Die Lage ist verdammt ernst

Noch macht der Kanzler marxistische Witzchen. Doch in Zukunft muss Familienpolitik zum Zukunftsthema allererster Ordnung werden wie Wirtschaft und Finanzen. Ohne bessere Bedingungen für die Familiengründung hat Deutschland keine Zukunft

Die SPD ist gemeinsam mit der Wirtschaft dabei, Deutschlands wichtigstes Zukunftskapital zu verspielen - die Familien. Und das, obwohl in keiner Rede Gerhard Schröders, in keinem Regierungsprogramm das dringliche rhetorische Bekenntnis zu mehr Familienfreundlichkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf fehlt. Das von der Familienministerin angeschobene, von Arbeitgebern und Gewerkschaften mit getragene Programm Allianz für die Familie ist löblich, erzeugt aber viel zu schwachen Handlungsdruck. Nötig wäre ein Krisengipfel, dem ein Marshall-Plan für Familien folgt, der sich zudem noch an den Bedürfnissen sich verändernder Biografien von Frauen orientiert, die mehr denn je auf eigene Erwerbstätigkeit angewiesen sind und diese auch einfordern - bei inzwischen häufig höherer Qualifikation als Männer.

Deswegen muss prioritär in ein umfangreiches und bildungspolitisch hochwertiges Betreuungsangebot investiert werden. Das ist Familienförderung pur. Debatten darüber, ob kindliche Fremdbetreuung schadet, gehören ins Zeitalter der Ideologien, denn diese These ist schlechterdings nicht belegbar. Sie hat aber eine große subversive Macht, weil sie einer gängigen deutschen Mentalität entspricht und Schuldgefühle arbeitender Mütter noch verstärkt. Derzeit geht es darum, das "Modell Familie" überhaupt noch zu ermöglichen. Die Qualitätsicherung von Betreuung ist ein notwendiger Aspekt, um durch reine Kinderverwahrung mögliche Schäden zu verhindern. Und solange es - frühestens 2006 - vielleicht gerade mal für jedes fünfte Kind unter drei Jahren überhaupt einen Betreuungsplatz gibt und die meisten Schüler noch mittags nach Hause kommen, braucht man nicht jetzt darüber zu diskutieren, ob flächendeckende Fremdbetreuung Kindern schadet: Thema verfehlt!

Was derzeit auf politischer Ebene getan wird, reicht nicht annähernd aus, um das Geburtenproblem unseres Landes zu lösen. Man zimmert die größten Löcher an einem windschiefen Haus zu, weil man meint, jetzt für eine umfassende Renovierung kein Geld zu haben. Doch wenn das Haus zehn Jahre später umkippt, werden die Folgekosten ungleich höher sein.

Auf Platz 185 unter 190 Ländern

Deutschland gehen die Kinder aus, das haben die Politiker inzwischen erkannt - in einer Zeit, in der sie schon von der Weltbank darauf hingewiesen werden, dass die Geburtenrate Platz 185 von 190 Ländern einnimmt. In der Tat, Deutschlands Geburtenrate gehört inzwischen weltweit zu den Schlusslichtern. Aber warum man was dagegen tun soll, ist ihnen nicht klar. Ex-Bundespräsident Roman Herzog führte das Defizit jüngst bei seiner Rede vor den Delegierten des Leipziger CDU-Parteitags auf den "geistigen Verarmungsprozess" einer angeblich zunehmend kinderfeindlichen Gesellschaft zurück und warnte davor, allzu hohe Erwartungen in eine staatliche Familienförderung zu setzen.

Dem Bundeskanzler fiel zum selben Thema bei einer Tagung des Managerkreises der Ebert-Stiftung in Berlin jüngst zwar noch ein marxistisches Witzchen ein ("Das Problem ist, dass die Produktionsmittel dazu in Privateigentum sind"). In Wahrheit aber ist die Lage verdammt ernst. Immerhin: Der Ebert-Managerkreis selbst sieht in der Familienpolitik, wie auch Trendforscher Matthias Horx, das "Megathema" der Zukunft. Familienpolitik wird künftig gleichrangig wie Wirtschafts- und Finanzpolitik behandelt werden müssen. Keine Debatte wird mehr über die Rentenreform oder die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme geführt werden, ohne dass man immer wieder beim selben Problem landet: Adenauers Annahme, dass Kinder sozusagen automatisch zur Welt kommen, stimmt schon längst nicht mehr; der Nachwuchs an Beitragszahlern fehlt; das System hat aufgehört, sich zu rechnen. Nun doktert die Politik an der zu lang verpassten Reform der Kranken- und Altersversorgung herum und läuft Gefahr, den nächsten Fehler zu machen - nämlich über 2010 hinaus zu verschieben, was dringend heute erledigt werden müsste: dass die Menschen bessere Rahmenbedingungen bekommen, um Familien zu gründen.

