»Nur ich vertrete das ›wahre Volk‹ - meint der Populist«
Herr Müller, Sie leben und arbeiten in den USA. Hat sich das Land durch Donald Trumps Wahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur verändert?
Die Grenzen des öffentlich Sagbaren haben sich verschoben. Trump hat auf eine Weise zu Hass angestachelt, die man anderen Politikern in der Form nicht hätte durchgehen lassen. Enorm geholfen hat ihm dabei, dass er bereits vorher als ein celebrity bekannt war, der immer gut für Einschaltquoten ist. Und die Tatsache, dass viele Politiker und Journalisten Trump persönlich kennen, hat zu einer gewissen Nachsicht gegenüber seiner Person beigetragen, die man gegenüber einem Provinzpolitiker aus den Südstaaten wohl nicht an den Tag gelegt hätte. Vor allem aber: Trumps Erfolg hat demonstriert, dass es eine Wählerschaft gibt, die sich von der kulturell-moralischen Entwicklung des Landes entfremdet fühlt und die sich über ein zukünftiges „Majority--Minority America“ Sorgen macht, in dem die Weißen nicht mehr in der Mehrheit sind. Viele dieser Wähler haben offenbar auch autoritäre Vorstellungen von Politik. Zugleich haben sie jedoch legitime wirtschaftliche Anliegen – die sich aber auch nicht dadurch lösen lassen, dass man keine Mexikaner mehr ins Land lässt.
Der amerikanische Journalist Chris Hedges hat Trumps Aufstieg als faschistische Rache des kleinen weißen Mannes an den liberalen Eliten in Washington bezeichnet.
Hedges’ Äußerung zeigt, dass amerikanische Eliten überhaupt keine Vorstellung mehr davon haben, was Faschismus eigentlich bedeutet – aber auch, was die linksliberalen Eliten in den USA immer wieder falsch machen. Diese Von-oben-herab-Haltung gegenüber dem „kleinen Mann“ offenbart, dass dieser nicht als jemand ernstgenommen wird, mit dessen Argumenten man sich auseinandersetzen muss, denken Sie etwa an die Diskussion über TTIP oder TPP. Stattdessen reduziert man seine politische Haltung auf subjektive Ressentiments und Rachebedürfnisse – und merkt gar nicht, wie abwertend dies ist. Solche Emoti-onen haben auch Gründe, die jeder Bürger artikulieren kann und soll. Das heißt nicht, dass man die Selbstbeschreibungen oder die politischen Rezepte der Anhänger von Populisten einfach akzeptieren muss (wobei mit den materiellen Argumenten einfacher umzugehen ist als mit den kulturell-moralischen). Aber man wäre einen Schritt weiter in der demokratischen Auseinandersetzung, statt hilflose psychologische Diagnosen zu bemühen.
Bernie Sanders erhält ebenfalls viel Zulauf von Wählern, die sich vom Establishment im Stich gelassen fühlen. Viele halten ihn deshalb für einen Populisten. Sie auch?
Trump vertritt im Gegensatz zu Sanders einen moralischen Alleinvertretungsanspruch: Angeblich repräsentiert er und nur er allein das wahre Amerika. Diesen Anspruch verdichtet er in der symbolischen Formel „Make America Great Again“ – eigentlich eine Leerformel, die aber zugleich den politischen Gegner als Feind dieser „American Greatness“ ausweist. Sollte Trump verlieren, wären also nicht er oder die Wähler Schuld, sondern die ohnehin betrügerischen Eliten. All dies sehe ich bei Sanders nicht. Er kritisiert die Eliten und bestimmte politische Entscheidungen zwar auch, aber dadurch wird man noch nicht zum Populisten.
Was genau macht einen Populisten aus?
Meine These ist, dass dem Populismus eine ganz bestimmte Politikvorstellung zugrunde liegt: die Idee eines moralisch reinen und homogenen Volkes, dem unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen, wobei letztere eigentlich gar nicht dem Volk angehören. Und nur der Populist vertritt das wahre Volk: Wer sich ihm entgegenstellt, entlarvt sich auch gleich als – um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen – „Polen der schlimmsten Sorte“. Also: Der Populismus ist nicht nur antielitär, er ist auch antipluralistisch. Wenn dem nicht so wäre, wäre jegliche Kritik an den Eliten automatisch populistisch. Es ist aber erst der moralische Alleinvertretungsanspruch, der die Populisten wirklich zu Populisten und ihr Verhältnis zur Demokratie so problematisch macht.
Auch in vielen anderen Ländern sind Populisten im Aufwind. Wie kommt es, dass populistische Ideen in so unterschiedlichen Ländern an Zuspruch gewinnen?
