Wie der Krieg sich wandelt
Im Jahre 1982 veröffentlichte der ungarische Sozialwissenschaftler Istvan Kende eine Untersuchung über die „Kriege nach 1945“. Er differenzierte zwischen zwei Kriegstypen – dem klassischen Staatenkrieg und dem innerstaatlichen Krieg. Das Ergebnis seiner akribischen Recherchen: Der Staatenkrieg war zur absoluten Ausnahme geworden. Kende konstatierte nach 1945 einen „totalen Wandel“: „Die Kriege sind zu inneren Kriegen geworden. Sie sind keine zwischenstaatlichen Kriege mehr um Gebiete, Einfluss oder Neuaufteilung. Es geht nunmehr um Sein oder Nichtsein der betreffenden Macht.“ Was nicht bedeute, dass der internationale Faktor keine Rolle mehr spiele. Laut Kende hatte sich nur die Art und Weise der fremden Beteiligung geändert: „Heute nehmen die äußeren Kräfte vor allem an den Kriegen anderer Völker teil.“ Der Vietnamkrieg ist das bekannteste Beispiel für diese Form des Krieges.
Die Sichtweise des ungarischen Friedensforschers konnte sich damals nur deswegen nicht durchsetzen, weil bis 1989 der Antagonismus der Supermächte die internationale Politik beherrschte. Jeder regionale Konflikt wurde hinsichtlich seiner Auswirkungen auf das globale Machtverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion betrachtet – und so konnte die Regierung Reagan sogar ihren Operettenkrieg gegen die Karibikinsel Grenada im Jahr 1983 mit der sowjetischen Gefahr begründen.
Erst seitdem Russland keine global operierende Macht mehr ist, hat sich diese Perspektive verändert. Heute spricht man von den „neuen Kriegen“ in Abgrenzung zu den „alten“ zwischenstaatlichen Kriegen von früher. Die britische Sozialwissenschaftlerin Mary Kaldor hat diesen Begriff populär gemacht, in Deutschland ist er vor allem mit dem Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler verbunden. Die neuen Kriege finden in so genannten failed states statt, zerrütteten Staaten, die ihre Autorität und ihr Gewaltmonopol verloren haben. Autonome warlords sind an die Stelle der Staatsgewalt getreten. Der Krieg dient nicht mehr der Durchsetzung politischer Ziele, sondern ist im Extremfall zur ökonomischen Existenzgrundlage für private Gewaltunternehmer geworden.
Die neuen Kriege sind gar nicht neu
Die These von den neuen Kriegen gewann aufgrund der Erfahrungen in den neunziger Jahren an Plausibilität. Vor allem die Bürgerkriege in Afrika gelten als Belege: Somalia, Sierra Leone, Liberia, der Kongo. Die Ursachen der neuen Kriege sieht Mary Kaldor in der Globalisierung, die „kulturelle und sozioökonomische Kategorien“ der politischen Moderne aufgebrochen habe. Die „Machtkämpfe“ träten zwar durchaus in traditioneller Kostümierung auf, so hätten etwa Nationalismus, Tribalismus oder Kommunalismus eine Rolle gespielt. Gleichwohl handele es sich um neue Phänomene mit zeitgenössischen Ursachen.
Tatsächlich aber lässt sich beispielsweise schon der Bürgerkrieg in Angola nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1975 als neuer Krieg ansehen, von Globalisierung war da noch gar keine Rede. Die Supermächte interpretierten diesen Bürgerkrieg als einen Kampf um Einflusssphären, obwohl Angola für das globale Gleichgewicht bedeutungslos war. Allein schon der Verdacht, die gegnerische Supermacht könnte einen geopolitischen Vorteil erzielen, verschaffte regionalen Konflikten weltweite Bedeutung.
Die neuen Kriege sind also gar nicht neu und dominieren auch keineswegs das internationale System. Bis auf Weiteres werden die zentralen Konflikte der Weltpolitik denen des bipolaren Staatensystems ähneln: Im Mittelpunkt werden etwa der Nahe Osten oder Nordkorea stehen. Existenziell wichtig für die Weltpolitiker sind die neuen Atommächte. Das Leiden der Bevölkerung in Somalia hingegen ist für die Geopolitiker irrelevant.
