Angela Merkels Gespür
„Ich glaube, dass uns in den vergangenen Tagen sehr bewusst geworden ist, wie hochpolitisch eigentlich eine wirtschaftliche Frage ist, nämlich der Kauf und die Lieferung von Gas. Ich habe den Eindruck, dass der russische Präsident das in den letzten Tagen gespürt hat.“
Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Zu Beginn des neuen Jahres erlebte die Welt eine Rückkehr. Ein vor kurzem noch kraftloser Riese namens Russland betrat die Weltbühne. Allerdings nicht mehr in der Rolle des kranken Mannes zwischen Ostsee und Pazifik. Der Konflikt des russischen Gasmonopolisten Gazprom mit der Ukraine über den Lieferpreis für das russische Erdgas schlug hohe Wellen. Symbolträchtig hatte der Konzern der Ukraine nach dem Scheitern der Verhandlungen den Gashahn zugedreht. Plötzlich wurden alte Ängste der Westeuropäer vor der riesigen eurasischen Landmasse wieder lebendig. Hinter dem Konflikt witterte man den alten russischen Expansionismus: Es war eine „Machtdemonstration des Kreml“, sagte man, sprach vom „Krieg mit der Gaswaffe“ und der „Wiederbelebung der Supermacht Russland durch den Einsatz ihrer Rohstoffressourcen“. Zwar richte sich diese Politik zurzeit nur gegen die Ukraine. Am Ende werde das Ziel der russischen Politik aber das heute bis in das Baltikum reichende Westeuropa sein.
Diese Wahrnehmung ist schon erstaunlich. So waren gegenüber Westeuropa ein Stopp der Gaslieferungen oder ein offener Vertragsbruch nie Gegenstände der Debatte gewesen. Gazprom stritt sich mit der Ukraine allein ums Geld. Allerdings nahm das niemand zur Kenntnis. Geld regierte dieses Mal nicht die Welt. Wo seit Jahren die Regeln des Weltmarktes gelten, die Handlungsmöglichkeiten der Politik bestritten werden, spielten ökonomische Überlegungen auf einmal keine Rolle mehr.
Die Bundeskanzlerin spürt denn auch nur bei Wladimir Putin politisches Unbehagen. Im Übrigen aber hat man in der so genannten Deutschland AG vergessen, wie „hochpolitisch wirtschaftliche Fragen“ (Merkel) sein können. Man ist schließlich nicht in Russland. Hierzulande propagiert man das Ideal des alten Wirtschaftsliberalismus aus dem 19. Jahrhundert. Der freie Weltmarkt gilt als globaler Friedensstifter. Wohlstand für alle heißt die Parole. Kategorien wie Macht und Interesse spielten in den Visionen des Zeitgeistes keine Rolle mehr. Der Nationalstaat gilt nur noch als Hindernis für den Genuss der Früchte des Wettbewerbs.
Freie Märkte und alte Monopole
Konzerne werden mit diesen alten Begriffen nicht mehr in Verbindung gebracht, sondern als Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts identifiziert. Ob ihr Handeln diesen in Wirklichkeit behindert, oder ob man sie politisch kontrollieren muss? Solche Fragen werden heute meistens noch nicht einmal mehr formuliert. Die Politik begnügt sich mit dem Appell an das Verantwortungsgefühl der ökonomischen Eliten. Allerdings sieht sich auch ein Josef Ackermann als verantwortungsbewusster Manager, selbst wenn dies – etwa in der Mannesmann-Affäre – nicht immer sogleich ins Auge sticht. Sein Wirken ist per Definition verantwortlich – schließlich ist der Weltgeist auf seiner Seite: in Gestalt des liberalen globalen Marktes und Londoner Investmentbanker. Dagegen ist auch der Bundesgerichtshof machtlos, so muss Ackermanns Hoffnung sein. Oder warum bleibt er sonst auf seinen Posten?
Eine nationale Energiepolitik galt daher bei Liberalen bis Weihnachten vergangenen Jahres als altes Denken. Vielmehr sicherte die Globalisierung mit der Öffnung der Märkte den Zugriff auf die Energiereserven der Welt. Mit dieser Begründung hatte man schon früher den deutschen Steinkohlebergbau für überflüssig erklärt. Die hohe Importabhängigkeit der deutschen Energiewirtschaft war seit dem Ende des Kalten Krieges kein Thema mehr gewesen. Im Gegenteil: Den politischen Einfluss auf die Energiewirtschaft betrachtete man als ein Wettbewerbshindernis. So entließ man die Konzerne in die Unabhängigkeit eines freien Marktes – und landete bei den alten Monopolen. Denn dieser Wettbewerb hat bekanntlich weder zu günstigen Preisen noch zu höherer Versorgungssicherheit geführt. Dafür gibt es eine einfache ökonomische Erklärung: Energiemärkte sind keine Wettbewerbsmärkte mit entsprechender Preisfindung. Hier erzielen einige wenige Anbieter Monopolrenditen. Mit ihrer Marktmacht über ein knappes Gut machen sie das Gerede vom Wettbewerb zur Farce.
