Alt sind immer nur die anderen
Elisabeth Niejahr geht auf die 40 zu. Muss man sich da eigentlich schon Gedanken über die Zeit als Seniorin oder Senior machen und ein Buch darüber schreiben? Vielleicht ist es aber auch gerade noch rechtzeitig, bevor man anfängt, das eigene Alter zu verleugnen. Denn „alt sind immer nur die anderen“: Dies ist laut Niejahr bereits das Lebensgefühl großer Teile der heutigen Rentnergeneration. Diese ist aktiver und erwartet wesentlich mehr gesunde Lebensjahre als frühere Generationen. Und mit dem Alter will sie so recht nichts zu tun haben: „Man hat Angst vor dem, was näher rückt.“
Die gelernte Wirtschaftsjournalistin Niejahr beschäftigt sich schon einige Jahre mit dem Thema des Alterns; Teile des Buches konnte man bereits in der Zeit nachlesen. Somit hat Niejahrs Beschäftigung mit der „alternden Gesellschaft“ zunächst einmal nichts mit ihrem bevorstehenden Sprung ins fünfte Lebensjahrzehnt zu tun. Sie selbst gehört zu den „Babyboomern“ und ist damit Teil eines Phänomens, über das wir bislang kaum nachgedacht haben. Der Begriff des Babyboomers ist uns eher aus den Vereinigten Staaten bekannt. Er kennzeichnet die geburtenstarke Nachkriegsgeneration um Bill Clinton, die jetzt nach und nach das Rentenalter erreicht. Die geburtenstärksten Jahrgänge in Deutschland liegen später, in der Zeit des Wirtschaftswunders der sechziger Jahre.
Wir sind viele, sogar sehr viele. Die ergraute Gesellschaft wird kommen, wenn wir alt sind. Und alle Auseinandersetzungen und Verteilungskonflikte zwischen den Generationen müssten dann ausbrechen. Doch Elisabeth Niejahr gibt in ihrem beruhigend unaufgeregten Buch die Entwarnung. Die Angehörigen verschiedener Generationen kommen schon heute zunehmend gut miteinander aus. Geschwister, Cousins und Cousinen gibt es immer weniger, somit steigt der familiäre Zusammenhalt zwischen den Generationen. Die erwachsenen Kinder ziehen immer später von zu Hause aus. Teenager bezeichnen häufiger ihre Eltern als persönliche Vorbilder denn Popstars und Sportler. Auch in kulturellen Fragen gibt es mehr Übereinstimmungen, als dies zwischen früheren Generationen der Fall war. Gegen ihre Elterngeneration rebellierende Jugendliche wird es nicht mehr geben.
Die sozialen Gegensätze werden härter
Die Trennlinie werde daher nicht zwischen Jung und Alt verlaufen, sondern zwischen Arm und Reich, meint Elisabeth Niejahr. „Für die härtesten Verteilungskämpfe dürfte die Kombination aus steigenden Erbschaften, rückläufigen Sozialleistungen und Anforderungen der Wissensgesellschaft sorgen. Die sozialen Gegensätze werden härter und sichtbarer werden.“ Die Verlierer sind die Kinder unterprivilegierter und kinderreicher Familien, deren Bildungschancen sich von denen der wenigen Akademikerkinder extrem unterschieden, prognostiziert Niejahr. Diese nachwachsende Generation stelle in der gealterten Gesellschaft die Erwerbstätigen, um sie müsse sich die Sozialpolitik kümmern. Doch leider werde in Deutschland stattdessen über Sozialversicherungspolitik und Rentenformeln gefeilscht.
„Wir schrumpfen uns gesund“, hat die Zeit auf ihrer Titelseite die Thesen von Elisabeth Niejahr angekündigt. So plakativ sind sie zwar nicht, aber Mut machen sie durchaus. Auch eine aufgrund der enorm niedrigen Geburtenrate schrumpfende Gesellschaft könne wirtschaftlich dynamisch sein. Entscheidend sei nämlich die Frage, wie wir altern und schrumpfen. Denn Schrumpfen kann man lernen, es darf nur nicht so abrupt vonstatten gehen wie in Ostdeutschland. Andere europäische Länder, besonders die im Norden, sind schon immer dünn besiedelt und kommen damit gut zurecht.
Eine Gesellschaft mit zurückgehender Bevölkerungszahl wird nicht automatisch ärmer, eher im Gegenteil: „Zunächst verfügen weniger Menschen über mehr Ressourcen.“ Auch die Geschichte und der Blick etwa auf den indischen Subkontinent zeigt, dass Kinderreichtum oftmals Armut bedeutet. Erst ein Rückgang der Kinderzahl führt zu Wohlstand.