Ich wäre mit Verallgemeinerungen vorsichtig. Es ist wichtig, dass wir den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext berücksichtigen. In manchen Ländern gibt es keine nennenswerte Linke mehr, weshalb sich die Opposition gegen Regierungsparteien in der Unterstützung von rechtspopulistischen bis hin zu rechtsextremen Gruppierungen ausdrückt, denken Sie an PiS in Polen oder Jobbik in Ungarn. Es stimmt allerdings auch, dass es – wie Hanspeter Kriesi gezeigt hat – in vielen politischen Kulturen eine neue Konfliktlinie zwischen Öffnung und Schließung gibt, etwa gegenüber Migranten, der globalen Wirtschaft und anderen Kulturen. Wenn sich diese Konfliktlinie weniger an wirtschaftlichen Interessen festmacht, sondern in Identitätspolitik übersetzt wird, schlägt die Stunde der Populisten.
Woran erkennen wir populistische Identitätspolitik?
In politischen Auseinandersetzungen geht es dann primär um die Frage, wer dazugehört und wer nicht. Politische Entscheidungen treten hingegen in den Hintergrund, obwohl sie letztlich bestimmen, wer von einer bestimmten Entwicklung profitiert und wer nicht. Gleichzeitig schaukeln sich Technokratie und Populismus gegenseitig hoch: Wer ständig gesagt bekommt, gewisse politische Grundentscheidungen – Stichwort Euro –seien alternativlos, ist eher geneigt, den Populisten zu folgen. Deren erklärtes Ziel ist es ja, den vermeintlichen Volkswillen wieder zur Geltung bringen. In einem Aspekt sind sich Populisten und Technokraten also ziemlich ähnlich: Letztere meinen, es gebe nur eine einzige korrekte Policy, während Populisten behaupten, sie repräsentierten den einzig wahren und moralisch richtigen Willen des Volkes. Beide lassen keinen Raum für demokratische Auseinandersetzung.
Neben Ungarn hat jüngst besonders Polens autoritäre Wende und vor allem die umstrittene Reform des Verfassungsgerichts für Aufsehen gesorgt. Anders als im Falle Ungarns hat die EU aber viel schneller reagiert und im Januar ein Verfahren zur Prüfung der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet.
Auch hier müssen wir den politischen Kontext beachten: Die ungarische Fidesz gehört der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) an und wird auch heute noch weitgehend von den europäischen Christdemokraten gedeckt. Die polnische PiS hat als Mitglied der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) eher eine Außenseiterrolle inne. Jarosław Kaczy´nski wurde von Beginn als eine Art Extremist wahrgenommen, während Viktor Orbán immer noch den Ruf genießt, ein verantwortungsvoller Mann der Mitte zu sein, der gelegentlich über die Stränge schlägt. Zudem hat Fidesz sich eine eigene Verfassung geschrieben – und zwar auf legalem Wege. Der PiS fehlt dazu die Mehrheit. Deshalb muss sie die existierende Verfassung brechen. Kurzum: Bei Fidesz mussten wir immer über demokratische Legitimität reden. Im Falle von PiS ist es einfacher, der Regierung Illegalität nachzuweisen – was Kritikern sowohl im Inneren als auch von außen enorm hilft. All dies erklärt, warum es die EU bei Polen einfacher hat.
Auf Kritik von außen reagiert die polnische Regierung allerdings bislang trotzig. Sie haben den Vorschlag gemacht, eine Kommission solle regelmäßig überprüfen, ob die EU-Mitgliedsstaaten die „Kopenhagener Kriterien“ einhalten, etwa Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wieso schöpft man nicht erst einmal die vorhandenen Instrumente voll aus?
Letztlich reichen die vorhandenen Instrumente nicht aus. Der 2014 eingeführte Rechtsstaatsmechanismus ändert nichts daran, dass als Sanktionsmöglichkeit am Ende nur Artikel 7 des EU-Vertrags bleibt, darunter die Suspendierung des Stimmrechts im Europäischen Rat. Ich sehe allerdings keine Anzeichen dafür, dass eine ausreichende Zahl von Mitgliedsstaaten diesen wirklich anwenden will. Deshalb ist eine unabhängige Kommission erforderlich, die im Ernstfall auf eigene Faust tätig werden kann – etwa wenn Institutionen in einem Land kurzfristig radikal umgestaltet werden. Eine solche Kommission wird umso notwendiger, wenn die EU-Kommission – wie von vielen Seiten gewünscht – politischer wird. Dann kann Brüssel nicht wie bisher als unparteiischer Hüter der europäischen Werte auftreten. Zudem könnte eine solche Kommission eigenständig finanzielle Sanktionen beschließen – und hätte damit ein besseres Druckmittel in der Hand, gerade bei Ländern die auf die finanzielle Unterstützung aus Brüssel angewiesen sind.
Ihnen zufolge hat sich nach 1945 in weiten Teilen Europas eine „eingeschränkte“ Form der Demokratie durchgesetzt – gekennzeichnet durch starke Verfassungsgerichte und supranationale Verträge. Heißt dies, dass populistische Forderungen nach einer „wahren“ Volksdemokratie eine notwendige Begleiterscheinung unserer Demokratie sind?
