Zweimal Deutschland
Der eine, Wolfgang Büscher, hatte vor einigen Jahren eine kühne Idee: Er wanderte zu Fuß von Berlin nach Moskau und schrieb ein Buch darüber. Assoziationen an den Marsch der deutschen Wehrmacht auf Moskau waren dabei kein Zufall: „Ich ging nach Moskau, und der Landser ging mit.“ Nun hat Büscher Deutschland entlang seiner Grenzen umwandert. Herausgekommen ist das Buch Deutschland, eine Reise. Auch hier marschieren deutsche Mythen mit. Der Autor beginnt seinen Weg im herbstlich kalten Rhein schwimmend, bei „mystischem Licht“. Er steuert „am anderen Ufer den Schlot der Oelmühle Germania“ an, der in der untergehenden Sonne erglüht wie der ganze Fluss. „Ich trieb in purem Gold.“ Rheingold. Nibelungen – ein Mythos, der sich später, in Chemnitz, dem früheren Karl-Marx-Stadt, wiederholt: „Marx hatte die Mundpartie und den rauschen Bart eines Nibelungenhelden, Hagen von Tronje vielleicht ...“
„Mit Emmerich stimmt etwas nicht“
Der andere, Landolf Scherzer, wurde mit einem Schlag bekannt, als kurz vor dem Zusammenbruch der DDR sein Buch Der Erste in Ostdeutschland erschien. Der Erste, das war der SED-Kreissekretär von Bad Salzungen in Thüringen. Ein aufrechter, ehrlicher, engagierter Parteifunktionär, den Scherzer einige Wochen lang in seinem Alltag begleitet hatte. Selbst – oder gerade – die Beschreibung dieses kleinen Kosmos machte unverblümt deutlich, dass die DDR am Abgrund stand. Mit dem System war kein Staat mehr zu machen. Nun hat Scherzer das Buch Der Grenz-Gänger geschrieben. Der Grenz-Gänger ist er selbst: In den Jahren 2004 und 2005 wanderte er in mehreren Etappen vom süd-östlichen Teil Thüringens die frühere deutsch-deutsche Grenze entlang nach Norden. Gut vierhundert Kilometer legte er zurück, mal auf der östlichen, mal auf der westlichen Seite.
Büscher war 3.500 lange Kilometer rund um Deutschland unterwegs. Kein Motiv taucht in seiner Reisebeschreibung so oft auf wie die Erinnerung an den Krieg. Schon auf der ersten Etappe registriert der Wanderer: „Mit Emmerich stimmt etwas nicht.“ Bei genauerem Hinsehen stellt er fest: Die scheinbar alten Mauern der Stadt sind nicht älter als ihr Besucher, gerade mal etwas über 50 Jahre. Nachdem am Abend im Stadtmuseum des sechzigsten Jahrestags ihrer Zerstörung gedacht wurde, notiert er: „Der Einschlag ist immer noch in der Luft.“
Am Stettiner Haff an der polnischen Grenze, wo die Erinnerung an den Untergang Swinemündes im März 1945 bis heute lebendig ist, glaubt der Wanderer zu verstehen, was die Deutschen – „ob rechts oder links, ob Gartenzwerg-Liebhaber oder Erich-Fromm-Leser“ – verbindet: „Alles dachte, alles empfand von der meteoritischen Zeitenwende her“, alles sei überlagert von dem Bewusstsein, „dass es Vernichtungen gibt von einer Wucht, die ein ganzes Leben betäubt, ein ganzes Land.“
Dem zentralen Motiv steht die Sehnsucht nach einem Deutschland gegenüber, das Krieg und Verwüstung unversehrt überstanden hat. Dieses heile Deutschland findet sich etwa in der Renaissancestadt Görlitz, die im Krieg nicht zerstört wurde und später durch den Untergang der DDR vor der geplanten Sprengung in Friedenszeiten bewahrt wurde. Oder in der behüteten Welt über Jahrhunderte gewachsener Dörfer im bayrischen Wald: „Eine altmodische Freundlichkeit lag über allem, sie ruhte in der Gewissheit, dass die Welt wohleingerichtet und gutartig sei. Diese Welt glich einer liebevoll gearbeiteten Lodenjacke.“
Büscher erzählt schöne Geschichten und füttert sie mit viel hintergründigem Wissen. Er trifft interessante Menschen wie jenen schwarzen amerikanischen Soldaten bei Ramstein, der mit ihm stundenlang durch den deutschen Winterwald fährt und dabei beiläufig erwähnt, dass er am nächsten Tag zum Krieg in die irakische Wüste abfliegen werde. Der Journalist Büscher ist ein aufmerksamer Beobachter, zum Beispiel wenn er den irritierenden Kontrast schildert, der entsteht, wenn in die alten KZ-Gebäude von Flossenbürg der Stil der neudeutschen Gedenkstättenbürokratie einzieht, mit jungen Mitarbeitern im Freizeithemd, mit Büropflanzen, Bürotassen und Bürowitzen.