Trotzdem verniedlicht Elisabeth Niejahr die ökonomischen Probleme der Demografie nicht. Sie nennt klar die Voraussetzungen, unter denen auch eine schrumpfende Gesellschaft innovationsfähig bleiben kann. Zum einen muss die nachwachsende Generation durch Investitionen in Bildung in die Lage versetzt werden, ökonomisch leistungsfähig zu sein. Das ist schwierig genug angesichts der Tatsache, dass unsere Gesellschaft die Kinder immer häufiger in ihren sozial benachteiligten Stadtteilen aufwachsen lässt. Rein rechnerisch dürfte Arbeitslosigkeit in dieser Generation gar nicht mehr vorkommen – aber ob die Qualifikationen der Einzelnen ausreichend sind, wissen wir noch nicht.
Gleichzeitig muss die Generation der Babyboomer in die Bresche springen. Sie wird länger erwerbstätig bleiben müssen und – Niejahr sieht die Entwicklung immer auch positiv – bleiben wollen. „In kaum einem anderen Land haben die Unternehmen ihre Belegschaften so brutal verjüngt wie hierzulande.“ Doch diese Strategie wird angesichts des Mangels an qualifizierten jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Ende haben. Die Babyboomer sind die Generation mit der höchsten Akademikerquote und dem niedrigsten Anteil von Ungelernten. Unsere soziale Absicherung im Alter wird längst nicht mehr so üppig sein, wie sie heute ist: Alle wirklich entscheidenden Einschnitte ins Rentensystem werden nicht die vergleichsweise wenigen Rentnerinnen und Rentner von heute betreffen – sondern uns. Deshalb wird sich unsere Generation oftmals gezwungen sehen, sich zumindest etwas zur Rente hinzuzuverdienen.
Erfahrung wird eine Renaissance erleben, Weiterbildung und lebenslanges Lernen sind dann mehr als Lippenbekenntnisse. Gleichzeitig wird es den künftigen Rentnergenerationen leichter fallen, flexible Arbeitsverhältnisse und Teilzeitverträge zu akzeptieren, weil sie solche Erfahrungen auch schon in jüngeren Jahren gemacht haben. Zwar ist der Anteil der Männer in Deutschland, die Elternzeit nehmen, im internationalen Vergleich immer noch gering, aber er ist in den letzten Jahren gestiegen. Vielleicht kommen wir sogar einmal soweit, dass wir nicht mehr ausgerechnet in denjenigen Jahren, in denen uns Familie und Kinder am meisten bräuchten, am meisten arbeiten müssen, sondern Arbeitszeit in die früheren und späteren Lebensjahre umverteilen.
Dass sich das Renteneintrittsalter von 65 angesichts der steigenden Lebenserwartung mittelfristig nicht halten lässt, wird kaum noch bestritten. Elisabeth Niejahr macht sich Gedanken, wie den Menschen ein steigendes Renteneintrittsalter leicht verständlich nahe gebracht werden kann. Sie schlägt deshalb vor, dass sich das Renteneintrittsalter an der durchschnittlichen Lebenserwartung bemessen solle, indem man eine durchschnittlich zehnjährige Rentenbezugsdauer festsetzt. Wenn also die Lebenserwartung auf 80 Jahre ansteigt, gäbe es Rente ab 70. Die Gemeinschaft der Beitragszahler solle für die schwierigen letzten Lebensjahreeben die Verantwortung übernehmen, denn: „Dafür ist die Rente da – aber nicht dafür, leistungsfähigen Menschen in den Sechzigern möglichst viel Freizeit zu finanzieren.“
Genauso wenig wie die Trennlinie zwischen Arm und Reich wird der Geschlechterkonflikt vom Generationenkonflikt abgelöst. Eher noch wird er verschärft. Es werde eine Entsolidarisierung der Männer gegenüber gleichaltrigen Frauen geben, zitiert Niejahr die Professorin Eva Jaeggi und fragt mit einem Zitat aus der tageszeitung: „Ist Sex mit Gleichaltrigen out?“
Jammern kann viel Geld einbringen
