Zuversicht statt Angst!

Aufs Ganze gesehen geht es unserem Land wirtschaftlich gut. Aber Teile der Bevölkerung kommen im Wettbewerb nicht mehr mit. Der Verdruss darüber trifft besonders die SPD. Höchste Zeit für ein neues Gesellschaftsprojekt der sozialen Gerechtigkeit

Was ist eigentlich los in unserem Land? Die Zahl der Erwerbstätigen ist so hoch wie noch nie, die Reallöhne wachsen endlich wieder kräftig und das Rentenplus in diesem Jahr ist das stärkste seit 23 Jahren. Darüber hinaus erleben wir ein enormes ehrenamtliches Engagement auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Dies alles steht in krassem Widerspruch zur wachsenden Politikverdrossenheit, Nationalisierung und Radikalisierung einiger Bevölkerungsschichten. CDU und CSU verlieren dramatisch an Zustimmung. Mittlerweile proben viele Mandatsträger der Union den offenen Aufstand gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die lange als unantastbar galt. Aber auch die Sozialdemokratie steht in der momentanen Wählergunst nicht gut da, und es wäre falsch, dafür ausschließlich bestimmte Reformen der Agenda 2010 oder die aktuelle Flüchtlingssituation verantwortlich zu machen.

Unser Land befindet sich in einem politisierten Zustand, wie es ihn lange nicht mehr gab. Doch anders als in den politisch stark aufgeladenen siebziger Jahren, in denen eine progressive und offene Gesellschaft eingefordert wurde, verfolgen einige Kräfte heute eine rückwärtsgewandte Vision unserer Gesellschaft und grenzen Minderheiten aus. Ein undemokratisches und ungerechtes Weltbild macht sich breit, genährt von Hysterie und Verschwörungstheorien und verstärkt durch Enthemmung und Hetze in den sozialen Medien. Das rechte Parteienspektrum erstarkt. Gewalttaten gegen die Schwachen in unserem Land – selbst aus der Mitte der Gesellschaft – haben erschreckende Ausmaße angenommen. Ängste werden geschürt.

Ist die Bevölkerung von der Aufgabe, die Geflüchteten zu integrieren, einfach überfordert? Zwar sind die damit verbundenen Herausforderungen groß, dennoch spricht nur wenig für diese These. Entscheidend sind Phänomene, die im Zuge der Globalisierung der vergangenen drei Jahrzehnte entstanden sind. Für viele Menschen in unserem Land haben sich dadurch neue Verwirklichungschancen ergeben. So manche Hoffnungen und Erwartungen wurden aber auch enttäuscht. Zugleich sind im Zuge der Globalisierung neue Möglichkeiten entstanden, sich der solidarischen Gemeinschaft und gerechten Umverteilung zu entziehen. Die Deregulierung des Finanzwesens hat eine Art Kasinokapitalismus hervorgebracht, der Verantwortungslosigkeit und Intransparenz begünstigt. Der Anteil der Arbeit am Volkseinkommen verringerte sich in den vergangenen 30 Jahren systematisch, während zugleich die Bedeutung des Kapitals gestiegen ist. Einige wichtige Wirtschaftsbranchen werden heute nur noch von wenigen Anbietern dominiert. Ein Wandel der Familien- und Lebensformen hin zu mehr Pluralität, führte zu einer Zunahme der Eigenverantwortung.

Die Erwartungen an die SPD sind besonders hoch

Im Ergebnis lässt sich festhalten: Auf den ersten Blick geht es unserem Land wirtschaftlich gut: Wir haben die globalen Krisen gemeistert und können im weltweiten Wettbewerb erfolgreich bestehen. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass Teile der Bevölkerung bei diesem Wettbewerb nicht mehr mithalten können und sich die ungleiche Verteilung von Chancen verfestigt:

 — Kinder aus armen Elternhäusern schaffen in Deutschland, verglichen mit anderen OECD-Ländern, besonders selten den Aufstieg. Die Höhe ihrer späteren Erwerbseinkommen wird maßgeblich vom Einkommen und Bildungsstand der Eltern bestimmt.

 — Ein Vorstandsgehalt ist hierzulande im Durchschnitt nahezu sechzigmal so hoch wie das eines Mitarbeiters. In der Automobilbranche können vereinzelt sogar Werte von weit über dem 100-fachen beobachtet werden.

