Glaubt einem Gebrannten!
„Das ist eine Frage, vor der jeder demokratische Staat steht: ob er das menschenmögliche Höchstmaß von Machtausübung durch den Souverän, das Volk, sichern will oder ob er einen allmählichen Übergang zu Verhältnissen zulassen oder sogar fördern will, in denen der eigentliche Souverän mehr und mehr zum bloßen Beifallsspender oder Bekunder von Absichten wird, ohne noch die Möglichkeit zu haben, diese auch durchsetzen zu lassen.“
Herbert Wehner sagte das in einem Gespräch mit Günter Gaus kurz vor der Bildung der ersten Großen Koalition im Sommer 1966. Der demokratische Staat solle wirtschaftliche Macht daran hindern, politische Macht zu kaufen oder selbst politische Macht zu sein. Heute hingegen gilt es, ganz hegelianisch, als höhere Einsicht, die Grenzen der Politik zu akzeptieren. Nur aus diesem Grund ist der Begriff des Souveräns auch aus dem öffentlichen Sprachgebrauch weitgehend verschwunden. Als „Beifallsspender“ oder „Bekunder bloßer Absichten“ macht sich jeder Souverän lächerlich, gerade auch der demokratische. Und dieser Verdacht, dass Politik wirkungslos sei, steht mittlerweile über allem was Parteien und Parlamente tun. Deshalb bezieht man sich heute auch lieber auf Versatzstücke des alten Ordoliberalismus. Souverän ist, wer über die Rahmenbedingungen entscheidet – so lautet das heimliche Motto, könnte man meinen. Die Fläche zwischen den Rahmen mit Inhalten zu füllen, bleibt dann anderen überlassen. Einen Herbert Wehner braucht man dafür allerdings nicht.
Oder vielleicht doch? Herbert Wehner wäre am 11. Juli 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass ist jüngst eine neue Biografie über den großen Sozialdemokraten erschienen. Der Autor, der Dresdner Historiker Christoph Meyer, ist mit Herbert Wehner in vielerlei Hinsicht verbunden, unter anderem als Geschäftsführer der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. Gleichwohl ist das Buch keine Hagiografie geworden. Allein das letzte Kapitel unter der Überschrift „Krankheit und Sterben“ ist bedrückend zu lesen. Wehner war nach seinem Ausscheiden aus der Politik im Jahr 1982 am Ende seiner Kräfte. Der Verfall in seinen letzten Lebensjahren wirkt bei Meyer wie der Preis, den Wehner für das zu späte Ausscheiden aus der Politik zahlte. Heldenverehrung sieht anders aus. Der Autor rekonstruiert Wehners Leben aus den verfügbaren Quellen und hält sich mit Bewertungen zurück. Dabei mag die Versuchung groß gewesen sein, diesen bis heute so umstrittenen Mann in Form einer Rechtfertigungsschrift gegen seine zahlreichen Kritiker zu verteidigen. Man denke nur an die Vorwürfe des Hamburger Historikers Reinhard Müller, Wehner sei während seiner Moskauer Jahre ein williger Helfer des NKWD gewesen; oder an den Versuch von Brigitte Seebacher-Brandt, Wehner als einen sowjetischen Einflussagenten in der SPD zu denunzieren.
Sie waren aus dem Gleis geworfen
Wehner wird zumeist auf seine Funktion reduziert: auf den führenden Kommunisten im Moskauer Exil oder den „bösartigen Drahtzieher“ (Franz Walter) der Nachkriegssozialdemokratie. Die Person selbst spielt selten eine Rolle. Bei Christoph Meyer ist das anders. Er interessiert sich für den Menschen Herbert Wehner.
In seiner politisch aktiven Zeit erfuhr Wehner solches Interesse durchaus. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg stand, abgesehen von Willy Brandt, wohl niemand so sehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie Wehner – und er war hoch umstritten. In ihm fand das Land seine eigene Geschichte wieder. „Glaubt einem Gebrannten“ – mit diesen Worten setzte er sich auf dem SPD-Parteitag im Jahr 1959 für die Annahme des Godesberger Programms ein. Dieser Satz hätte auch dem ganzen Land gelten können.
