Als Christian Lindner noch Arbeiterlieder sang
Café Anna Blume, Prenzlauer Berg: Christian Lindner und ich treffen uns an einem sonnigen Tag zum Frühstücken. Schon am frühen Morgen sitzen viele junge Menschen auf der Terrasse, mehrere Tische sind sogar reserviert. Bevor er seinen Lebensmittelpunkt nach Düsseldorf verlagerte, war Lindner hier Stammgast. Er wohnte um die Ecke und verbrachte gern den ausgedehnten Sonntagvormittag im Anna Blume, „zusammen mit meiner Frau, befreundeten Paaren und den Sonntagszeitungen“.
Wir haben uns kaum begrüßt und hingesetzt, da tritt ein Verkäufer des Berliner Obdachlosenmagazins an unseren Tisch: „Interesse an der Motz?“ Lindner will eine Ausgabe kaufen, aber der Verkäufer kann keine Scheine wechseln. „Herr Miebach, bezahlen Sie mal bitte, ich lade Sie dafür zum Essen ein“, schlägt Christian Lindner vor. Gern, machen wir so. „Vor ihm habe ich übrigens Hochachtung – der in einem solchen Job hart arbeitet“, sagt Lindner, als der Zeitungsverkäufer gegangen ist. Der Soziologe Richard Sennett habe als Reaktion auf die gesellschaftlichen Fliehkräfte ja nicht Umverteilung empfohlen, sondern vor allem Respekt: „Den habe ich, wenn am Flughafen jemand die Sicherheitskontrolle freundlich und professionell macht.“ Dagegen bezeichne die Große Koalition die normalen Menschen verächtlich als „kleine Leute“. Ich wende ein, dass doch gerade die Geringverdiener von Schwarz-Rot profitieren – Stichwort Mindestlohn. Ja, auf den ersten Blick, erwidert Lindner. Aber dank schwarz-roter Politik müssten sie zugleich mehr Steuern und steigende Sozialabgaben zahlen. „Am Ende haben sie weniger in der Tasche, nicht mehr.“
Christian Lindner: 35 Jahre alt, zuvorkommend, hochintelligent, belesen, Medienprofi, Vorsitzender der FDP-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag sowie Bundesvorsitzender – und die vielleicht letzte Hoffnung des gelb-blauen Liberalismus in Deutschland. Lindner kann messerscharfe Reden halten wie Guido Westerwelle. Er kann aber auch intellektuelle Diskussionen auf höchstem Niveau führen. So oder so, er versteht es, in jeder Gesprächssituation seine Kernbotschaften zu vermitteln.
Wieso tut er sich das an, das Amt des Bundesvorsitzenden und die Doppelbelastung Berlin-Düsseldorf? „Klar ist das hammerhart, die FDP war abgeräumt“, sagt Lindner. „Aber jetzt kann ich Pionierarbeit leisten und den Kurs meiner Partei federführend entwickeln.“ Genau das sei ihm als FPD-Generalsekretär von 2009 bis 2011 nicht möglich gewesen. Seine neue Aufgabe beschreibt er als einen Dreiklang: Erstens will Lindner die Partei-organisation verschlanken und modernisieren; der Etat des Thomas-Dehler-Hauses wurde um rund zwei Millionen Euro reduziert. Zweitens ist der Parteichef permanent im „Außendienst“ unterwegs: „Wo immer sich 300 oder 400 Leute versammeln, um über Zukunftsfragen zu sprechen, muss ein Liberaler mitdiskutieren.“ Drittens arbeitet er daran, das inhaltliche Profil der FDP zu schärfen. Was ihm aber wichtig ist: „Wir dürfen uns programmatisch nicht fundamental ändern und aus der FDP eine Art Tea-Party-Bewegung machen.“ Auch werde man nicht der AfD „hinterherlaufen“, wie er es nennt. Er hat das Image seiner Partei mit Methoden der Marktforschung untersuchen lassen. Ergebnis: „Die Marke FDP ist im Prinzip stark – die bundesrepublikanische Tradition, Genscher auf dem Prager Balkon, Lambsdorffs Ordnungspolitik, das ist alles da.“ Doch habe die Partei ein Glaubwürdigkeitsproblem: „Da kam die Hotelsteuer und auf einmal wurden wir als Klientelpartei wahrgenommen.“
Die Bedienung bringt unser Essen. Christian Lindner hatte eigentlich die üppigen „Etageren“ empfohlen, sich dann aber für ein Rührei mit Lachs entschieden. Dazu trinkt er Latte Macchiato, Orangensaft und ein Glas Mineralwasser. Für mich gibt es das große Bircher Müsli mit Jogurt und aufgeschnittenem Obst sowie eine Apfelschorle. Schmeckt alles ausgezeichnet.