 — Die Lohnspreizung, trotz gleichem Ausbildungsniveau, nimmt durch die steigende Individualisierung von Arbeitsprozessen und die abnehmende Tarifbindung zu.

 — Die Erwerbstätigkeit von Frauen wird durch das Steuerrecht systematisch ausgebremst. Hinzu kommt, dass ihr durchschnittlicher Bruttolohn 21 Prozent geringer ist als der von Männern.

 — Unter den Alleinerziehenden – zumeist Frauen – beziehen gut 38 Prozent der Haushalte Sozialleistungen.

 — Die ungleiche Besteuerung hat zur Folge, dass die Vermögen schneller wachsen als die Einkommen aus Arbeit. In der Folge gehören dem wohlhabendsten Zehntel der Bevölkerung in Deutschland fast 60 Prozent des gesamten privaten Vermögens. Die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt dagegen nur knapp drei Prozent.

Die empfundene Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber diesen Fakten, die Angst der Menschen vor dem sozialen Abstieg oder der Frust über den nicht gelingenden Aufstieg sind die Hauptgründe für das Erstarken rechtspopulistischer ­Parteien. Wenn sich Einsatz und Leistung nicht mehr zu lohnen scheinen, werden die gesellschaftlichen Verhältnisse zunehmend als ungerecht wahrgenommen. Der gemeinschaftliche Zusammenhalt bröckelt.

Als Sozialdemokraten sind wir deshalb seit jeher gut beraten, für Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt zu kämpfen. Soziale Gerechtigkeit ist ein Maßstab, um Mindeststandards im täglichen Miteinander zu setzen und sozialen Ausgleich zu schaffen. Damit ist jedoch nicht Ergebnisgleichheit gemeint, sondern Gleichbehandlung im Sinne von gleichen Chancen für alle, die jeder entsprechend seinen Fähigkeiten nutzen kann. Im Sinne dieser Definition hat sich das Verständnis von Gerechtigkeit in unserem Land über die Zeit nicht wesentlich verändert.

Es kommt also nicht von ungefähr, dass gerade die SPD momentan mit einem bisher unbekannten Ausmaß an Frustration, Wut und Abkehr konfrontiert ist. Zwar waren wir es, die nach der Regierungszeit Helmut Kohls durch entschlossene und mutige Reformen dem „kranken Mann Europas“ wieder auf die Beine geholfen haben. Und auch in dieser Legislaturperiode sind wir die treibende Kraft für mehr soziale Gerechtigkeit: Wir haben den Mindestlohn eingeführt, Leiharbeit und Werkverträge eingeschränkt, das ElterngeldPlus eingeführt und eine verbindliche Frauenquote in Aufsichtsräten durchgesetzt, als ein Einstieg in mehr weibliche Unternehmenskultur. Zudem haben wir Milliardeninvestitionen durchgesetzt in Kitas, Schulen und Hochschulen, für den sozialen Wohnungsbau, für die Arbeitsmarktförderung und für die Integration von Geflüchteten. Doch die Erwartungshaltung der Menschen an die SPD ist höher als an andere Parteien.

Debatten führen, Lösungen aufzeigen

Verfestigte Ungleichheit ist kein Naturgesetz. Und deshalb sind wir die Partei, die sich zu einer modernen, offenen Welt bekennt und die innerhalb dieses Rahmens Chancengleichheit gewährleisten möchte. Deshalb müssen wir jetzt die Frage beantworten, wie wir unser Land unter den Bedingungen einer globalisierten, pluralisierten und zunehmend digitalisierten Arbeits- und Lebenswelt gerechter ausgestalten wollen – und dies im Zuge einer ungebundenen, möglichst breiten und deutlich vernehmbaren Debatte. Dies ist der Schlüssel, um den Erwartungen an uns gerecht zu werden und die SPD wieder als jene politische Kraft zu stärken, die mit Zuversicht und einem klaren Auftrag an der Gestaltung der Zukunft arbeitet.

Wir müssen den Menschen eine erneuerte sozialdemokratische Orientierung anbieten, indem wir offensiv eine solidarische, egalitäre und ökologische Politik verfolgen und Lösungen für ein Gesellschaftsprojekt der sozialen Gerechtigkeit aufzeigen. Nur so werden wir der aktuell diffusen Angst in der Bevölkerung etwas entgegensetzen können.

