stammen, dort zur Universität gingen und deren Eltern wenig oder gar nichts zu tun haben mit dem Arbeitermilieu klassischer Labourprovinienz. Zur Farce gehört auch die Entscheidung moderater Labour-Abgeordneter, den notorischen Außenseiter Jeremy Corbyn um einer „breiten“ innerparteilichen Debatte willen als Kandidaten für die Wahl des Parteivorsitzenden nominiert und ihm über die erforderliche Schwelle von 25 unterstützenden Abgeordneten geholfen zu haben. Diesen Schritt werden die Abgeordneten ihr Leben lang bitter bereuen.
Als Parteichef von 2010 bis 2015 hatte Ed Miliband die Labour Party bereits auf einen deutlich linkeren Kurs gebracht. Das Ergebnis waren 30 Prozent der Stimmen bei der Wahl 2015. Aus dieser Niederlage gegen eine konservative Regierung, die angesichts der hohen Staatverschuldung zu einem Sparkurs gezwungen war, hat die Partei offenkundig wenig gelernt.
Anders lässt sich die Wahl Jeremy Corbyns nicht erklären. Auch er ist übrigens der Sprössling einer gutbürgerlichen Familie und wuchs in einem Haus im ländlichen England auf, „so vornehm, dass es keine Hausnummer trug“, wie Rosa Prince in der Biografie Comrade Corbyn schreibt. Er stimmte im Unterhaus mehr als 500 Mal gegen seine Partei und verfolgte prinzipienstark wie hartnäckig seinen einsamen linksradikalen Kurs.
Genosse Putin als Vorbild
Corbyn wird Labours Niedergang nur noch beschleunigen. Der Mann der sanften, äußerst höflichen Umgangsformen versprach eine „neue Form von Politik“ mit mehr Dialog und Volksnähe. Seine Anhänger, Berater und Helfer strafen diese Worte Lügen. Moderate Abgeordnete, ob „soft left“, Blairites oder Brownites, wurden und werden als „Abschaum“ verunglimpft. Prominente Vertreter der radikalen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sprechen offen davon, dass der „Virus“ der Blairites „vernichtet“ werden müsse. Um Corbyn herum schart sich eine Garde von extremen Linken, die sich daran gemacht haben, systematisch die Eroberung von Parteigremien voranzutreiben und moderate Sozialdemokraten in der Labour-Fraktion auszuschalten.
Gemeinsam mit seinen engsten Verbündeten, dem ehemaligen Bürgermeister von London Ken Livingstone und seinem Schattenschatzkanzler John McDonnell, will Corbyn vorwärts in die Vergangenheit. So soll die Partei auf die Abrüstung der britischen Atomwaffen eingeschworen werden, was in der Unterhausfraktion mit Entsetzen aufgenommen wurde.
Dabei lassen sich Corbyn und seine Anhänger nicht von hehren pazifistischen Prinzipien leiten, die zumindest Respekt verdienen würden. Corbyn ist gar nicht prinzipiell gegen Atomwaffen, sondern nur gegen die des eigenen Landes und des Westens. Er verkörpert damit eine Strömung in der britischen wie europäischen Linken, die sich als Kultur des westlichen Selbsthasses beschreiben lässt. Es ist kein neues Phänomen. Diese Kultur offenbarte sich etwa in den grotesk ammutenden Fehlurteilen linker Intellektueller über den Kommunismus und die Sowjetunion. Ein Schulbeispiel lieferten Sidney and Beatrice Webb, führende Köpfe in der Fabian Society, die für einen reformistischen Weg zum Sozialismus eintraten. Die Webbs „verliebten“ sich in die Sowjetunion, die sie ungeachtet der grausamen Kollektivierungen, der Hungersnöte, der Säuberungen und des Gulags als „eine neue Zivilisation“ bezeichneten.
In dieser unrühmlichen Tradition steht Jeremy Corbyn. Er und seine Mitstreiter haben sich daran gemacht, die gesamte Außen- und Verteidgungspolitik Labours umzugestalten. Aus ihrer Bewunderung für Wladimir Putin machen sie dabei keinen Hehl. Auf die Frage, ob er Obama oder Putin vorzöge, antwortete Livingstone ohne zu zögern „Putin“. Der sei „ein entschlossener Führer, im Gegensatz zu Obama“. Kurz zuvor hatte ein britisches Gericht den russischen Präsidenten des atomaren Terrormordes an Alexander Litwinenko bezichtigt.
Corbyn und die harte Linke sympathisieren mit jeder totalitären oder terroristischen Bewegung, solange sie gegen den „westlichen Imperialismus“ kämpft. Das erklärt Corbyns inniges Verhältnis zur IRA selbst in ihren mörderischsten Zeiten, das macht verständlich, dass er islamistische Terrorgruppen wie die Hamas und Hisbollah seine „Freunde“ nennt. Das erklärt seine gewundenen Worte, als er versuchte, die Verantwortung für die Terrortaten in Paris letztlich auf den Westen abzuwälzen. Es passt ins Bild, wie widerstrebend der Labourchef den Gefallenen des Ersten Weltkriegs Tribut zollte. Patriotismus lehnt Corbyn ab. Grenzen hält er für überflüssig. Bei einem Besuch im „Jungle“ von Calais lud er alle dort lebenden Migranten nach Großbritannien ein.
Wird Corbyn demnächst gestürzt?
Kein Zweifel, alle großen Parteien der linken Mitte haben Probleme, aber keine hat gravierendere als Labour. Die Fliehkräfte werden immer stärker. Die Gegensätze zwischen den Hauptgruppierungen der Gesellschaft, aus denen sie einst ihre Wähler rekrutierte, sind immer schwerer zu überbrücken. Es mangelt an Personen und Ideen, die den Verfallsprozess aufhalten könnten. Wie umstritten sie für viele Mitglieder linker Parteien heute auch sein mögen – Gerhard Schröder und Tony Blair waren die letzten, die die wachsende Kluft zwischen Industriearbeiterschaft, neuen aufstrebenden Mittelschichten und Sozial-, Bildungs- und Kultursektor des öffentlichen Dienstes zu überbrücken vermochten. Sie taten dies mit einem Politikansatz, der die Überlegenheit des Marktes akzeptiert, diesen gleichwohl sozialdemokratisch regulieren und gestalten will. Aber die Neue Mitte und der Dritte Weg gehören der Vergangenheit an. Die Zweifel am Markt wachsen, ebenso wie die Sehnsucht nach der Utopie.
Derweil bleibt offen, ob sich die Mehrheit der Labourfraktion im Unterhaus irgendwann dazu aufrafft, Jeremy Corbyn zu stürzen. Sicher ist das nicht. Die Basis würde in einer erneuten Abstimmung wohl einen ebenso radikalen Kandidaten wählen. Wobei harte Linke ohnehin darüber nachdenken, den allzu dilettantisch agierenden Corbyn bald zu ersetzen – durch eine entschlossenere, härtere Führungsfigur.