"Fern bleibt der Itz von Zinnowitz"
Das schreibt Theodor Fontane, feinsinniger Porträtist der traditionellen Eliten des 19. Jahrhunderts, 1882 aus Norderney an seine Frau Emilie. Und der bekennende Fontane-Fan liest es mit Grausen.
Ludwig Thoma, blau-weiße Heimatdichter-Ikone, legt noch eins drauf, als er vierzig Jahre später in seiner Kolumne im Miesbacher Anzeiger schrieb: "Teiteles Cohn und Isidor Veigelduft, die dürfen im Sommer nach wie vor ihre verschnörkelten Haxen in die Lederbuxen stellen, am Arm ihre Rebekka im Dirndlg′wand, nach Veilchen und Knoblauch duftend."
Fontane wie Thoma stehen dafür, dass es längst vor Entstehung antisemitischer Organisationen und staatlich betriebener Judenverfolgung der Nazis einen gesellschaftlichen Antisemitismus gab, der den Alltag deutscher Juden erheblich beeinflusste, weil er ihr Recht auf Freizügigkeit beschnitt. Den dafür gebräuchlichen Begriff "Bäder-Antisemitismus" prägte die jüdische Presse, die zeitweilig alljährlich Listen mit Namen antisemitischer Erholungsorte und Beherbergungsstätten herausgab.
Frank Bajohr, Historiker an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, stieß mehr oder weniger zufällig bei der Lektüre einer Ausgabe der Vossischen Zeitung von 1925 auf dieses Phänomen. In ihr wurde von einem sogenannten "Borkum-Lied" berichtet, das dort tagtäglich von der Kurkapelle gespielt und von den Badegästen gesungen wurde. Darin hieß es:
"Borkum, der Nordsee größte Zier,
Bleib′ frei auch künftig fein,
Laß Rosenthal und Levysohn
In Norderney allein!"
Bajohrs weitere Recherchen ergaben schnell, dass es sich hier keineswegs um ein Einzelphänomen handelte, sondern dass dieser Bäder-Antisemitismus seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland weit verbreitet war.
Es gab nur wenige Ausnahmen: Norderney, Helgoland, Westerland auf Sylt, Wyk auf Föhr und Heringsdorf auf Usedom galten als judenfreundlich. Der Bäder-Antisemitismus war "ein Importphänomen, das in erster Linie von antisemitischen Gästen ausging" und im Schneeballeffekt schnelle Verbreitung fand. Von den Bade- und Kurverwaltungen wurde er mehr oder weniger geduldet, Hotel- und Pensionsbetreiber machten ihn sich zu Nutze, weil er einträgliche Geschäfte versprach.
Der Slogan: "Dieses Hotel ist judenfrei" wurde zur beliebten Werbeparole. Für Bajohr handelt es sich bei dieser Art Judenfeindschaft "um einen gesellschaftlich verankerten Antisemitismus, der unabhängig von den Konjunkturen antisemitischer Parteien und Institutionen auf längerfristige antijüdische Einstellungen innerhalb der deutschen Gesellschaft verwies."
Beim Grad der Judenfeindlichkeit gab es ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Dieses war konfessionell begründet: in den Ausgrenzungserfahrungen süddeutscher Katholiken im Bismarck′schen Kulturkampf. Große und von internationalen Gästen besuchte Kurorte wie Baden-Baden oder Bad Kissingen nahmen bereitwilliger jüdische Gäste auf als kleine. Die Gründe für den Bäder-Antisemitismus: In den Bade- und Kurorten spiegeln sich trotz Ferienidylle gesellschaftliche Konkurrenzkämpfe und Konflikte. Auch im Urlaubsort wiesen Aussehen und Auftreten auf den gesellschaftlichen (und finanziellen) Rang im Alltag hin. Und da war nun einmal nicht zu übersehen, dass wohlhabende und gebildete jüdische Kaufleute häufig spießige Landadelige in den Schatten stellten.
"Es war kein Zufall", so Bajohr, "dass Juden diese Aversionen in besonderer Weise auf sich zogen, weil sie als sozial mobile Bevölkerungsgruppe das verhasste soziale Aufsteigertum repräsentierten, das vor allem die weniger vermögenden Angehörigen der traditionellen Eliten als Bedrohung ihres gesellschaftliche Ranges ansahen." Fontane lässt grüßen. Gleiches galt für den bürgerlichen Mittelstand und die Kleinbürger, nachdem diese in stärkerem Ausmaß als im 19. Jahrhundert in den Badeorten verkehrten.
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs verschärfte sich dieser antisemitische Trend. Obwohl die Weimarer Republik der jüdischen Minderheit in Deutschland vollständige Gleichberechtigung garantierte, wurde das bis dahin herrschende Klischee vom jüdischen "Parvenü" ergänzt durch das des "Kriegsgewinnlers", "Schiebers" und "Spekulanten". Die Gründung des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes mobilisierte einerseits größere antisemitische Massen, andererseits gingen damit erstmals "gesellschaftlicher und politischer Antisemitismus eine engere Verbindung ein".
