»Wachstum ist zur Religion geworden«

Was tun, wenn es kein Wachstum mehr gibt? In seinem neuen Buch »Exit« fordert Meinhard Miegel nicht weniger als eine kulturelle Revolution. Miegel war in den siebziger Jahren Abteilungsleiter in der Bundesgeschäftsstelle der CDU, heute ist er Vorsitzender der Stiftung »Denkwerk Zukunft«. Mit ihm sprach Piotr Buras, Berliner Korrespondent der polnischen Tageszeitung »Gazeta Wyborcza«

Die deutsche Wirtschaft ist 2009 um fünf Prozent geschrumpft, im laufenden Jahr wird das Wachstum wohl bestenfalls minimal ausfallen. Anderen Ländern ergeht es nicht viel besser. Diese Entwicklung scheint Sie aber nicht sonderlich zu kümmern: Als die schwarz-gelbe Bundesregierung das „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ verabschiedete, kritisierten Sie, mehr Wachstum sei das falsche Ziel. Dabei weiß doch jedes Kind, dass wir ohne Wachstum weder unsere Schulden abbezahlen können, noch aus dem jetzigen Schlammassel herauskommen.


Ich sage nicht, dass Wachstum das falsche Ziel ist. Aber dieses Ziel wird in den materiell wohlhabenden Ländern künftig nicht mehr erreichbar sein. Gewiss wird die Wirtschaft die derzeitige Talsohle wieder verlassen. Aber dann kommt der nächste Tiefpunkt, und jede Rezession wird länger und vielleicht auch tiefer werden als die vorausgegangene. Jedenfalls sind die Zeiten vorbei, in denen es immer nur aufwärts ging. Der Höhepunkt des wirtschaftlichen Aufschwungs lag in den früh industrialisierten Ländern zwischen 1950 und 1975. Seitdem hat sich die Dynamik beträchtlich vermindert, und sie wird sich weiter vermindern.

Woran liegt das?

Die Gründe sind vielfältig. Die bisherige Wachstumsdynamik beruhte auf dem rigorosen Verbrauch materieller Ressourcen, besonders fossiler Energieträger, die mittlerweile knapper und teurer werden. Hinzu kam die weitgehend kostenfreie Nutzung der Umwelt als Müllkippe, der Verschleiß von Mensch und Gesellschaft – und nicht zuletzt eine gigantischen Verschuldung. Dass diese Wirtschaftsform nicht zukunftsfähig ist, liegt auf der Hand. Wie die Bundeskanzlerin unlängst feststellte, zerstört sie ihre eigenen Grundlagen. Das bedeutet nicht, dass wir akut armutsgefährdet sind. Aber mit der gewohnten Mehrung materiellen Wohlstands ist es auf absehbare Zeit vorbei.

Die Weltwirtschaft erholt sich doch langsam wieder – gerade auch wegen der über neue Schulden finanzierten massiven öffentlichen Ausgaben.


Aber was für eine Erholung ist das? Keine einzige Ursache, die zu dieser Krise geführt hat, ist wirklich behoben. Vielmehr wird der Versuch unternommen, den Faden dort wieder aufzunehmen, wo er vor einiger Zeit entglitten ist. Das wird nicht gelingen. Die Hoffnung, dauerhaft auf frühere Wachstumspfade zurückkehren zu können, ist illusionär.

Stagnation oder Rezession führen zu höherer Arbeitslosigkeit. Die Folgen könnten sogar soziale Unruhen sein. Sollen demokratisch gewählte Regierungen ihren Bürgern etwa sagen, alle Anstrengungen, aus der Krise herauszukommen, seien sowieso umsonst?


Im Gegenteil. Sie sollten die Bürger ermutigen, den gegenwärtigen Zustand so schnell wie möglich zu überwinden. Nur geht das eben nicht durch die Wiederherstellung früherer Zustände. Um zukunftsfähig zu sein, müssen Arbeitsmärkte, soziale Sicherungssysteme, öffentliche Haushalte und anderes mehr so umgestaltet werden, dass sie auch ohne Wachstum und selbst bei Schrumpfung funktionstüchtig bleiben.

Ich bezweifle, dass Ihr Pessimismus berechtigt ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Weltwirtschaft gewachsen, ohne dass mehr Ressourcen verbraucht wurden – den alternativen Energien und energiesparenden Technologien sei dank. Warum können wir kein Wirtschaftssystem errichten, das Wachstum generiert, ohne die Fundamente unserer Zivilisation zu untergraben?