Klar ist, dass Frauen anders und bewusster altern als Männer. Die Lebensphase, in der sie eine Familie gründen können, ist kürzer. Auffällig sind Elisabeth Niejahr zufolge die Zusammenhänge zwischen der Frauenbewegung und der jetzt entfachten Altersdebatte. Kann man die Interessen der Alten besser organisieren, wenn man sie als notleidende, arme Ruheständler darstellt, oder als eine tatkräftige und leistungsfähige Generation? „Mit Opferrhetorik lässt sich in der deutschen Sozialpolitik erfahrungsgemäß eine Menge erreichen. Jammern kann viel Geld einbringen. Aber ein positives Selbstbild, ein angenehmes Lebensgefühl entsteht dabei nicht.“
Auch in einem Buch über die alternde Gesellschaft darf Familienpolitik heute nicht fehlen. Damit lasse sich der ganze Prozess zwar nicht mehr aufhalten – dafür wären ab 3,8 Geburten pro Frau erforderlich –, aber der Staat solle trotzdem dabei helfen, dass Menschen ihre vorhandenen Kinderwünsche tatsächlich realisieren könnten. Dazu schlägt Niejahr vor, die Transferleistungen für Familien zu bündeln und nicht mehr auf elf verschiedene staatliche Stellen aufzusplittern. „Bisher gleicht die Familienförderung der Arbeitsmarktpolitik: Die Deutschen geben mehr Geld dafür aus als viele Nachbarn, sie haben aber weniger Erfolg damit“, schreibt Niejahr. Sie vermutet, dass das Kleinklein der Familienförderung – Baukindergeld, Krankenkassen-Beitragsfreiheit, Kinderzuschlag beim Beamtensold und so weiter – damit zusammenhängt, dass man sich in Deutschland immer noch nicht traut, das Ziel der Geburtensteigerung klar auszusprechen. Deswegen wäre eine gezielte und gebündelte Familienförderung nicht nur kostenneutral, sondern auch wirkungsvoller: „Wenn der Staat schon Milliarden ausgibt, dann sollen die Menschen es auch wissen und merken.“
Entscheidend für die Geburtenrate sei eine gute Kinderbetreuungsinfrastruktur, aber nur in Kombination mit einem positiven ökonomischen Umfeld und attraktiven Jobs. Außerdem: „Viele Kinder werden da geboren, wo schon viele Kinder sind.“ Man merkt: Elisabeth Niejahr wohnt im kinderreichen Prenzlauer Berg – also da, wo Kinder selbst mit dem Lebensgefühl junger Akademikerinnen und Akademiker vereinbar erscheinen.
80-Jährige werden wie 60-Jährige aussehen
Reformen des Sozialstaats müssten schnell umgesetzt werden, bevor die Macht der Alten zu groß werde. So lautet eine häufig geäußerte Befürchtung. Niejahr hält sie für unbegründet. Denn die sozialen Unterschiede in der Generation der Älteren werden zunehmen: „Ein hohes Einkommen wird jugendliches Aussehen und Auftreten erleichtern.“ Manche 80-Jährige werden wie 60-Jährige wirken, Mitfünfziger zwanzig Jahre älter. Das Lebensgefühl wird sehr unterschiedlich sein. Deswegen ist es illusorisch, dass die Alten von morgen gemeinsame Interessen gezielt artikulieren.
Doch ob unsere Gesellschaft die Reformen, die die alternde Gesellschaft benötigt, tatsächlich verwirklichen kann und wird – davon handelt das Buch in erster Linie. „In jedem von uns steckt ein Sozi“, hatte Elisabeth Niejahr zusammen mit Bernd Ulrich in der Zeit geschrieben. „Einer der all die hektischen Veränderungen der letzten Zeit ablehnt, der in seligen BRD-Jahrzehnten erworbene Privilegien und Sicherheiten nicht preisgeben möchte.“
Niejahr empfiehlt, dass wir als erstes selbst unsere Haltung zum Altern überprüfen. Dann wären wir auf den gesellschaftlichen Wandel vorbereitet. Denn im Detail voraussagen will und kann sie ihn nicht. Ob unsere letzten Lebensjahre eher durch Gesundheit oder Krankheit geprägt sein werden, weiß selbst unter den Experten noch niemand. Wo wir wohnen werden – ob zu Hause, in einer WG oder im Seniorenstift – hängt von uns selbst ab. „Wie wir leben, lieben und arbeiten werden – diese Entscheidung liegt, zum Glück, bei uns.“
Elisabeth Niejahr, Alt sind nur die anderen: So werden wir leben, lieben und arbeiten, Frankfurt: Fischer Verlag 2004, 191 Seiten, 17,90 Euro