Die schnelle Ausbreitung des Bäder-Antisemitismus belegen die von der jüdischen Presse zur Orientierung potentieller Urlauber veröffentlichten Zahlen: Nahmen 1914 knapp einhundert Hotels und Pensionen keine jüdischen Gäste auf, waren es 1924 schon fast zweihundert und dreihundertsechzig im Jahr 1931. Und das, obwohl sich die Zahl der Beherbergungsbetriebe infolge der Wirtschaftskrise um die Hälfte verringert hatte.
Der Inselpastor als oberster Antisemit
Auch die Radikalität antisemitischer Ausgrenzung nahm rapide zu. An der Spitze der Bewegung stand neben Zinnowitz - "Fern bleibt der Itz von Zinnowitz"- wiederum Borkum, angeführt von dem lutherischen Inselpastor Münchmeyer. Die Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau bezeichnete er öffentlich als "Segen" und forderte: "Die Juden müssten in Deutschland ausgemerzt werden, wie es Polen gemacht habe".
Gegen solche Ausfälle gab es aber in der Weimarer Republik auch erstmals Gegenwehr. Im Falle Borkum wurden staatliche Organe vom Landrat bis zur Ministeriumsebene tätig und verboten das Spielen des "Borkum-Liedes". Und der Inselpastor Münchmeyer musste infolge eines gegen ihn angestrengten Prozesses zurücktreten. Das Verbot des "Borkum-Liedes" hob das Amtsgericht Emden allerdings mit einem skandalösen Urteil wieder auf.
Eine nochmalige Radikalisierung erfuhr der Bäder-Antisemitismus mit der Machtergreifung der Nazis. Zwar wurden die Reisemöglichkeiten von Juden von höchsten staatlichen Stellen zunächst nicht reglementiert. Das war aber auch gar nicht nötig, weil lokale Nazi-Organisationen diese Arbeit übernahmen. Waren bis 1933 die Badegäste die treibende Kraft beim Bäder-Antisemitismus gewesen, verlagerte sich die Initiative nach 1933 auf die " , Hoheitsträger" der örtlichen NSDAP sowie die neuen nationalsozialistischen Kur- und Gemeindeverwaltungen, die geradezu miteinander wetteiferten, ihren Badeort , judenfrei" zu machen".
Damit war der erste Schritt in Richtung "administrativer Ghettoisierung" vollzogen. Und diesem Trend folgten auch die bisher als judenfreundlich geltenden Bäder. Ein Hotelier aus Norderney, der vorher jüdische Gäste aufgenommen hatte und nun seine Geschäftsinteressen bedroht sah, verklagte die Bäderverwaltung. Ohne Erfolg. Das Landgericht Aurich wies die Klage mit Verweis auf das "herrschende Volksbewusstein" zurück.
"Keine Mosquitos, keine Malaria, keine Juden"
Damit war jüdischen Deutschen der Zugang zu den Nord- und Ostseebädern faktisch verwehrt. Die Ausgrenzung jüdischer Gäste aus den Kurbädern dauerte zwar länger, war aber vollzogen, lange bevor Juden in den Städten in die sogenannten "Judenhäuser" eingewiesen wurden.
In einem letzten Kapitel stellt Bajohr den Bäder-Antisemitismus als internationales Phänomen vor. Er entdeckte ihn vor allem in Österreich, im böhmischen Bäderdreieck um Karlsbad, Marienbad und Franzensbad und überraschenderweise in den Vereinigten Staaten. Hier priesen Hotelbesitzer ihre Vorzüge mit Parolen wie "Keine Mosquitos, keine Malaria, keine Juden". Erst Ende der sechziger Jahre fand diese amerikanische Segregation ein Ende.
Bajohr ist glücklicherweise zu sehr seriöser und akribischer Wissenschaftler, als dass auch nur der entfernte Verdacht aufkommen könnte, Bäder-Antisemitismus außerhalb Deutschlands entschuldige deutsche Untaten oder sei diesen gar gleich zu setzen. Mit seiner 2001 erschienenen Studie über "Parvenüs und Profiteure" hatte er zuletzt erhebliches Aufsehen erregt. Darin wies er überzeugend nach, dass das vom Nazi-Regime gepflegte Image einer unbestechlichen Ordnungsmacht zutiefst verlogen war, da das Regime auf allen Ebenen auf Korruption geradezu gründete. Die vorliegende Studie über Bäder-Antisemitismus hat auf Grund ihrer enger gefassten Thematik zwar nicht den gleichen Rang, bietet aber dennoch die ähnlich hervorragende Qualität und erheblichen Erkenntnisgewinn.
PS: Im Sommer wurde ich zufällig Ohrenzeuge eines Gespräches über Ferienziele. Die Orte X und Y an der Côte d′Azur könne man nun nicht mehr besuchen, hörte ich. Da seien ja jetzt "die Russen". Ist das der Fortschritt - dass man unerwünschte Urlaubsgenossen nicht mehr vertreibt, sondern die von ihnen besuchten Orte meidet?
Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei". Bäderantisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 233 Seiten, 12,90 Euro