Dennoch sind zerrüttete Staaten bisweilen tatsächlich von Bedeutung, etwa der Irak oder Afghanistan. Nur hat man den prekären Zustand des Irak mit dem zweitdümmsten Krieg der Weltgeschichte selbst herbeigeführt (der dümmste Krieg war Athens Invasion in Sizilien 415 v. Chr.). In Afghanistan hatten die regierenden Taliban zwar gemeinsam mit dem privaten Gewaltunternehmer Osama bin Laden die Vereinigten Staaten angegriffen. Doch was ändert diese Tatsache an den trostlosen Resultaten der westlichen Bemühungen, in Afghanistan jenen modernen Nationalstaat aufzubauen, den es in der Geschichte des Landes bisher nicht gegeben hat? Aus beiden Staaten wird man sich in einem überschaubaren Zeitraum zurückziehen, weil den Kosten der Besatzung kein entsprechender Nutzen gegenübersteht. Im Übrigen verliert das letzte Argument für die Besatzung, es könne nach einem Rückzug noch schlimmer werden, mit jedem Tag an Überzeugungskraft.
Vor diesem Hintergrund ist Herfried Münklers neues Buch Der Wandel des Krieges zu beurteilen, in dem er den Strukturwandel militärischer Konflikte im neuen Jahrhundert auf der Basis der Theorie des neuen Krieges untersucht. Münkler unterstellt eine amerikanische Hegemonialposition im Weltsystem – eine Annahme, die für seine Position eine conditio sine qua non darstellt. Denn nur die Vereinigten Staaten verfügen über die ökonomische und technologische Potenz, um einen konventionellen Krieg, wie Münkler ihn begreift, zu führen. Erst angesichts der Singularität der Vereinigten Staaten wird die Theorie des asymmetrischen Krieges so überzeugend.
Allerdings ergibt der Begriff der Asymmetrie ohne seinen theoretischen Antipoden, den symmetrischen Krieg, keinen Sinn. Münkler zeigt, wie sehr dieser Kriegstyp eine historische Ausnahme gewesen ist, der nur durch das Charakteristikum der Gleichartigkeit möglich wurde: Seit der Neuzeit arbeiteten die modernen Armeen unter identischen Bedingungen. Die Rekrutierung und Ausbildung der Soldaten, die Art der Bewaffnung sowie die strategischen und taktischen Einsatzdoktrinen waren mindestens ähnlich.
Dazu entwickelten sich politische und rechtliche Regeln, die für alle Akteure verbindlich waren. Kriege wurden, nachdem sie durch den Westfälischen Frieden von 1648 endgültig zu einer Sache der Staaten geworden waren, zu zeitlich und räumlich abgrenzbaren Ereignissen. Erst die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols machte überdies die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten möglich. Am Ende siegten meist die stärkeren Bataillone, wobei jede militärische Neuerung vom Gegner relativ bald nachvollzogen wurde.
Teppichmesser statt Langstreckenbomber
Für Münkler ist der asymmetrische Krieg keineswegs nur eine Strategie der Schwachen, sondern auch die Antwort der modernen Gesellschaften auf ihre historischen Erfahrungen. Postheroische Gesellschaften wollen eigene Verluste vermeiden und müssen aus politischen Gründen lange Abnutzungskriege verhindern. Daher setzen sie darauf, gegnerische Potenziale schnell zu zerschlagen, wofür die technologische und organisatorische Überlegenheit der eigenen Armee die Voraussetzung ist. Es handelt sich also um eine Asymmetrie der Stärke. Die technologische Überlegenheit habe, so Münkler, die eigene Unverwundbarkeit zum Ziel und Zweck.
Demgegenüber ist die Asymmetrie der Schwäche als eine Reaktion auf diese Überlegenheit zu betrachten. Auf die totale Unterlegenheit ist Gleichartigkeit nämlich keine sinnvolle Reaktion. In Münklers Terminologie wird daher der Unverwundbarkeit die Unsichtbarkeit entgegengesetzt. Beispiel Afghanistan: Dort ersetzten Teppichmesser die fehlenden Langstreckenbomber. Die Entführung ziviler Flugzeuge am 11. September 2001 hatte den gleichen Effekt wie ein klassischer Luftangriff.