Von einem Wachstum der Weltwirtschaft ohne zusätzlichen Ressourcenverbrauch und ohne weitere Umweltbelastungen kann leider keine Rede sein. Die technischen Innovationen haben noch nicht einmal ansatzweise ausgereicht, um auf globaler Ebene ein ressourcen- und umweltneutrales Wachstum zu erreichen. Ob sich dies in absehbarer Zeit ändern wird, ist ungewiss. Dennoch ist es durchaus möglich, ein nachhaltiges Wirtschaftssystem zu errichten. Die Voraussetzung dafür ist allerdings ein sehr viel intelligenteres Wirtschaften als bisher. Beispielsweise dürfen Ressourcen nicht irreversibel aufgebraucht werden, solange nicht geklärt ist, was geschehen soll, wenn die Quelle versiegt.

Funktioniert die Wirtschaft nicht wie ein Fahrrad oder Flugzeug – sie läuft, solange sie sich immer nach vorne bewegt?


Während 90 Prozent der Menschheitsgeschichte funktionierte die Wirtschaft, ohne sich ständig nach vorne bewegen zu müssen. Die Abhängigkeit von der Bewegung ist ein Charakteristikum des Wirtschaftens der zurückliegenden 200 Jahre. Und auch in Zukunft wird die Wirtschaft in Bewegung bleiben. Nur wird es anders als bisher mindestens ebenso viele Verlierer wie Gewinner geben, so dass die Volkswirtschaft unterm Strich nicht zunimmt. Ineffiziente Sektoren von effizienten durchfüttern zu lassen, wie es zurzeit noch immer der Fall ist – ich denke an den Steinkohlebergbau oder den Schiffsbau – wird nicht mehr möglich sein.

Warum findet die These vom Ende des Wachstums dann keine größere öffentliche Resonanz? John Maynard Keynes hat schon vor vielen Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung an einem bestimmten Punkt der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht mehr notwendig sind.

Weil das Wachstum der Wirtschaft zu einer Art Religion geworden ist. Menschen fragen gar nicht mehr, ob Wachstum für sie persönlich wichtig ist. Es gehört für sie einfach dazu. So sind sie seit Generationen geprägt worden. Sie glauben, es gebe ihrem Leben Sinn und Stabilität. Und wie die Geschichte zeigt, dauert es oft Generationen, ehe sich Menschen von einer Religion lösen, und sei es eine Para-Religion wie die des Wachstums.

Meistens sind es radikale Linke, die den Kapitalismus als Religion geißeln. Sie gelten eher als konservativer Denker.


Wovon reden wir, Wachstum oder Kapitalismus?  Kapitalismus ist eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisationsform, die neben vielem anderen das Wachstum der Wirtschaft fördert oder – wie die jüngste Vergangenheit zeigt – auch nicht. Aber sie ist keineswegs die einzige Organisationsform. West und Ost haben jahrzehntelang um die höheren Wachstumsraten gerungen, nicht um den Kapitalismus. Dieser hat zwar den Wettbewerb für sich entschieden, stößt aber dennoch an Grenzen des Wachstums. Mit Rechts und Links, Kapitalismus und Sozialismus hat das nichts zu tun. Im Sozialismus gäbe es heute die gleichen Wachstumsprobleme wie im Kapitalismus.

Ihr neues Buch heißt „Exit: Wohlstand ohne Wachstum“. Wohin führt dieser Ausgang? Wie sieht eine Gesellschaft aus, die den Glauben an eine wachsende Wirtschaft verloren hat?


Sie wird sich verstärkt immateriellen Formen des Wohlstands zuwenden. Dass das möglich ist, zeigt die vorindustrielle Epoche. Das Problem ist nur: Zuvor muss die extreme Fokussierung auf das Wirtschaftswachstum zumindest gelockert werden. Heute glauben ja viele Menschen, ohne Wachstum könne Deutschland nicht überleben, ohne Wachstum sei alles nichts. Solange solche Vorstellungen in den Köpfen spuken, ist es schwer, den Ausgang zu sehen und zu gehen. Nehmen wir den Arbeitsmarkt. Auch da heißt es, ohne Wachstum würden die Beschäftigungsprobleme immer größer. Doch der eigentliche Grund für diese Probleme ist nicht Wachstum oder Stillstand, sondern ein Produktivitätsfortschritt, der nicht von menschlicher Arbeit, sondern von einem gigantisch gesteigerten Ressourceneinsatz getrieben wird. Wenn dieser aus Knappheits- und Kostengründen zurückgeht, wird menschliche Arbeit eine Renaissance erfahren. Über die Zukunft des Arbeitsmarktes mache ich mir deshalb die geringsten Sorgen.

