Schmerzliche Einsichten
Falsch an dieser oberflächlichen Sicht, das wird nach der Lektüre des Buches klar, ist so gut wie alles: Was wohlmeinende Naive im Westen für Exotik halten, ist nicht selten selbst verschuldete und oft bedrückende Unterentwicklung. Und die Gewalttätigkeit bestimmter Spielarten des Islamismus mit dem Islam gleichzusetzen, zeugt von fundamentaler Unkenntnis dieser Weltreligion. Wie es überhaupt unzulässig ist, die verschiedenen Länder Arabiens politisch-kulturell über einen Kamm zu scheren. Das wird sinnfällig an der extremen Unterschiedlichkeit arabischer Dialekte: Ein jemenitischer Bauer versteht einen marokkanischen Gelegenheitsarbeiter ebenso wenig, wie sich eine schwyzerdütsche Heidi mit einem holländischen Meisje verständigen kann.
Mühen hat der Autor nicht gescheut
Nur in einer einzigen politischen Hinsicht gibt es keine Unterschiede: Alle arabischen Länder werden von mehr oder weniger korrupten und undemokratischen Regimes beherrscht. Leichte Urteile über diese Region sind also nicht zu haben. Und das lautstarke Schwadronieren deutscher Wirtshaus-Strategen wird den Tatsachen ebenso wenig gerecht wie die Besserwisserei der immer gleichen Groß-Ayatollahs an den Stammtischen deutscher Fernseh-Talkshows.
Der Autor selbst hat zur Mehrung seines Wissens keine Mühen gescheut: Michael Lüders hat unter wenig komfortablen Bedingungen an arabischen Universitäten studiert, er hat die hoch komplizierte arabische Sprache gelernt und erweitert seine Kenntnisse durch regelmäßige, oft beschwerliche Reisen in die Region. Als er Augenzeuge einer fünffachen Hinrichtung in Damaskus wird, fragt er sich, warum er sich das alles antue und kommt zu der „schmerzliche(n) Einsicht, dass es einen Entwurf besseren Lebens auch im Orient nicht gibt. Er ist hässlich und schön in einem, wie jeder Ort, überall und nirgends.“ Aber: „Ohne diese Einsicht bleibt das Fremde unvertraut.“ Sich mit dem Fremden vertraut zu machen wird uns allen nicht erspart bleiben: „Ob es uns gefällt oder nicht, die größte Herausforderung westlicher Politik in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren ist die arabisch-islamische Welt.“
Warum der Westen schlecht gerüstet ist
Für diese Herausforderung ist der Westen schlecht gerüstet. Er hat großenteils den Unterschied zwischen dem Islam als großer Weltreligion und dem islamischen Fundamentalismus als einer späten Sonderentwicklung dieser Religion nicht begriffen. Dieser Fundamentalismus dient vor allem der Erringung politischer Macht, über Feinde von außen ebenso wie gegenüber korrupten Regimen in den eigenen Ländern. Es verschärft fundamentalistische Strömungen und schadet der Glaubwürdigkeit des Westens bei den arabischen Völkern massiv, wenn er diese Regimes unterstützt, wann immer es seinen eigenen politischen Interessen dient.
Die Gleichsetzung des Islam mit seinen fundamentalistischen Strömungen ist Michael Lüders zufolge selbst fundamentalistisch. Wenn Präsident Bush – und Samuel Huntington mit seiner These vom Kampf der Kulturen fungiert dabei als dessen Prophet – die „Achse des Bösen“ allein im Irak, im Iran und in Nordkorea ausmacht und dabei wie selbstverständlich die moralische Überlegenheit, ja Einzigartigkeit amerikanischer Wert- und Demokratievorstellungen unterstellt, produziert er eher weiteren Hass und Ablehnung gegenüber den Vereinigten Staaten, als für die eigene Sache zu werben. Deutsche Fernsehmoderatoren, die dies anzudeuten wagen, haben bekanntlich mit erheblichem Ärger zu rechnen. Der Irak-Krieg als konsequente Fortsetzung dieser jahrzehntelangen Politik wird deshalb auch von nicht-irakischen Arabern als ultimative Demütigung empfunden.