Der Terrorismus ist Münkler zufolge eine offensive Waffe. Denn anders als der territorial gebundene Guerillakrieg sei er nicht auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Vielmehr nutze er die Infrastruktur der angegriffenen Länder. „Je komplexer (diese Infrastruktur) ist, desto leichter sind sie anzugreifen und um so wirkungsvoller können terroristische Gruppen agieren.“ Diese Schwäche machten sich Terroristen zunutze, wobei sie zugleich auf die psychologischen Folgen einer postheroischen Disposition in der angegriffenen Bevölkerung hofften. Wir kapitulieren, nennt dies Henryk M. Broder in seinem jüngsten Buch (wobei Broder selbst von jenem Wir natürlich ausgenommen ist).
Alle kapitulieren (bis auf Henryk M. Broder)
Die Kriege des 21. Jahrhunderts werden also asymmetrische Kriege sein. Die waffentechnologisch begründete Asymmetrie der Stärke trifft auf eine Asymmetrie der Schwäche, die auf der Erzeugung von Schrecken beruht. Dieser Gedanke bestimmt Münklers Buch, und der Autor leuchtet das Thema in seiner ganzen Tiefe aus. Neben den historischen Exkursen bietet das Werk erhellende Ausführungen etwa zur Rolle der Medien im Krieg. Vor allem ist seine Darstellung von der Rolle abhängig, die er den Vereinigten Staaten in der internationalen Politik zuweist. Deren waffentechnologisches Potenzial mache sie in einem konventionellen Krieg unschlagbar. Allein der Terrorismus sei dann in der Lage, die USA ernsthaft herauszufordern, aber auch nur solange die These vom Postheroismus zutreffe – solange also die Bevölkerung (bis auf Henryk M. Broder) kapituliere.
Niemand bestreitet heute mehr, dass vom Terrorismus eine Bedrohung besonders für westliche Industriestaaten ausgeht. Dennoch ist seine Wirkung auf die internationale Politik begrenzt. Zwar gab es nach dem 11. September 2001 weitere Anschläge in Europa – aber welche Folgen hatten sie? Die ökonomischen Auswirkungen sind minimal, und nach klassischen militärischen Gesichtspunkten halten sich die zivilen „Verluste“ in Grenzen. Darüber hinaus habe, wie Münkler ausführt, der polizeiliche Fahndungsdruck die potenziellen Attentäter so unter Stress gesetzt, dass sie zumeist mit der eigenen Existenzsicherung beschäftigt seien. Der Terrorismus ist kein militärisches Problem, sondern ein polizeiliches.
In dieser Hinsicht war die Politik äußerst effektiv. So effektiv, dass man mittlerweile die Frage stellen muss, ob die diversen Antiterrorgesetze nicht den Bogen zu Lasten der Bürgerrechte überspannt haben. Der islamistische Terrorismus hat dem Westen den Krieg erklärt, doch die meisten Menschen haben davon nur im Fernsehen etwas mitbekommen. Sie leben in tiefstem Frieden und können sich allein deshalb den Luxus erlauben, Berliner Opernaufführungen für ein Sicherheitsproblem zu halten. Wenn das der Krieg des 21. Jahrhunderts sein soll, wäre das ein echter Fortschritt.
Nein, das größte Problem bleiben die Konflikte innerhalb des Staatensystems. Zu diesen großen Herausforderungen hat Münkler aber wenig zu sagen. So spielt die Frage der Proliferation von Atomwaffen in seinem Buch kaum eine Rolle. Die neuen Atommächte, vor allem Nordkorea und der Iran, sind für ihn irrationale Akteure, denen der Griff nach der Bombe zusätzliches Erpressungspotenzial in die Hand gebe. In Wirklichkeit sind diese beiden Staaten die größte Gefahr für den Weltfrieden – und nicht eine Geisterarmee namens Al-Kaida.
Prinzipiell hält Münkler einen klassischen Krieg zwischen modernen Gesellschaften, also etwa zwischen China und den Vereinigten Staaten, für ausgeschlossen. Diese These beruht auf der historischen Erfahrung, dass während des Kalten Krieges ein Krieg zwischen den Supermächten ausgeblieben ist. Mit dem heute fast vergessenen Koreakrieg zwischen 1950 und 1953 hat es einen solchen, wenn auch nur in rudimentärer Form, aber durchaus gegeben – und er führte keineswegs in den atomaren Weltuntergang.
Aber jenseits dieses grundsätzlichen Problems stellt sich für den Westen vor allem die Frage, wie er mit den aktuellen Krisen umgehen soll. An dieser Stelle zeigt sich, auf welch schwachen Füßen die These von der Asymmetrie der Stärke steht. Die Annahme von der amerikanischen Übermacht ist schon heute reine Fiktion. Zwar sind die Vereinigten Staaten konventionell haushoch überlegen, doch steht diese Stärke lediglich auf dem Papier.