Manchmal nervt ein gewisser Ton
Es entspricht der inneren Logik von Büschers Reise, dass der Krieg auch am Ende noch einmal thematisiert wird. Da ist der Wanderer einziger Gast in einem einsamen Wald-Hotel irgendwo zwischen Ardennen und Eifel, wo die letzten großen Schlachten des Krieges im Westen geschlagen wurden. Die alte Wirtin erzählt von Gästen, ehemaligen deutschen und amerikanischen Weltkriegsoffizieren, die sich noch Jahrzehnte nach dem Krieg hier trafen und nächtelang über den Verlauf der Schlachten diskutierten.
Manchmal nervt in Büschers Buch ein gewisser Ton, der zwischen Sentimentalität und etwas zu dick aufgetragenem Pathos schwankt. Als Büscher etwa im Zug nach Kehl eine Französin trifft, zitiert er sie mit dem Satz: „Deutschland ist so dunkel.“ Es scheint, als habe sie dem Reisenden aus der Seele gesprochen und er tue sich selbst etwas Leid bei diesem Gedanken.
Der Grenz-Gänger Scherzer hingegen wartet zunächst mit guten Nachrichten auf. „Ich stehe schweigend und versuche mir vorzustellen, wie es vor fünfzehn Jahren aussah, als hier noch Stacheldrahtzäune, Stahlgitter, Grabensperren, Signalanlagen und Wachttürme standen. Es gelingt mir nicht. In den Löchern der Gitterplatten des Kolonnenweges wachsen filigrane Farne, dickblättriger Breitwegerich, haarige Huflattichblätter, zarte Glockenblumen, kleine Fichtensämlinge. Und rot leuchtende Walderdbeeren.“ Vielerorts ist die innerdeutsche Grenze nicht mehr zu erkennen, sie ist zugewachsen, zum Biotop mutiert, in Ackerland verwandelt, als Freilichtmuseum hergerichtet oder dient nun als Jagdrevier.
Scherzer berichtet noch mehr Positives. Familien aus dem Westen bringen ihren Nachwuchs in Ost-Kindergärten. Thüringer sind Mitglieder in bayerischen Gesangs- und Fußballvereinen. Ein bayrischer Bürgermeister tanzt in einer Thüringer Volkstanzgruppe. Thüringer Lehrer unterrichten an bayrischen Schulen. Ein ostdeutscher Spezialist saniert westdeutsche Firmen.
Im Osten kaufen sie alles auf einmal
Auf der anderen Seite erzählt Scherzer Geschichten von Grenztoten, von Verurteilungen und Gefängnisstrafen wegen Ausreisebegehren, von dem Erdboden gleichgemachten Weilern im Grenzgebiet, von Schikanen gegen die Bewohner des Grenzgebietes, die bis heute schmerzen. Im Grenz-Gänger finden sich hübsche Alltagsanekdoten, die zeigen, dass bestimmte Gewohnheiten wie das Einkaufsverhalten sich auch nach fünfzehn Jahren nicht einfach abschleifen. Im Westen kaufen die Frauen beim Bäckerwagen morgens die Frühstücksbrötchen, nachmittags bei einem anderen Bäckerwagen den Kuchen. Im Osten kaufen sie alles auf einmal, oft mehr, als sie gerade brauchen: „Die Vorratswirtschaft steckt noch drin.“
Viel Aufmerksamkeit widmet der Grenz-Gänger den ehemaligen Grenzsoldaten. Gleich mehrfach erzählt er, wie selbstverständlich sie heute in jene Dörfer integriert seien, deren Grenzen sie noch vor fünfzehn Jahren bewachten. Wiederholt lässt der Autor sie darüber klagen, dass sie im Gegensatz zu anderen Offizieren der Nationalen Volksarmee nicht in die Bundeswehr übernommen worden seien. Nach einer solchen Begegnung notiert der Grenzwanderer: „Wir verabschieden uns sehr herzlich voneinander.“
Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht kein Zufall, dass die Grenze heute durchweg Kolonnenweg heißt. Das Wort „Todesstreifen“ kommt in dem Buch nicht vor. Die Toten an der Grenze sind zwar kein Tabu, das Wort „ermordet“ fällt aber nur im Zusammenhang mit der Flucht des NVA-Soldaten Weinhold, der 1975 zwei Grenzsoldaten erschoss und dafür im Westen zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Die Lektüre ist anregend. Der Grenz-Gänger Scherzer schreibt plastisch und macht nicht selten Lust darauf, die eine oder andere Etappe seiner Wanderung nachzugehen. Während es allerdings Büscher gelingt, Vergangenheit und Gegenwart reflektierend miteinander zu verweben und daraus neue Einsichten zu gewinnen, findet man bei Scherzer wenig mehr als das gängige Missbehagen am Nichtgelingen von Teilaspekten der deutschen Einigung, dies nicht selten garniert mit larmoyanter DDR-Nostalgie. Da war dieser Wanderer schon einmal weiter.
Landolf Scherzer: Der Grenz-Gänger, Berlin: Aufbau Verlag 2005, 394 Seiten, 19,90 Euro