Kinderlose werden kritisch beäugt

Kinderkriegen ist eben nicht nur Privatsache, keine Frage der Selbstverwirklichung oder ein individuelles Problem unerfüllter Kinderwünsche. Die Kinderlosigkeit ist nicht nur eine Ursache der Unfruchtbarkeit manch verzweifelten Paares, die in Arztpraxen zu beheben versucht wird. Es ist ein Problem der Gesellschaft geworden. Das Private wird an seiner sensibelsten Stelle politisch - da wo sich vom Gesetzgeber nun wirklich nicht hinein regieren lässt. Was kann und darf da der Staat überhaupt fördern und fordern? Und wie verträgt sich das mit einem modernen Frauenbild, das sich gerade erst in der Mentalität der Gesellschaft etabliert?

Je rarer Kinder werden, desto kritischer werden die Kinderlosen beäugt. Das ließ sich im Vorfeld des CDU-Parteitages im Dezember 2003 bei den Regionalkonferenzen der Parteivorsitzenden Angela Merkel beobachten, die ihre von der Herzog-Kommission erarbeiteten Reformkonzepte unter das eigene Parteivolk brachte. Gerade junge Eltern favorisierten in heftigen Diskussionen das Renten-Modell der Schwesterpartei CSU, das für Kinderlose höhere Rentenbeiträge und niedrigere Rentenauszahlungen vorsieht als für Eltern. In der Berliner Parteizentrale erzeugt das bei jüngeren CDU-Politikerinnen Zähneknirschen. Von Stoibers "Mutterkreuzpolitik" ist da hinter vorgehaltener Hand schon mal die Rede und von "Kinderkopfprämien": Das gehe zu weit. Vor allem die Frauenunion übt auch öffentlich Kritik. Sie wirft der CSU vor, Kinderlose zu bestrafen und an den Pranger zu stellen. Kinderlose würden gegen Familien ausgespielt, die Gesellschaft in Kinderhabende und Kinderlose gespalten.

Hohe Ausgaben, miese Resultate

Der Rentenvorschlag sei "unseriös und nicht finanzierbar", reagierte Familienministerin Renate Schmidt prompt in Berlin. Die Rentenversicherung dürfe nicht familienpolitisch zweckentfremdet werden. Die Politik muss im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts einen gerechteren Ausgleich zwischen beiden Gruppen finden, doch das alleine löst das deutsche Nachwuchsproblem noch nicht. Tatsächlich scheint finanzieller Ausgleich eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung zu sein. Deutschland ist im OECD-Vergleich eines der ausgabefreudigsten Länder, was öffentliche Investitionen in Familien betrifft. In anderen sozial und kulturell vergleichbaren Ländern aber gibt es deutlich mehr Kinder, gleichzeitig weisen diese Staaten eine geringere Familienarmut, bessere Bildungsergebnisse und eine höhere Frauenerwerbsquote auf. Ein scheinbarer Widerspruch, den Familienministerin Renate Schmidt derzeit bei öffentlichen Auftritten, Bündnissen mit der Industrie und unter Zuhilfenahme neuer Studien aufzulösen versucht.

Erstmals fand sich auch ein bekannter Ökonom, der gemeinsam mit einer deutschen Familienministerin all dies einforderte: Der Wirtschaftssachverständige Bert Rürup begründete aus volkswirtschaftlicher Sicht den Nachwuchsbedarf, der nicht so sehr über die Rentenversicherung, sondern vor allem durch eine hohe Frauenerwerbstätigkeit und bessere Kinderbetreuungsangebote zu verwirklichen sei. Eine alternde Gesellschaft, der Kinder fehlen, sei wesentlich weniger dynamisch und innovativ, vermutet Rürup.

Unter allen Ländern der EU hat Deutschland die höchste Kinderlosenquote, besonders bei gut- bis hochqualifizierten Frauen, von denen mindestens ein Drittel dauerhaft kinderlos bleibt, weil sich nach Rürups Worten "Familien- und Erwerbstätigkeit nur mit großem Kraftaufwand und unter erheblichem Verzicht vereinbaren lassen". Umfragen zufolge zählen Kinder zugleich aber zu den Lebenswünschen der Deutschen. Es gehe also nicht um ein "Feintuning der Bevölkerung", sondern darum, die Entscheidung für das erste Kind zu begünstigen. Dazu müsse der Wiedereinstieg in den Beruf erleichtert werden, sagt Rürup in Übereinstimmung mit vielen anderen Experten. In den familienpolitisch erfolgreicheren Ländern fließt der Großteil der Mittel nicht in direkte Transfers wie Kindergeld, sondern in Dienstleistungen bei Betreuung, Bildung und Erziehung. Genau hier investiert Deutschland wenig.