Ein funktionierender Wettbewerb hieße: Konkurrenz mit niedrigen Marktzugangsbarrieren. Davon ist die Energiewirtschaft bis heute weit entfernt. Wettbewerb, so die Erfahrung der vergangenen Jahre, ist zur Steigerung der Rendite weniger Anbieter degeneriert. Die mit der Deregulierung erwartete Effizienzsteigerung beschränkte sich auf den Personalabbau innerhalb der Konzerne – und den hat sich das Management fürstlich entlohnen lassen. In den Vereinigten Staaten waren die seit den neunziger Jahren epidemisch gewordenen Stromausfälle ein Ergebnis dieser ökonomischen Logik. Genau das hat man jetzt auch in Deutschland erleben müssen. Zum 1. Januar sind im Übrigen auch bei uns die Gaspreise drastisch angehoben worden, begründet mit gestiegenen Weltmarktpreisen. Nun konnte man während des Gasstreits im Handelsblatt lesen, dass es diesen Weltmarktpreis gar nicht gibt. Die Ölpreisbindung war auch kein Thema mehr. Eine interessante Erkenntnis.
Einen wirklichen Markt für Gas gibt es nicht
Von Wettbewerb war beim Gasstreit auch nie die Rede – mit guten Gründen. Genauso wenig wie in Deutschland gibt es in Russland oder der Ukraine einen funktionierenden Gasmarkt. Gazprom verhielt sich wie jeder andere Monopolist und versuchte, gegenüber der Ukraine einen Weltmarktpreis durchzusetzen, den es laut Handelsblatt zwar gar nicht gibt, der aber bei deutschen Konsumenten ein gutes Argument für Preiserhöhungen bleibt. Zudem gibt es eine betriebswirtschaftliche Begründung. Die hört sich durchaus vertraut an. Den seit kurzem für internationale Investoren weiter geöffneten Staatskonzern halten Analysten im internationalen Vergleich für Renditeschwach. Das Walls Street Journal fragte nach dem vorläufigen Ende des Konflikts, welchem Interessenten Gazprom den Vorzug geben wird: den Aktionären oder dem russischen Staat? Die Begründung ist interessant. Der Konzern verlangt in Russland und in den meisten GUS-Staaten keine Weltmarktpreise. Das beeinträchtigt den Gewinn. Es gibt also gute und böse Weltmarktpreise. Wer hätte das gedacht?
So fand das politische Interesse an der Ukraine im Westen seine ökonomischen Grenzen. Daran konnte auch das wieder erwachte Getöse über die russische Gefahr nichts ändern. Niemand forderte andere Staaten dazu auf, die Ukraine zu beliefern, um den russischen Drang nach Westen zu stoppen. Oder haben etwa westliche Gasproduzenten wie Norwegen oder Großbritannien – zu alten Preisen – ihre Hilfe angeboten? Man hätte der Ukraine auch mit Unterstützungszahlungen helfen können. Allerdings hätte es sich dann um eine marktwidrige Subvention gehandelt: Die niedrigen Gaspreise für die Ukraine würden bei uns in keinem Subventionsbericht fehlen. Folgerichtig war ein Argument gegen die Aufnahme Russlands in die WTO der hoch subventionierte Gaspreis innerhalb der GUS: Er müsse an die Exportpreise angeglichen werden.
Davon war zu Jahresbeginn nur selten zu hören. Der subventionierte Preis, den Weißrussland weiter zu zahlen hat, ist ebenfalls kein Argument zugunsten der Ukraine. Subventionen sind die Förderung wirtschaftlicher Aktivitäten aus politischen Gründen. Diese Gründe sind für Russland bezüglich der Ukraine entfallen. Das kann man kritisieren, aber von einem Embargo kann nicht die Rede sein. Russland wollte Gas liefern – nur zu dem derzeit üblichen Preis. Anderenfalls könnte sich jeder Gaskunde in Deutschland beklagen, politisch boykottiert zu werden – nur weil er seine Rechnung nicht bezahlen kann.