Herbert Wehners Leben war der Versuch, Boden unter die Füße zu bekommen. „Sie waren aus dem Gleis geworfen“, so zitiert Meyer eine Beschreibung Wehners seiner sozialistischen Jugendgruppe im Dresden der frühen zwanziger Jahre. Herbert Wehner sollte Jahrzehnte brauchen, um dieses Gleis wiederzufinden. Als Kommunist gehörte er zur verfolgten Minderheit in Nazideutschland, was nichts an seinem Fehler änderte, sich der KPD angeschlossen zu haben. Als Emigrant verstrickte sich Wehner dann in die Fallen des Moskauer Totalitarismus. Nach seinem Bruch mit den Kommunisten musste er die Feindschaft der DDR und die Skepsis der bürgerlichen Mehrheit im Westen zugleich aushalten. Kommunisten wie Konservative betrachteten ihn als Verräter, wenn auch aus entgegen gesetzten Gründen. Später kämpfte er um die Mehrheitsfähigkeit der scheinbar zur ewigen Opposition verurteilten SPD.
Nach Bildung der Großen Koalition im Jahr 1966 schien Wehner den „Boden unter den Füßen“ gefunden zu haben: für sich selbst und für Deutschland. Aber sein politischer Horizont blieb von der Erfahrung der Bodenlosigkeit geprägt. Als Fraktionsvorsitzender der SPD wollte er ab 1969 zuvörderst die Regierungsfähigkeit der Partei erhalten. Sein politisches Handeln, vor allem in der Deutschlandpolitik, war von der Angst geprägt, das Erreichte – es war in seinen Augen wenig genug – wieder zu verlieren. Der Machtverlust wäre ihm in den siebziger Jahren als ein Desaster erschienen, nicht als ein gewöhnlicher Machtwechsel in einer parlamentarischen Demokratie. Wie sollte das auch anders sein? Ein normaler Machtwechsel wie wir ihn kennen, mit seiner Mischung aus Kontinuität und Veränderung, lag außerhalb Wehners politischer Erfahrung. Bis 1945 war ein Regierungswechsel in Deutschland gleichbedeutend mit einer Katastrophe. Und seit der Gründung der Bundesrepublik bis 1969 hatte es nicht einen einzigen Regierungswechsel gegeben. Nachgeborene können sich das heute nicht mehr vorstellen, aber man wird Wehner nicht gerecht, wenn man diese persönlichen Erfahrungen nicht einbezieht.
Nicht Resignation, sondern Ungeduld
Daher ist Herbert Wehner nicht nur ein Sinnbild für die Gebrochenheit der Deutschen im vergangenen Jahrhundert. In ihm spiegelt sich auch der Kampf der Deutschen um den „Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler). Die Demokratie wurde Wehners Lebensthema. Darin bündelte sich seine politische Erfahrung und seine Lebensgeschichte. „Er neigte nicht zur Resignation, sondern zur Ungeduld“, so Meyers Resümee über Wehners Jugend. „Er hatte das Gefühl benachteiligt zu sein, und zog (Zitat Wehner) ‚daraus die Konsequenz, dass man sich kümmern müsse, damit jedem seine Chance gegeben würde‘. So fing er an, politisch zu denken und zu handeln.“
Wehner hatte dabei vor 1945 nicht den Eindruck, dass sich seine Vorstellungen im Rahmen der parlamentarischen Demokratie verwirklichen ließen. Die Mehrheit der Deutschen sah das ähnlich, kam allerdings zu anderen Schlussfolgerungen. Wehner entschied sich bei den Wahlen von 1932 und 1933 für den kommunistischen Totalitarismus, noch mehr Deutsche wählten den nationalsozialistischen Totalitarismus. Zusammen war es ein kompletter Irrweg. Es sollte lange dauern, bis Wehner und Deutschland einen Ausweg daraus fanden.
Die Demokratie als Lebensthema ist folgerichtig der rote Faden des Buches. Dabei skizziert der Autor keinen geraden Entwicklungsweg. Er erklärt den frühen nicht aus dem späten Wehner, als wäre im Saulus schon der spätere Paulus zu erkennen. Der Bruch mit dem Kommunismus lässt sich genauso wenig aus einem Damaskus erklären: Weder die Moskauer Prozesse noch der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt waren für die Desillusionierung verantwortlich. Hier offenbarte sich Wehner die Wahrheit über den Kommunismus noch nicht. Sonst wäre er nämlich nicht – und Meyer lässt daran keinen Zweifel – Anfang des Jahres 1941 noch als Kommunist nach Schweden gekommen. Sein Motiv (und auch sein ursprünglicher Auftrag) war die Organisation des Widerstandes in Deutschland.