Ich glaube, dass unsere Demokratien stets angreifbar sind durch eine Kritik, das Volk bleibe eigentlich außen vor. Nur: „Das Volk“ kann ja gar nicht in unverfasster Form agieren und schon gar nicht im Singular auftreten; man muss als Kritiker also eigentlich immer dazu sagen, wie mehr Volksbeteiligung genau aussehen soll. Die Kritik kann einen populistischen Charakter annehmen, wenn es gar nicht um echte Partizipation geht, sondern um den symbolischen Alleinvertretungsanspruch der Populisten. Oder sie kann – wie bei sozialen Bewegungen oder zivilgesellschaftlichen Initiativen – die tatsächliche Forderung nach mehr Beteiligung umfassen, etwa durch Bürgerforen oder direkte Volksabstimmungen.
Von einer Situation wie in Polen sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Aber: Die rechtspopulistische AfD ist mittlerweile in acht Landesparlamenten vertreten. Welche Strategie sollte man im Umgang mit Populisten verfolgen, damit sie nicht noch stärker werden?
Zunächst ist es wichtig, zu unterscheiden, wer Populist ist und wer nicht. Wer etwa die Eurozone oder den Finanzkapitalismus kritisiert, wird nicht automatisch zum Populisten. Wir müssen also zwischen der inneren Logik des Populismus und bestimmten, oftmals als „populistisch“ bezeichneten politischen Inhalten differenzieren. Erst dann wird es uns gelingen, die gegenwärtige Situation in Europa zu verstehen – und darauf zu reagieren.
Was heißt das konkret?
Nun ja, es geht um die Art und Weise, in der wir politische Konflikte austragen: etwa zwischen jenen, die mehr internationale Öffnung befürworten und jenen, die sich für mehr Abgrenzung stark machen. Konkret bedeutet dies, dass man nicht annehmen darf, dass letztere automatisch Populisten sind. Als „Kosmopolit“ sollte man nicht so tun, als wären die Argumente der Gegenseite völlig illegitim. Es ist nicht gesagt, dass alle Bürger von „mehr EU“, mehr Freihandel oder mehr Zuwanderung profitieren. Aber: Genauso wenig sollten die Kritiker den Konflikt moralisieren – im Sinne von: „Ihr habt uns verraten“. Es geht also darum, den Konflikt überhaupt anzunehmen, und nicht davon auszugehen, dass supranationale Integration per se progressiv und moralisch besser ist. In beiden Fällen ist der moralische Alleinvertretungsanspruch problematisch, weil er allenfalls zur Eskalation des Konflikts beiträgt.
Einige Politiker vermeiden bewusst die direkte Auseinandersetzung mit der AfD. Ein prominentes Beispiel ist die Weigerung Malu Dreyers, an einer gemeinsamen Fernsehdebatte mit der AfD teilzunehmen.
Die Gesprächsverweigerung halte ich für grundfalsch. Damit verstärkt man ja nur den Eindruck, die derzeit Mächtigen scheuten die Auseinandersetzung mit den vermeintlich wahren Vertretern des Volkes. Wer wirklich der Auffassung ist, dass die AfD nicht auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, kann dies auch offen sagen, müsste in der Konsequenz aber auf einen Verbotsantrag in Karlsruhe hinwirken.
Manch einer hofft auch, dass sich Populisten wie die AfD von selbst entzaubern, sobald sie im Parlament vertreten sind.
Sicherlich müssen Parteien auch „liefern“. Sie können nicht als durchweg inkompetent in der tagtäglichen parlamentarischen Arbeit erscheinen. Nur: Populismus ist immer Identitätspolitik. Ob eine Partei symbolisch attraktiv ist, hat nicht nur etwas mit sachlichen Argumenten und parlamentarischer Arbeit zu tun. Deswegen muss die Auseinandersetzung auch über Fragen des politischen Selbstverständnisses erfolgen: Welches Deutschland wollen wir? Und: Können wir uns auf gemeinsame Prinzipien des Zusammenlebens verständigen, die direkte Identitätsfragen etwas herunterdimmen? Ich denke da etwa an die Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Man könnte diese Frage auch auf einer abstrakteren normativen Ebene verhandeln, anstatt auf der Ebene „Gehört X nun zu Deutschland oder nicht?“. Zum Beispiel: Ist es nicht wichtig, dass wir Religionsfreiheit für alle Religionen im gleichen Maße gewährleisten – auch für den Islam? Und man also beim Bau von Moscheen nicht diskriminiert?
Brauchen wir auch ein neues Narrativ, um wieder eine emotionale Identifikation mit der Demokratie zu ermöglichen – etwa das Narrativ des Verfassungspatriotismus?
Der Verfassungspatriotismus beinhaltet zwar ein Narrativ, ist aber primär eine Sache von Prinzipien. Über letztere sollten wir reden, anstatt über Gefühle. Ich glaube auch nicht, dass das Grundproblem mangelnde emotionale Identifikation ist. Denn: Emotionen haben immer auch Gründe, die die Bürger artikulieren können und sollen.
Jan-Werner Müllers Buch "Was ist Populismus?: Ein Essay" ist bei Suhrkamp erschienen. Es hat 160 Seiten und kostet 15 Euro.