In Wirklichkeit, fährt Lindner fort, sei die FDP nicht der Anwalt irgendeiner Branche, sondern kämpfe für einen klug geordneten Markt, damit der „Faire, Einfallsreiche und Fleißige“ belohnt werde. Im Übrigen bedeute Liberalismus auch nicht, dass der Staat sich überall heraushalten sollte. „Im Gegenteil fordert der Liberale einen unbestechlichen und starken Staat, der klare, tiefe Regeln durchsetzt.“ Wie in der Netzpolitik: „Wir Liberalen klopfen Google auf die Finger!“ Oder beim Thema Bankenrettung: „Lasst uns das Haftungsprinzip stärken!“ Lindner nennt diesen Ansatz „konsequenten Liberalismus“. Und bekommt auf Veranstaltungen viel Applaus dafür. Nur übertrage sich die Zustimmung eben noch nicht in Wählerstimmen, weil die schwarz-gelbe Regierungszeit erst so kurz zurückliege und „die großen medialen Bühnen derzeit nicht zur Verfügung stehen“. Insofern sei das kümmerliche Abschneiden der FDP bei den Europawahlen wenig verwunderlich. Das Bild werde sich bald wieder ändern: „Die wachsende Volatilität in der Wählerschaft gilt ja für beide Richtungen – nach unten wie nach oben.“
Plötzlich kommt ein Windstoß. Lindners Motz fliegt vom Tisch und landet unter den Rädern eines geparkten Wagens. „Das ist ja peinlich“, sagt Lindner. Er steht auf, kriecht unter das Auto und bringt das Magazin wieder an unseren Tisch zurück. „Ich finde es ja auch unangenehm, wenn Leute aus fahrenden Autos Müll werfen und die Stadtreinigung das dann wegmachen soll“, sagt er. „Dieses Verhalten nimmt leider zu.“ Was andererseits ebenfalls zunehme, sei eine übertriebene Tugendhaftigkeit. Es ärgern ihn zum Beispiel „Autobahn-Sheriffs“, die absichtlich auf der linken Spur bleiben und die schnelleren Autos zum Abbremsen zwingen.
Womit wir beim Thema SPD wären. Aus Lindners Sicht hat sich die Sozialdemokratie zu stark der „staatszentrierten Verbotspartei“ der Grünen angenähert. Beide Parteien hätten die Tendenz, die Bürger erziehen und bevormunden zu wollen. Lindner möchte aber keine Missverständnisse aufkommen lassen: „Ich hatte als Jugendlicher großes Interesse an der Arbeiterbewegung“, sagt er. „Ich kann sogar noch ein paar Arbeiterlieder.“ Neben Manowar und elektronischer Musik hatte Lindner auch die CD Hannes Wader singt Arbeiterlieder im Regal stehen. Anders als bei der heutigen Sozialdemokratie sei für das alte Arbeitermilieu ein Ethos des Aufstiegs und der Staatsferne prägend gewesen. „Auf diese Traditionslinien auch eines Helmut Schmidt und Wolfgang Clement sollte sich die SPD wieder besinnen“, meint Lindner.
Deshalb findet er es „faszinierend“, dass die Grünen neuerdings den Freiheitsbegriff für sich reklamieren und Sigmar Gabriel das Wirtschaftsministerium übernommen hat. „Ab Mitte der Wahlperiode wird Gabriel versuchen, als Mittelstandspolitiker zu punkten – und vergessen zu machen, was zu Beginn der Legislatur für ein Unsinn veranstaltet worden ist.“ Auch der Vorstoß zur Bekämpfung der kalten Progression fällt für ihn in diese Kategorie. „Jetzt muss Gabriel aber auch liefern.“
Ich pflichte Lindner bei. Überhaupt sind wir uns in vielem einig. „Mensch, dann können wir ja eine gemeinsame Partei gründen“, sagt Lindner, natürlich als Witz gemeint. „Besser eine Koalition bilden“, gebe ich zurück, auch im Spaß, ist ja klar. Oder?
Dann muss Linder aufbrechen – Termine. Sein Blick streift noch einmal über die Terrasse. „Ich frage mich immer, warum diese Leute hier tagsüber sitzen – sind das Touristen oder Freischaffende?“ Er selbst liebt es, mit seinem Laptop im Café zu arbeiten. Produktivität und Kreativität seien schließlich nicht an feste Arbeitszeiten und einen Ort gebunden. „Die Arbeitskultur verändert sich, das wäre auch mal ein innovatives Thema für die SPD.“ Dann hängt sich Christian Lindner sein Sakko über und schlendert in der Junisonne Richtung Kollwitzplatz.