Besessen vom Streben nach Effizienz
Wehner handelte auch zu dieser Zeit aus einem tiefen Nationalbewusstsein heraus. Von der bei vielen Emigranten zu spürenden Verzweiflung über die Deutschen ist bei ihm nicht die Rede. Dies war nach dem Krieg wohl auch der Grund für die große Nähe zum ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD, Kurt Schumacher, der in deutlichem Kontrast zu Konrad Adenauer radikal zwischen Deutschland als Nation und dem Deutschland der Nazis unterschied.
Mit ehemaligen Nazis hatte Wehner keine Probleme, sofern sie – wie er selbst – die richtigen Konsequenzen aus ihren Erfahrungen gezogen hatten. Sein gutes Verhältnis zu Kurt Georg Kiesinger war legendär. Wehner war aus durchaus rationalen Gründen Kommunist geworden, der so fatale romantische Idealismus vieler Deutschen spielte bei ihm kaum eine Rolle. Er sah die Aussichtslosigkeit seines frühen Anarchismus und entschied sich 1927 für die KPD, weil sie ihm nach seinem frühen Bruch mit der Weimarer SPD als einzige Alternative vorkam.
In Wehners Leben scheint es dabei eine Konstante gegeben zu haben: die einzigartige Verbindung von intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten mit hoher Organisationskompetenz. Ob er den sächsischen Parteiapparat der KPD und den kommunistischen Widerstand im frühen Nazideutschland organisierte oder später in der SPD als stellvertretender Parteivorsitzender oder als Vorsitzender der Bundestagsfraktion den Zuchtmeister gab: Wehner muss vom Streben nach Effizienz besessen gewesen sein – und in seinem späteren Verständnis von pragmatischer Politik ist viel von diesem Effizienzbewusstsein zu finden.
Das völlige Unvermögen des Kommunismus
Man hat das häufig als Ergebnis seines stalinistisch geprägten Politikverständnisses missverstanden. Diese These unterstellt aber eine Effizienz des leninistischen Politikmodells, das Wehner – wie bei Meyer deutlich wird – fundamental anders erfahren hatte. Wehner erlebte in Moskau nicht nur die brutale Rücksichtslosigkeit des Sowjetregimes gegenüber Menschen, sondern zugleich das völlige Unvermögen des kommunistischen Apparates zu wirkungsvollem Handeln. Dem Kommunismus wohnte eine selbstzerstörerische Dynamik inne. Ob Wehner im Moskauer Emigrantenhotel Lux zwischen 1937 und 1940 vor allem seinen eigenen Kopf retten wollte, wie es Christoph Meyer vorsichtig vermutet, oder ob er einer der Antreiber des mörderischen Denunziationsapparates war, wie es Reinhard Müller unterstellt, ist letztlich irrelevant. Beide Sichtweisen verfehlen den Kern des Totalitarismus. Dieser ist nach Hannah Arendt die Zerstörung menschlicher Handlungsfähigkeit. Genau das muss Wehner in Schweden bewusst geworden sein. Er erkannte wohl erst dort die Korrumpierung der Kommunisten durch den Kommunismus und die Unmenschlichkeit der kommunistischen Utopie.
Dass Wehners Eintritt in die KPD vernunftgeleitet gewesen war, mag im Jahr 1945 den Bruch erleichtert haben. Sein Handeln im Parteiapparat spielte im Ablösungsprozess so gut wie keine Rolle. Christoph Meyer hält Wehners berühmte „Notizen“ daher weder für eine Selbstkritik noch für eine Selbstrechtfertigung, „denn sie kreisten nicht um die Person Wehner, sondern um das Versagen der Partei und ihrer Funktionäre.“ Hier erkennt man wohl einen besonderen Charakterzug Wehners: Er nahm sich selbst nicht allzu wichtig. Deshalb hat er zeitlebens nie dem Typus des Renegaten entsprochen, der seinen Abfall vom Glauben durch besonderen Eifer beweisen muss. Wehners Antikommunismus kam ohne Fanatismus aus. Er war die Essenz eigener Erfahrungen. Mit der Frage nach der persönlichen Verantwortung in der Diktatur hätte er allerdings auch nicht viel anfangen können.
