Shock and awe im Ohrensaal

Die renommierte Atomwaffenexpertin Helen Caldicott erklärt die Vereinigten Staaten zur globalen Gefahr für die Staatengemeinschaft. Ihre These: Amerika steht kurz vor dem Einsatz von Nuklearwaffen

Mit einer Strategie des Shock and awe sollte das irakische Regime von Saddam Hussein zur Kapitulation gezwungen werden. "Schock und Entsetzen" ergreift auch den Leser dieses Buches - und hält ihn bis zum Schluss gefangen. Die renommierte Atomwaffenexpertin Helen Caldicott entwirft das Bild einer atomwaffenstarrenden USA. Im Vergleich dazu erscheint das angebliche Massenvernichtungspotenzial des Irak noch nicht einmal als Peanuts; wie sich gezeigt hat, existiert es gar nicht. Im Gegensatz dazu sind die Vereinigten Staaten bis an die Zähne bewaffnet. Anstatt nach dem Ende des Kalten Krieges abzurüsten, geben die Amerikaner 310 Milliarden Dollar jährlich für die Rüstung aus. Im Jahr 2002 stieg der Rüstungsetat auf 375 Milliarden Dollar - die russischen Rüstungsausgaben belaufen sich dagegen auf 5,1 Milliarden Dollar. Die Kombination von aggressiver Aufrüstungspolitik und missionarischem Eiferertum lassen die Vereinigten Staaten zu einer globalen Gefahr für die internationale Staatengemeinschaft werden. Wie Recht die Autorin mit ihrer Vermutung hat, belegen die jüngsten Attacken auf Syrien. Die Aggression der USA scheint über den Irak hinauszugreifen.

Auf dem Weg in die weltweite Katastrophe?

"Wir steuern rasant auf eine weltweite Katastrophe zu. Im Weißen Haus sitzt ein kampflustiger und schlecht unterrichteter Präsident ..., der von seinem Mitarbeiterstab gesteuert wird, den er aus der Industrie rekrutiert hat und der so viel amerikanische Steuergelder wie nur irgend möglich abschöpfen möchte, um immer exotischere und gefährlichere Waffen damit zu bauen. Die Ministerkandidaten der Regierung Bush gehören zu den aggressivsten und extremsten der jüngsten Geschichte, und alarmierend viele Mitglieder von Bushs Stab haben direkte Verbindungen zu Lockheed Martin", schreibt Helen Caldicott.


Die Autorin, die das Nuclear Policy Research Institute in Los Angeles leitet, vertritt die atemberaubende These, dass die US-Administration mit ihrer aggressiven Präventivkriegspolitik unter großem Druck der Rüstungsindustrie steht, Atomwaffen einzusetzen, damit diese neue produzieren kann. Diese These scheint in der Tat sehr gewagt, da die Vereinigten Staaten nur gegen Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs jemals Atomwaffen eingesetzt haben. Auf den ersten Blick scheinen die Ausführungen von Caldicott insofern verschwörungstheoretisch zu sein. Washingtons politische Elite ist aufs engste mit der Wirtschaft verflochten. Dies ist aber für die Vereinigten Staaten normal und per se nicht anstößig. Gleichwohl hält die Autorin an ihrer Behauptung fest:


"Die Vereinigten Staaten selbst kamen in Afghanistan dem Einsatz von Atomwaffen bedrohlich nahe, was leicht einen atomaren Gegenschlag hätte provozieren können. Über den Einsatz der schrecklichsten bekannten konventionellen Waffen hinaus empfahl das amerikanische Verteidigungsministerium die Verwendung taktischer Atomwaffen, und einige Kongressmitglieder rieten dringend zum Einsatz kleiner atomarer "Bunker Busters". Bush-Berater - darunter auch Stephen Headley, William Schneider und der stellvertretende US-Sicherheitsberater Stephen Cambone - sprachen sich ebenfalls für die Verwendung von Atomwaffen aus."

Die engen Verbindungen zwischen der Bush-Administration und dem militärisch-industriellen-Komplex vermag die Autorin plausibel zu belegen. Die hohen finanziellen Zuwendungen dieses Industriezweiges an die Partei von Bush sprechen für ihre These. Führende Mitarbeiter seiner Administration wie Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld oder Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und zahlreiche andere hatten hohe Positionen in der Industrie inne. Im nachhinein scheint die Entwicklung im Irak die These von Caldicott zu stützen, weil die US-Truppen zuerst die Ölfelder und das Ölministerium besetzt und geschützt haben, wohingegen sie den Rest Vandalen überlassen haben.