Der Verweis auf Israels Fehler hllft nicht weiter
Ähnliche kontraproduktive Wirkungen hat es zum Beispiel, wenn die westliche Politik zwar die Terrorakte der palästinensischen Hamas verurteilt, die völkerrechtswidrige israelische Siedlungspolitik aber weitgehend kritiklos hinnimmt. Der Autor, der, wenn er darauf angesprochen wird, auf die besondere Verantwortung der Deutschen gegenüber Israel verweist, wird von palästinensischer Seite gern mit der Gegenfrage konfrontiert, warum denn die Palästinenser den Preis für das schlechte Gewissen der Deutschen zahlen sollten. Anderseits lässt er den Verweis auf Israel als Alibi für alle Versäumnisse der arabischen Welt ebenso wenig gelten: „Selbst wenn es den jüdischen Staat nicht gäbe, wäre die Misere der arabischen Welt, ihre Stagnation und fehlende Kreativität, ihre Repression und Gewalttätigkeit dieselbe.“
Für Michael Lüders ist klar, dass den herrschenden arabischen Regimen an Demokratisierung und grundlegender Veränderung der politischen Verhältnisse überhaupt nicht gelegen ist, da das ihrer Macht und ihren Privilegien nur schaden könnte und dass sie deshalb auch nicht in der Lage sind, arabische Interessen kraftvoll und überzeugend mit einer Stimme zu vertreten. Polemisch stellt er fest: „Die Regierungen in der arabischen Welt organisieren nicht viel mehr als den Diebstahl an der eigenen Bevölkerung. ... Warum sollten Diebe ihre Beute mit anderen Dieben teilen?“
Stagnation und Niedergang
Hinzu kommt, dass der Islam, nach seinen Glanzzeiten im 9. und 10. Jahrhundert (Stichwort: al-Andalus), den Aufbruch in die Moderne bisher weder geschafft noch überhaupt gewagt hat. Im Gegenteil: Eine Untersuchung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2002 über den „Zustand menschlicher Entwicklung“ in der arabischen Welt kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis. Die arabischen Autoren dieser Untersuchung konstatieren für die Felder „Freiheit“, „Rechte für Frauen“ und „Bildung“, dass die arabischen Länder mit jenen in Schwarzafrika jeweils um den letzten Platz konkurrieren. Gesellschaftliche Stagnation und wirtschaftlicher Niedergang verstärken sich wechselweise. „Investitionen in das katastrophale Bildungswesen der arabisch-islamischen Welt, von der Grundschule bis zu den Universitäten“ hält Lüders deshalb angesichts regionaler Analphabeten-Quoten von 90 Prozent für die wichtigste Zukunftsaufgabe der Region. Diese Investitionen sind die Voraussetzung für die Entwicklung demokratischer Elemente und die „Entradikalisierung“ islamistischer Bewegungen, denn diese rekrutieren den Großteil ihrer Anhänger unter jenen, denen die gegenwärtigen Verhältnisse weder Ausbildung noch Arbeit und somit keine Chance für ein menschenwürdiges Leben bieten.
Das Buch von Michael Lüders ist in seiner stilistischen Mischung von Beobachtungen, erlebten Geschichten, Reflexionen und gelegentlichen polemischen Spitzen insgesamt gut zu lesen. Gelegentlich stören sprachliche und grammatikalische Schludereien, bei denen freilich nicht immer klar ist, ob sie dem Autor oder einem zu wenig sorgfältigen Lektorat geschuldet sind.
Im Herzen Arabiens – und Arabien im Herzen
Bemerkenswert und besonders hervorzuheben sind diese Qualitäten des Autors: Er schaut offenbar genau hin und hört geduldig zu. Damit kommt er der Mentalität seiner arabischen Gesprächspartner entgegen. Er stellt seine eigenen Urteile und Vorurteile immer wieder in Frage. Er kritisiert die undifferenzierte und opportunistische Sicht des Westens auf die arabisch-islamischen Verhältnisse ebenso schonungslos wie die selbst verschuldeten Defizite dieser Länder und das Versagen ihrer korrupten Regierungen, wobei er keinen Augenblick Zweifel daran aufkommen lässt, dass er diese Region und ihre Menschen in sein Herz geschlossen hat. Im Herzen Arabiens und Arabien im Herzen – das macht die Qualität und den Reiz des Buches von Michael Lüders aus.
Michael Lüders, Im Herzen Arabiens: Stolz und Leidenschaft - Begegnung mit einer zerrissenen Kultur, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2004, 224 Seiten, 19,90 Euro