Schweden als Erweckungserlebnis
In Christoph Meyers Buch wird aber auch deutlich, welche Rolle der Zufall – oder auch das Glück – für Lebenswege spielt. Niemand weiß, wie sich Wehner ohne seine Ausreise nach Schweden entwickelt hätte. Deutlich wird, wie sehr die Erfahrungen mit der schwedischen Demokratie und die Beziehung zu seiner späteren Frau, Lotte Burmester, seine Entwicklung beeinflusst haben.
Viele Deutsche mussten im vergangenen Jahrhundert krumme Wege gehen. Das gilt nicht nur für Herbert Wehner, sondern auch für die beiden anderen führenden Sozialdemokraten seiner Zeit: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Der eine wurde als Emigrant denunziert, der andere hatte als Wehrmachtsoffizier an der Ostfront gekämpft. Letzteres fand allerdings in der Öffentlichkeit mehr Verständnis als Brandts Exilzeit in Norwegen und Schweden.
Christoph Meyer unternimmt gar nicht erst den Versuch, den zahllosen Interpretationen über diese Ménage à trois seine eigene hinzuzufügen. Er bleibt seinem Ansatz treu, Wehner aus sich selbst heraus zu verstehen. Das erweist sich als sinnvoll, selbst wenn man manchen Schluss für verfehlt halten mag. So versucht Meyer etwa, den Wehner der fünfziger Jahre aus der Position des linken Flügelmannes in die Mitte zu rücken. Als Beleg dafür führt er Wehners frühe Positionierung zugunsten des Godesberger Programms an. Das ist wohl zu viel der Ehre. Wehners politische Plattform dieser Jahre war sein Kampf gegen Adenauers Westbindung. Wie Schumacher wollte er nicht den Preis einer Vertiefung der deutschen Teilung zahlen. Schmidt, aber vor allem Brandt, sahen dies schon zu einer Zeit anders, als Wehner noch mit seinem Deutschlandplan Weltpolitik zu machen versuchte.
„Der Regierung fehlt ein Kopf“
Aber Wehner konnte nach Godesberg zusammen mit Erich Ollenhauer die Partei auf einen neuen Kurs bringen: Das Scheitern des alten Kurses war offenkundig geworden – und nur Herbert Wehner konnte das den eigenen Anhängern glaubhaft vermitteln. Brandt und Schmidt, ja sogar Fritz Erler fehlte dafür die nötige Autorität.
Genauso wenig überzeugt Meyers Versuch, Herbert Wehners Rolle beim Sturz Willy Brandts zu relativieren. Brandt sei vor allem an sich selbst gescheitert. Nun denn: Jedes Scheitern hat immer mit einem selbst zu tun. Aber wer glaubt im Ernst, dass Herbert Wehner nicht tatsächlich meinte, was der Spiegel schon ein Jahr vor Brandts Rücktritt aus seinen berüchtigten Schachtelsätzen destillierte: „Der Regierung fehlt ein Kopf“ und „Der Herr badet gerne lau, so in einem Schaumbad“.
In seinen Berichten für den NKWD hatte Wehner gelernt, welche Bedeutung Worte haben können. Deshalb liegt Meyer wahrscheinlich falsch, wenn er diese Wehnerschen Formulierungen als missverständlich charakterisiert. Dafür gibt der Autor sogar selbst einen Hinweis, er zitiert nämlich Greta Wehner: „Man kann keinen lahmen Hasen oder lahmen Hund zum Jagen tragen, das kann man nicht, denn dies muss aus einem selbst kommen, wenn man eine solche Verantwortung tragen will.“ Genau diesen Eindruck wird Wehner dem Kanzler vermittelt haben, er versicherte dem „lahmen Hund“ allerdings zugleich seine „uneingeschränkte Treue für jede denkbare Entwicklung“. Die Treueschwüre waren glaubhaft, wie man aus der Biografie lernen kann: Wenn sich Brandt zum Weitermachen entschieden hätte, wäre Wehner sicherlich als Letzter illoyal geworden.
An Jagdeifer mangelte es Schmidt nicht
Dass Helmut Schmidt seine nahende Kanzlerschaft nicht gespürt haben will und deshalb Wehner nicht zum Kanzlersturz entschlossen gewesen sein könne, ist übrigens auch kein Argument. Wenn Schmidt heute die Übernahme der Kanzlerschaft als „Größenwahn“ tituliert, so mag er, in der Terminologie Greta Wehners, zwar auch ein Hund gewesen sein, der zum Jagen getragen werden wollte – man darf das aber auch Pflichterfüllung nennen. Wehner vermutete wohl, nach der Wahl Helmut Schmidts zum Bundeskanzler werde fehlender Jagdeifer kein Problem sein. In dieser Hinsicht hat Helmut Schmidt bekanntlich tatsächlich keine Wünsche offen gelassen.