Neben der Entwicklung von High-Tech-Waffen wie Benzinbomben, Cluster- und Streubomben sowie Bunker Busters (die eine ähnliche Wirkung haben wie taktische Atombomben, nur ohne Strahlung), haben die Vereinigten Staaten ein Manhattan II-Projekt zur Entwicklung neuer Atomwaffen aufgelegt. Das unter dem Codenamen SS&M (Stockpile Stewardship und Management Program) laufende Programm war ursprünglich dazu gedacht, das reibungslose Funktionieren der vorhandenen US-Atomwaffen sicherzustellen.

Kämpferisch, nationalistisch, provokant

"Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gaben die USA im Durchschnitt 3,8 Milliarden Dollar für die Entwicklung, Test und Herstellung von Atomwaffen aus. Nun, zwölf Jahre nach Ende des Kalten Krieges, werden sie die Ausgaben für ein Projekt, das sowohl gegen den Atomteststoppvertrag als auch gegen den Atomwaffensperrvertrag verstößt, jährlich fünf Milliarden Dollar betragen."


Neben der Entwicklung einer neuer Generation von Atomwaffen bereiten sich die Vereinigten Staaten auf eine Kriegsführung im Weltraum vor. Auch hier spielen die Rüstungsunternehmen eine zentrale Rolle als Scharnier zwischen Militär und Bevölkerung durch die Verbreitung von Unmengen an Propagandamaterial. Das Buch Military Space Forces liefert das Rezept für eine solche Kriegsführung: "Es ist kämpferisch, nationalistisch, provokant, sorgfältig recherchiert und zutiefst beunruhigend zugleich", schreibt Caldicott. "Und es bildet über weite Strecken die Basis für die offizielle US-Politik hinsichtlich einer Militarisierung des Weltalls."


Caldicott weist auf die Gefahren für Soldaten und Zivilisten hin, die durch den Einsatz von abgereicherter Uranmunition entstehen, wie sie im Zweiten Golfkrieg und im Kosovo durch die Amerikaner eingesetzt worden sind. Tausende von US-Soldaten seien an den Folgen gestorben. Um die irakische Zivilbevölkerung habe sich niemand gekümmert. Setzten die USA auch in diesem Krieg wieder diese Art von Munition ein? Hat sich die deutsche Bundesregierung gefragt, ob nicht auch die deutschen Soldaten in Kuwait Bestrahlungen ausgesetzt sein könnten? Auch diese Behauptung der Autorin muss mit anderen Ansichten konfrontiert werden. Die abgereicherte Uranmunition hat eine hohe Durchschlagskraft; sie ist billig, weil sie aus Abfallprodukten aus Kernkraftwerken hergestellt wird. Ihr Einsatz ist nicht verboten, da das verwendete Uran-Isotop U 236 schwachstrahlig ist, also unter strahlenbiologischen Gesichtspunkten ungefährlich. Die Organisation Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), die Calidicott in den USA mitgegründet hat, widerspricht jedoch dieser Verharmlosung. Die erhöhte Todesrate im Südirak und das Golfkriegs-Syndrom scheinen ihre Bedenken zu bestätigen.

Worüber dringend geredet werden muss

Abgerundet wird das Buch durch einen umfangreichen Anhang über die wichtigsten US-Atomwaffenhersteller, Atomwaffenkontrollzentren, Standorte der meisten einsetzbaren Atomwaffen, Regierungsbehörden sowie Organisationen, Medien und Institutionen für Frieden und Abrüstung. Nachdem der Krieg im Irak zu Ende gegangen ist, muss neben der Verantwortung für diesen völkerrechtswidrigen Überfall auch über das gigantische Atomprogramm der Vereinigten Staaten geredet werden. Caldicotts Buch unterstreicht nicht nur die Dringlichkeit, sondern benennt auch die Gefahren für den Weltfrieden, die von dieser Art von Politik ausgehen. Ein schrecklich faszinierendes Buch.

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