Mehr arbeiten und mehr Kinder kriegen

Für die Regierung geht es hier um eine Gratwanderung zwischen Bevölkerungspolitik und dem Versuch, erwerbstätigen Paaren diejenigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie brauchen, um sich ihre Kinderwünsche erfüllen zu können. Immer weniger entsprechen die Familien dem traditionellen Muster mit einem männlichen Ernährer und einer Hausfrau, auf dem die Sozialpolitik noch zu stark basiert. Einerseits sollen Frauen mehr arbeiten, andererseits mehr Kinder kriegen; gleichzeitig verbessern sich die Betreuungsangebote trotz der Investition des Bundes von 8,5 Milliarden Euro nicht über Nacht, sondern eher langsam im Laufe der nächsten zehn Jahre. Für Schulen und Kinderbetreuung sind Länder und Kommunen zuständig. Zudem ist mehr als unklar, ob diese Gelder in dem propagierten Umfang zu diesem Zwecke tatsächlich fließen werden. Diesen Zweifel räumt man inzwischen auch in Kreisen der Familienministerin ein. Letztlich ist diese Zahl wohl nur reine Regierungsrhetorik im verminten Gelände zwischen der Gemeindefinanzreform und den Eigeninteressen verarmter Kommunen, in dem sich die durch den Föderalismus weitgehend machtlose Familienministerin bewegt.

Der Sonderweg war eine Sackgasse

Warnfried Dettling, Vordenker im Familienministerium unter dem Christdemokraten Heiner Geißler, berät heute auch Renate Schmidt. Er sagt, die Union habe zu lange darauf gesetzt, durch die Verknappung der Kinderbetreuung Frauen vom Arbeitsmarkt fern halten zu können - in der Hoffnung, dadurch mehr Kinder und weniger Arbeitslose hervorzubringen: "Der Sonderweg ging nicht auf". Genau dieser Hintergedanke aber sei immer noch in den aktuellen politischen Forderungen nach Familiengeld zu erkennen, ein Anreiz vor allem für Mütter, nicht erwerbstätig zu werden. Dettling glaubt, dass sich die kulturelle Akzeptanz der Berufstätigkeit von Müttern in Deutschland erst noch durchsetzen muss und fordert zugleich: "Man muss etwas dafür tun, dass im Gegenzug die Männer in der Familie mehr Arbeitszeit verwenden."

Zusammenfassend ergeben sich daraus die folgenden Thesen, die für Franzosen oder Schweden so selbstverständlich klingen, dass sie eigentlich auch hierzulande schon längst umgesetzt sein müssten:

Erstens besteht gleich aus mehreren Gründen politischer Handlungsdruck, Familiengründungen zu fördern und Kinderlosigkeit zu verringern: Zum einen aus individueller Sicht der Menschen, die den existenziellen Wunsch nach Familiengründung und Nachwuchs nicht verwirklichen können, weil sie Familie und Beruf als unvereinbare Gegensätze erleben. Zum anderen ist es aus volkswirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Sicht geboten, die Qualifikation von Müttern und Vätern weiter zu nutzen, statt diese aus dem Arbeitsprozess heraus zu drängen. Und schließlich ist die Funktion der sozialen Sicherungssysteme durch den Mangel an Nachwuchs akut gefährdet.

Jetzt muss der Chef die Sache übernehmen

Zweitens muss Familienpolitik aus wirtschaftspolitischer Sicht als Zukunftsinvestition ersten Ranges begriffen, zur Chefsache erklärt und entsprechend behandelt werden.

Drittens darf dies aber nicht zu einer vormodernen Gebärförderung führen, die Frauen dafür bezahlt, dass sie zu Hause zu bleiben und damit scheinbar den Arbeitsmarkt entlasten. Sowohl die eigenständige finanzielle Existenzsicherung der Frauen im Alter sowie langfristig auch der Arbeitsmarkt würden hierunter leiden. Obendrein entspricht dieser Weg nicht den Wünschen der Menschen.

Viertens sind entscheidende Faktoren nicht etwa neue finanzielle staatliche Transfers in die Familien hinein. Nötig ist eine groß angelegte und schnelle Förderung des Betreuungsangebotes, ein Mentalitätswandel in den Unternehmen, die Eltern fördern müssen, sowie schließlich eine stärkere Beteiligung von Männern an Familienaufgaben.

Fünftens dürfen Kinderlose nicht stigmatisiert werden. Verhindert werden muss ein "Klassenkampf" zwischen einander feindlich gegenüber stehenden Gruppen von Kinderlosen und Kindeseltern, die sich von der je anderen Seite ausgebeutet fühlen.

Sechstens muss das Thema Kinderbetreuung entideologisiert werden und darf nicht mehr als Schreckensszenario dienen. Die Qualitätssicherung der Betreuung mit integriertem Bildungsangebot muss ebenso selbstverständlich sein.

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