Zwar war das Verhältnis zwischen Brandt und Wehner am Ende heillos zerrüttet, dennoch fanden beide eine Arbeitsebene. Die Arbeitsteilung mit dem Kanzler Schmidt funktionierte erstaunlich lange – vor allem im Vergleich zu späteren Erfahrungen der SPD mit ihrem Führungspersonal. Die gute Zusammenarbeit hatte – und diese Erkenntnis ist für die heutige Generation wichtig – nichts mit den besonderen Verhältnissen nach dem Krieg zu tun. Auch nicht damit, dass Erlebnisse im Hotel Lux oder an der Ostfront nun einmal andere waren als die Abenteuer von Wickie im Fernsehen. Auch die Biografien eines Joseph Fischer oder eines Daniel Cohn Bendit wirken im Vergleich bestenfalls wie eine Monty-Python-Version von Wehners Leben.
Herbert Wehner und Willy Brandt waren nie besonders stolz auf ihre Erfahrungen. Beide hätten gerne darauf verzichtet, sie machen zu müssen – und gerade Wehner hatte anscheinend mehr Verständnis für die jungen Leute, als sein barscher Tonfall es bisweilen erkennen ließ. Die drei Sozialdemokraten hatten Ende der fünfziger Jahre ein gemeinsames Ziel: die Demokratie in Deutschland zu sichern, den sozialen Ausgleich zu praktischer Politik zu machen und die Teilung der Nation zu mildern, wenn man sie schon nicht aus eigener Kraft überwinden konnte. Es war der Glaube an die Gestaltbarkeit der Dinge, der sie bei allen Unterschieden und persönlichen Animositäten einte. Aus dem eingangs genannten Zitat spricht eben nicht nur Herbert Wehner. Es steht für die gesamte Sozialdemokratie dieser Zeit.
Heute fehlt der SPD das einigende Band
Heute fehlt es an diesem einigenden Band innerhalb der SPD. Dabei steht das Projekt einer mehrheitsfähigen Linken eigentlich fest: Es ist eine Linke, die den demokratischen Souverän nicht zum Beifallsspender degradieren lässt, die seinen Wert auch gegen die Staatsfeinde der liberalen Rechten verteidigt. Es ist ein Projekt, das den Sozialstaat zwar neu definiert, aber die Wertschöpfung in dieser Ökonomie deshalb nicht zur Privatsache deklariert. Der Reichtum dieses Landes ist der gesamten Gesellschaft nutzbar zu machen – er ist nicht nur das Vorrecht privilegierter Gruppen.
Wehner hat sich ab den späten fünfziger und in den sechziger Jahren als strategischer Kopf erwiesen, der sein Ziel mit großer Beharrlichkeit verfolgte. Dabei ging es nur vordergründig um die Bildung einer Großen Koalition. Das Bündnis mit der Union war Mittel zum Zweck. Wehner wollte die Arbeiterbewegung in den demokratischen Staat integrieren und die SPD für andere Bevölkerungsgruppen öffnen. Er wollte damit zugleich die Spaltung der deutschen Gesellschaft in verfeindete Gruppen überwinden, deren furchtbare Konsequenzen er selbst erleben musste. Letztlich hat er dieses Ziel erreicht: Trotz aller Probleme ist die Demokratie in Deutschland gut verankert.
Bräuchte man heute wieder einen Herbert Wehner? Die Antwort lautet: Ja, aber nicht, um die SPD in die Große Koalition zu führen. Die gibt es schon. Herbert Wehner würde heute vielmehr nach neuen politischen Optionen suchen, um alte Ziele auch im 21. Jahrhundert zu erreichen. Wie genau, darauf findet man in der Biografie von Christoph Meyer natürlich keine Antwort. Das Buch gibt aber einen Eindruck von der Suche nach richtigen Antworten im vergangenen Jahrhundert. Im Leben Herbert Wehners spiegelte sich dieses Jahrhundert wider, mit all seinen Katastrophen und Irrtümern. Trotz aller Neuanfänge war Herbert Wehner aber immer bewusst, wo er herkam und für wen er Politik machte. Das macht dieses Buch deutlich.
Christoph Meyer, Herbert Wehner, Biographie, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006, 580 Seiten, 16 Euro