Dabei sollten wir unbedingt vermeiden, unsere Politik so auszurichten und zu kommunizieren, dass wir unser Handeln nur auf einige ausgewählte Bevölkerungsgruppen konzentrieren wollen, weil andere im Umkehrschluss unsere politische Aufmerksamkeit nicht verdienen. Denn es entsteht eine neue Schicht Erwerbstätiger, die sich nicht so leicht umschreiben lässt, die projektbezogener arbeitet, die die digitalen Möglichkeiten nutzen möchte und ein anderes Verständnis von der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Ehrenamt besitzt als vorherige Generationen. Wir sollten also unsere politischen Konzepte sorgfältiger und ganzheitlicher durchdenken, um breite Bevölkerungsgruppen anzusprechen.

Zudem müssen wir mehrere Generationen im Blick haben und ihre Wünsche und Ziele mit den jeweiligen Bedingungen ihrer unterschiedlichen Lebensverläufe abgleichen. Notwendig ist auch, dass wir unsere Politik unaufgeregter erläutern: Etwa, warum es richtig und gerecht ist, eine Lebensleistungsrente einzufordern, auch wenn diese – auf Grund ihrer Leistungsbegründung – nur für einige wenige infrage kommt.

Auch die Forderung nach einem angemessenen und gerechten Rentenniveau darf nicht gleich mit dem Szenario massenhafter Altersarmut begründet werden. Gerecht ist es nämlich auch, nicht mit den Ängsten der Bevölkerung zu spielen. Fakt ist: „Alte“ wie „neue“ Arbeiter, Angestellte, Selbständige und Rentner fordern jetzt von uns Antworten. Deshalb lasst uns nicht weiter zurückschauen. Für den politischen Erfolg zählen vor allem Zukunftskonzepte.

Beim Finanzsektor genügt gutes Zureden nicht

Deshalb müssen wir beispielsweise Wege aufzeigen, wie wir die Finanzwirtschaft global eingrenzen können. Jenen Bereich, der auf Grund seiner Größe und vieler Exzesse – mit Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Schulden – Ungleichheit schürt und sich vom Wachstumstreiber zum Wachstumshemmer entwickelt. Spätestens die Panama Leaks haben gezeigt, dass die Finanzbranche vom Sinn der sozialen Gerechtigkeit nicht allein durch gutes Zureden einzelner nationaler Akteure zu überzeugen ist.

Die erheblichen Lohnunterschiede zwischen dem Finanzsektor und anderen Wirtschaftsbereichen sind zudem für die steigende Einkommensungleichheit mitverantwortlich, und der einkommensbedingte Braindrain führt gleichzeitig dazu, dass dem Finanzsektor überdurchschnittlich viele Talente zukommen, die anderweitig sicherlich mehr zum wirtschaftlichen Wohlergehen beitragen könnten.

Um stete Chancengleichheit für alle sicherzustellen, plädiere ich dafür, weitere Investitionen in Bildung als unsere vordringlichste Aufgabe anzusehen. Hier sollten wir zunächst bei den Kleinsten in unserer Gesellschaft anfangen und ihnen durch den weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau von Kitas gleiche und damit gerechte Startchancen ermöglichen. Laut OECD geben wir momentan nur rund 0,5 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für die Betreuung von Kindern im Alter unter sechs Jahren aus. Im Durchschnitt der OECD sind es hingegen 0,7 Prozent und in den skandinavischen Ländern liegen die entsprechenden Ausgaben bei nahezu 1,5 Prozent. Wir haben also Nachholbedarf.

Familiensplitting statt Ehegattensplitting

Darüber hinaus muss eine weitere massive Förderung des Ausbaus von Ganztagsschulangeboten, dualer Ausbildung und Universitäten erfolgen. Nur so können wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf voranbringen. Nur so können wir die momentane Zahl von etwa 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren reduzieren, die keinen Berufsabschluss haben. Nur so erreichen wir, dass der eigene soziale Status mehr von der eigenen Leistung abhängt und weniger vom Status der Eltern. Nur so schaffen wir es, dass alle Jungen und Mädchen eine gerechte Teilhabe erleben können, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Nur so reduzieren wir den momentanen Anteil von 19 Prozent an allen Jungen und Mädchen unter 18 Jahren, die in Deutschland in einkommensarmen Haushalten leben. Soziale Mobilität zu ermöglichen, das ist das Versprechen der Sozialdemokratie.