Wir müssen also die realen Kosten der Produktion stärker berücksichtigen.


So ist es. Dann würde der kaputte Wecker nicht umweglos in den Mülleimer wandern, sondern repariert werden. Denn Reparaturen sind zumeist ressourcen- und umweltschonender als Neuanfertigungen. Zugleich sind sie arbeitsintensiver. Auch sonst wird sich das Arbeitsleben grundlegend verändern. Die meisten Erwerbstätigen werden ihre Arbeitszeit eigenständiger gestalten können als heute. Erwerbseinkommen werden nur noch eine von mehreren Einkommensquellen sein: Abhängig Beschäftigte werden nebenher auch noch selbständig arbeiten. Zum Beispiel könnte eine Textilarbeiterin am Nachmittag Fußpflege anbieten und ein Kraftfahrzeugschlosser die Reparatur von Fahrrädern. Hier befindet sich schon jetzt vieles im Umbruch und ich bin sicher, dass das vorerst so weitergehen wird.

Bei einer solchen Entwicklung würden sich Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und der Verteilung der Lasten völlig neu stellen.


Es wäre verhängnisvoll, wenn bei einem kleiner werdenden Kuchen die Stärkeren versuchen würden, ihre Stücke ungeschmälert zu erhalten. Dann stünden uns in der Tat unruhige Zeiten bevor. Deshalb brauchen wir eine neue Kultur des Teilens und Verteilens. Unsere gegenwärtige Kultur beruht auf ständiger Expansion, die künftige muss einer anhaltenden Kontraktion Rechnung tragen.  

Dabei zeigt die von Außenminister Guido Westerwelle angestoßene Debatte über den Sozialstaat doch gerade, dass ausgerechnet Solidarität ein rares Gut ist.


Solidarität und Sozialstaat dürfen nicht miteinander gleichgesetzt werden. Solidarität erwächst aus der Gesellschaft. Ob und wie sie staatlich gestaltet wird, ist eine andere Frage.

In Ihrem Buch plädieren Sie für einen neuen Begriff von Wohlstand. Welche Definition schlagen Sie vor?


Eine weniger stoffliche. Heute gilt derjenige als wohlhabend, der ein möglichst großes Einkommen und Vermögen hat. Wohlhabenheit kann aber auch heißen, gute, verlässliche Freunde zu haben, eine liebevolle Familie, eine gute Schulbildung. Es kann heißen, eine Fremdsprache oder ein Musikinstrument gut zu beherrschen. Vielleicht gelangen wir ja irgendwann an den Punkt, wo hohe Boni oder 15-Liter-Autos als peinlich empfunden werden und der Gastgeber seine Gäste bittet, mit solchen Autos doch bitte nicht vor seiner Tür zu parken.

Das ist eine schöne, aber unglaublich elitäre Vision. Nicht jeder ist musikalisch, und die wenigsten können sich an einer intellektuellen Unterhaltung erfreuen.


Dann sollen sie sich vernachlässigten Kindern widmen oder Menschen, die ohne fremde Hilfe nicht in den nächsten Park gelangen können. Es gibt so viele Möglichkeiten. Nur eine gibt es nicht: Alles so zu belassen wie es ist. Aber Sie haben recht, die Erschließung immaterieller Wohlstandsquellen wird durch Bildung außerordentlich erleichtert. Deshalb ist Bildung so wichtig.

Werden meine polnischen Kinder dasselbe Wohlstandsniveau erreichen wie ich?


Im Vergleich zu Deutschland hat Polen ja noch erheblichen Nachholbedarf bei der Mehrung seines materiellen Wohlstands. Aber in Ländern wie Deutschland wird das schwierig werden. Meine beiden erwachsenen Söhne werden sich sehr anstrengen müssen, mein materielles Wohlstandsniveau zu halten. Ob das meinen Enkeln noch möglich ist, erscheint mir äußerst fraglich.

Eine Version dieses Gesprächs erschien in der Gazeta Wyborcza vom 1. März 2010.

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