Als Putin sang sein garstig Lied
Putin sang dem Westen sein eigenes Lied vor – ein garstig Lied wie man nun in Kiew zur Kenntnis nehmen musste. Es ist das Lied von Weltmarkt und Wettbewerb. Man braucht die ökonomischen Argumente Russlands nicht zu akzeptieren, aber die Kritik daran darf sich nicht nur gegen Russland richten. Monopole und die Ausschaltung des Wettbewerbs sind keine russische Spezialität – und nicht nur Gazprom-Manager geraten bisweilen unter Korruptionsverdacht. Oder wären die Preiserhöhungen eines von westlichen Finanzinvestoren kontrollierten Konzerns akzeptabler gewesen? Gegen diese Weltmarktpreise hätten die meisten Kritiker Russlands wohl nur wenig einzuwenden gehabt. Der IWF nennt das bis heute „Strukturanpassung“ – und die Kritik an der ukrainischen Misswirtschaft hätte in diesem Fall jede Kritik an dieser Preiserhöhung laut übertönt. Die WTO sieht in der politischen Kontrolle der russischen Energiewirtschaft daher auch das eigentliche Problem.
Eine Frage wird allerdings nur noch selten gestellt: ob die Privatisierung staatlicher Infrastruktur den versprochenen gesellschaftlichen Nutzen bringt – oder nur noch den Interessen einiger Konzerne und Finanzinvestoren dient? Die Erfahrungen mit den Privatisierungen sind schließlich nicht nur in der deutschen Energiewirtschaft ernüchternd. Die britische Eisenbahn war in den siebziger Jahren zum Symbol für staatliche Misswirtschaft geworden. Heute ist sie das Symbol für privatisierte Unfähigkeit. New Labour redet zwar jeden Tag genauso über die Segnungen des Marktes wie amtierende deutsche Bundespräsidenten. Doch die Praxis sieht bisweilen anders aus. Die britischen Eisenbahnen wurden wieder unter die Obhut des Staates gestellt.
Dämonisierung hilft nicht weiter
Die Bundeskanzlerin hat Recht: Wirtschaftliche Fragen sind hochpolitische Fragen. Das gilt vor allem für die Energiewirtschaft. Russland hat diese alte Erkenntnis neu auf die politische Tagesordnung gesetzt. Dabei gibt es sowohl eine geopolitische wie eine ordnungspolitische Seite. Die Machthaber im Kreml haben ihre eigenen – bisweilen alt bekannten – Interessen. Das betrifft das Verhältnis zu den früheren Sowjetrepubliken im Westen genauso wie zu den neuen Staaten im Kaukasus und in Zentralasien. Es gibt keinen Grund, diesen Sachverhalt zu dämonisieren, um sich auf diese Weise etwa die Ressourcen am Kaspischen Meer unter Ausschluss Russlands zu sichern. Gleichwohl muss die Frage nach der Sicherheit der deutschen Energieversorgung gestellt werden – und damit die Frage nach der Abhängigkeit von Russland. In den achtziger Jahren ist das Preisdiktat der OPEC vor allem durch zwei Maßnahmen gebrochen worden: Man diversifizierte die Energieversorgung durch die Erschließung neuer Quellen, und man reduzierte die Nachfrage durch verbesserte Energieeffizienz. Es gibt keinen Grund, warum dieses Konzept nicht auch unter den angesichts der großen Energieimporteure China und Indien neuen Bedingungen funktionieren sollte.
Wettbewerb als Selbstbedienungsladen
Damit ist die ordnungspolitische Seite angesprochen. Der Wettbewerb kann ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung staatlichen wie privaten Machtmissbrauchs sein. Aber für die Folgen ist der demokratische Rechtsstaat verantwortlich: nämlich dafür, ob der Wettbewerb zum gesellschaftlichen und sozialen Fortschritt beiträgt oder – wie im Fall der Energiewirtschaft – zum Selbstbedienungsladen verkommt. Ob dieser Wettbewerb halbstaatlich organisiert wird wie in Moskau oder privat wie anderswo, ist dagegen eine Frage, die nur Lobbyisten interessiert. Das haben die Manager der Energiekonzerne auch schon verstanden. E.on und sein Lieferant Gazprom verstehen sich prächtig. Der deutsche Energieriese ist an seinem russischen Partner mit über sechs Prozent beteiligt. Der Bundesfinanzminister darf diese Aufgabe gerne zu einer der Kernkompetenzen des modernen Staates zählen, nach denen er bekanntlich sucht. Und Angela Merkels Gespür? Man hat nicht den Eindruck, dass die Bundeskanzlerin in den letzten Wochen über Russland hinaus auch in Deutschland etwas gespürt haben könnte. Aber vielleicht ist der Autor auch einfach zu unsensibel.