Wollen wir stete Chancengleichheit auch durch ein gerechtes Steuerrecht sicherstellen, so gilt es hier, tradierten Rollenmustern beizukommen. Das bedeutet etwa, das Ehegattensplitting in ein sozialdemokratisches Familiensplitting zu überführen – und den Fokus auf die Kinder statt auf die Ehe zu legen. Dass Alleinerziehende, die ihre ganze Kraft der Erziehung und dem Beruf widmen, gegenüber einem Ehepaar mit Kind steuerlich benachteiligt werden, ist ebenfalls nicht gerecht und muss korrigiert werden. Wollen wir die öffentliche Daseinsvorsorge trotz des schwindenden Arbeitsanteils an der Wertschöpfung garantieren, müssen wir zwangsläufig auch über eine gerechtere Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Erbschaften verhandeln.

Was ist zudem lohnenswerter, als endlich die Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern anzugehen, indem wir sicherstellen, dass Frauen für gleiche Tätigkeiten genauso bezahlt werden wie Männer? Die durchschnittliche Lohnlücke zwischen den Geschlechtern beträgt immer noch 21 Prozent. Das ist der dritthöchste Wert in Europa. Für mich ist es nicht weiter hinnehmbar, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts der Respekt für ihre Arbeitsleistung verwehrt wird. Frauen verdienen mehr! Deshalb habe ich ein Gesetz für gleichen Lohn bei gleicher und gleichwertiger Arbeit eingebracht. Damit wird Beschäftigten ein individueller Auskunftsanspruch gegenüber ihrem Arbeitgeber eingeräumt, wenn sie den Verdacht haben, dass sie im Vergleich zu anderen Beschäftigten mit gleichem Anforderungsprofil ungerecht entlohnt werden. Die momentane Blockade der Unionsparteien gegen dieses Gesetz ist für mich eine weitere Bestätigung dafür, dass es die SPD ist, die für eine gerechte Zukunft gebraucht wird.

Für eine neue soziale Bewegung

Wollen wir gleiche Chancen für Familien schaffen, müssen wir uns auch Projekte vornehmen, die den Wunsch nach mehr Zeit mit der Familie erfüllen. Für beide Geschlechter ist heute eine weitgehend durchgängige Erwerbstätigkeit – auch als Mutter und Vater – selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Gleichzeitig spüren Familien gegenwärtig einen großen Druck. Dies gilt besonders für diejenigen, die der mittleren Generation im Alter zwischen 30 und 55 Jahren angehören. Sie stellen hohe Anforderungen an sich selbst – und sind auch objektiv hohen Anforderungen ausgesetzt. Gerecht ist es deshalb, die geforderte Generation mit einer neuen Vereinbarkeitspolitik zeitlich zu entlasten. Familien muss mehr zeitlicher Spielraum für den täglichen Spagat zwischen Beruf und Fürsorgepflichten gegeben werden. Eine Familienarbeitszeit, wie ich sie bereits vor zwei Jahren in die Debatte eingebracht habe, wäre eine große sozialdemokratische Errungenschaft.

Dies alles sind politische Ziele, die viele Bevölkerungsschichten betreffen. Wir sind dabei nicht in der Defensive. Eine grundsätzliche und inhaltlich breit geführte Debatte über Gerechtigkeit wird von uns gefordert. Wenn wir sie entsprechend annehmen, bietet sich uns die Chance, jene sich in der Vergangenheit von der Sozialdemokratie abgewandten Bevölkerungsgruppen zurückzugewinnen und gleichzeitig neue Bevölkerungsschichten anzusprechen.

Wir Sozialdemokraten müssen noch energischer gegen die verfestigte und mittlerweile häufig akzeptierte Chancenungleichheit vorgehen! Es ist Zeit für eine neue soziale Bewegung. Die SPD muss der Garant dafür sein, dass das Versprechen einer egalitären Gesellschaft auch unter den Bedingungen globalen Wirtschaftens weiterhin Bestand hat. Wir müssen einen neuen Gesellschaftsvertrag des gerechten Miteinanders aufsetzen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, bei stets gleichen Verwirklichungschancen für alle. Aufgeklärte Vernunft, sozialer und ökologischer Humanismus und eine demokratische Kultur zeichnen uns als die Partei Willy Brandts aus: mit europäischer Verantwortung und ganzer Kraft im Dienst am Frieden und sozialen Fortschritt.

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