In Wirklichkeit sind die militärischen Möglichkeiten der Vereinigten Staaten in beiden Krisen – Iran und Nordkorea – äußerst beschränkt. So können Luftangriffe auf die nukleare Infrastruktur des Iran den Bau iranischer Atombomben nicht dauerhaft verhindern. Die Androhung einer militärischen Besetzung hat zwar abschreckende Wirkung – allerdings vor allem auf die Vereinigten Staaten selbst. Denn eine Ausweitung dieses Krieges auf den Irak und die arabische Halbinsel wäre für den amerikanischen Generalstab der Albtraum schlechthin. Die ökonomischen Folgen im Falle einer Schließung der Ölquellen in diesem Raum braucht man wohl nicht zu betonen.
Der Iran schreckt effektiver ab
Der Iran hat also das effektivere Abschreckungspotenzial als die Vereinigten Staaten – und ist sich dessen auch bewusst. Die Vereinigten Staaten haben den Iran überhaupt erst mit dem Sturz Saddam Husseins in diese Position gebracht. Die Handlungsfähigkeit der Vereinigten Staaten ist daher an einen Rückzug aus dem Irak gebunden – und selbst dieser könnte den Status quo ante nicht wiederherstellen.
Beim Thema Nordkorea wiederum sind China und Russland die einzigen Trümpfe der Vereinigten Staaten. Denn einen Abbruch der Beziehungen zu beiden Staaten kann sich Nordkorea kaum leisten. Nun werden weder Moskau noch Peking ein Interesse an einer nordkoreanischen Atombombe haben, die am Ende zur atomaren Aufrüstung Japans führen würde. Damit haben sich die Vereinigten Staaten schon heute in die Abhängigkeit ihrer pazifischen Rivalen begeben. Diese Schwächung der amerikanischen Position wird sehr bald zu spüren sein.
Voraussichtlich in einem überschaubaren Zeitraum wird der Iran zu einer Atommacht aufsteigen. Wie soll der Westen damit umgehen? Es wird vermutlich zu einer Renaissance der atomaren Abschreckung kommen. Dieses Thema wird in Deutschland anders als in den Vereinigten Staaten oder Frankreich bis heute nicht ernsthaft diskutiert.
Zwar ist der iranische Präsident Ahmadinedschad, wie nicht nur seine Äußerungen zu Israel belegen, in moralischer Hinsicht ein Idiot. Doch die atomare Abschreckung beruht auf anderen Kategorien. Sie funktioniert aufgrund des urmenschlichen Überlebenswillens. Jeder Einsatz einer iranischen Atombombe wäre zwangsläufig mit dem Ende des Iran verbunden. Zwischen den Supermächten galt im Kalten Krieg die Gewissheit der mutual assured destruction, spöttisch „MAD“ genannt: Wer als erster schießt, stirbt als zweiter. Die strategische Fähigkeit zur MAD wird der Iran wegen seiner fehlenden Ressourcen nie besitzen. Im Atomkrieg stirbt also nur einer: der Iran selbst.
Eine iranische Atombombe ist für das Teheraner Regime folglich von zweifelhaftem Nutzen: Die Iraner bauen eine Waffe, die sie nur einsetzen könnten, wenn sie ihren Urinstinkt verlören. Selbst für einen theoretisch denkbaren Angriff der Vereinigten Staaten wäre eine Atombombe keine unüberwindliche Hürde. Das begrenzte Nuklearpotenzial des Iran ließe sich militärisch ausschalten.
Herfried Münkler hat im Berliner Tagesspiegel von der „Akkumulation von Macht“ durch die Verfügbarkeit von Atomwaffen geschrieben: Der Iran gewinne Abschreckungsmacht gegenüber den Vereinigten Staaten und seinen Nachbarn. In Wirklichkeit jedoch hat der Iran zurzeit ohne Atombombe mehr Abschreckungsmacht als er mit einer Atombombe jemals haben wird. Das sind zwar keine erbaulichen Perspektiven. Aber wer einen anderen Weg zwischen der Katastrophe eines Krieges und der ebenso schönen wie irrealen Vision einer atomwaffenfreien Welt kennt, der möge sich melden.