Die SPD und das Absurde
Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos: Ein Versuch über das Absurde
Wir wissen, worauf sich Albert Camus 1942 bezog. Er setzte einen Gegenentwurf zu jener Utopie der Linken, die Sisyphos durch Revolution, gedacht als Sowjetmacht plus Elektrifizierung, von seinen Qualen erlösen wollte. Das Ende der Sowjetunion hat diese Utopie endgültig diskreditiert. Doch inzwischen ist auch Camus in die Tiefen des 20. Jahrhunderts versunken. Camus als Schullektüre wäre heute absurd, weil Schüler ohne den historischen Kontext seine Theorie des Absurden als Gleichgültigkeit missverstehen müssen.
Mit dem Tod der kommunistischen Utopie sind auch diese Gegenkräfte verstorben. Die Linke arbeitet sich an Fragen wie der Globalisierung ab. Statt den Tod der großen gesellschaftspolitischen Entwürfe als Befreiung zu empfinden, betrachten selbst heute noch manche Jüngere die eigenen Antworten als rudimentär. Ein Sachverhalt, der nicht ganz neu ist, aber heute eine neue Qualität hat. Denn es gibt eine Generation, die die verfallende Utopie kurz vor deren Tod für sich nutzen konnte. Davon kann heute natürlich keine Rede mehr sein.
Die gesellschaftspolitischen Entwürfe der Neuen Linken waren in den sechziger und siebziger Jahre manchmal purer Nonsens, bisweilen sogar verbrecherisch. Aber diese Neue Linke - einschließlich der Jusos - setzte sich in der deutschen Politik mit den Resten der Wirkungsgeschichte der "großen Erzählungen" (Jean-Francois Lyotard) des 19. und 20. Jahrhunderts durch. Mit ihnen gab es das letzte Aufbäumen kurz vor dem endgültigen Tod. Der alte Jean Paul Sartre, Prototyp des linken Intellektuellen und Antipode von Camus, missverstand das Aufbäumen als Wiedergeburt. Historisch gesehen ist sein Besuch bei Andreas Baader im Stammheimer Hochsicherheitstrakt das Symbol für die Tragik der Linken - am Ende war aus der Utopie eine blutige Farce geworden. Ironischerweise aber sind in Deutschland die tragisch Gescheiterten zugleich als Profiteure linker Verfallsgeschichte an der Regierung. Ein Ergebnis, das sie zu Beginn der siebziger Jahre sicherlich kaum erwartet hätten. Wie konnte Joschka Fischer 1974 wissen, dass er einmal der Nachfolger des CDU-Außenministers Gerhard Schröder sein würde?
Die Neuen Linken profitierten in den sechziger und siebziger Jahren vom noch vorhandenen schlechten Gewissen des Bürgertums und der reformistischen Arbeiterbewegung - des Bürgertums, weil es die nazistische Gegenutopie vollständiger Amoralität vertreten hatte, der reformistischen Arbeiterbewegung, weil es der Per-version nichts hatte entgegensetzen können. Die Folgen hat Herbert Marcuse mit seiner Theorie von der repressiven Toleranz auf den Punkt gebracht. Diese These soll hier nicht theoriegeschichtlich als Teil linker Verfallsgeschichte im allgemeinen und der kritischen Theorie im besonderen betrachtet werden, sondern die Integra-tion der linken Achtundsechziger in den bürgerlichen Staat erklären.
Die Repression hatte zwei Gesichter: Stammheim gegen den Terrorismus und das Berufsverbot gegen den organisierten Sowjetkommunismus, der als fünfte Kolonne im europäischen Bürgerkrieg agierte. So wenigstens die Wahrnehmung bei den Initiatoren des Berufsverbotes wie Willy Brandt. Toleranz dagegen brachte man den Mitläufern der Achtundsechziger entgegen. Deren Protagonisten sind heute Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Gerhard Schröder steht dabei für den sozialdemokratischen Flügel dieser Generation, Joschka Fischer für die Neue Linke, die sich außerhalb der klassischen Arbeiterbewegung organisierte. Das zentrale Integrationsinstrument war dabei der Umbau des konservativen deutschen Sozialstaates in den sozialdemokratischen Interventionsstaat. Die Planungs- und Reformeuphorie der ersten Regierung Brandt-Scheel traf sich auf das Wunderbarste mit den Interessen des rebellisch gewordenen Akademikernachwuchses. Das schlechte Gewissen der deutschen Nachkriegsgesellschaft konnte mit der Ausweitung des öffentlichen Sektors beruhigt werden:
"Unter dem Gesichtspunkt der Klassenverhältnisse bezeichnete die sozialliberale Regierung eine Art von instabilem Kompromiß zwischen der sich hegemonial durchsetzenden Fraktion des technologisch fortgeschrittenen und weltmarktorientierten Monopolkapitals einerseits, den gewerkschaftlich organisierten Facharbeitern und vor allem den quantitativ und politisch zunehmend gewichtigen neuen Mittelklassen der Angestellten und Beamten, die sich von einer staatlichen Modernisierungsstrategie zunächst noch materielle Verbesserungen, z.B. durch die Ausweitung des Staatssektors erhoffen konnten, andererseits."
So hat es 1986 der Gesellschaftswissenschaftler Joachim Hirsch in seinem Buch Der Sicherheitsstaat aufgeschrieben. Selbst der letzte eifrige Juso der Gegenwart wird angesichts dieser Sprache verzweifeln. Das war früher allerdings nicht anders. Der theoretisch nicht ganz sattelfeste Neue Linke tat nur so, als ob er dergleichen verstünde, und manche Theoretiker verstanden sich selber nicht. Zum ersten Punkt gibt der Bundeskanzler sicherlich gerne Auskunft, zum zweiten Johano Strasser. Doch wie auch immer, mit den neuen Mittelklassen meinte der C4-Professor Hirsch natürlich auch sich selbst. Nur gegen das Bündnis mit dem Monopolkapital hatte er, wie man lesen kann, Einwände. Das Zitat beschreibt die Atmosphäre der siebziger Jahre als man sich folgerichtig gegenseitig Verrat oder Kompromisse mit dem Klassenfeind vorwarf. Einig war man sich dann allerdings wieder, wenn es gegen die "reformistische" Sozialdemokratie ging (für jüngere Leser: das kam gleich nach dem Faschismusvorwurf), die durch die Ausweitung des Staatssektors den aufrechten Revolutionär mit Erfolg in Versuchung führte.
In Zeiten "immerwährender Prosperität" (Burkhard Lutz) konnte man sich diesen Mummenschanz leisten. Am sinnfälligsten kommen die Folgen heute in den unzähligen Planstellen für Frauenbeauftragte und ähnlichen Positionen zum Ausdruck, die zwar nichts für die Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft tun - im Gegensatz zur Gleichstellungspolitik der affirmative action in den Vereinigten Staaten - aber die Karriereaussichten ihrer Seilschaften im klassischen deutschen Staatsapparat überwachen - ein Punkt, den in letzter Zeit immer wieder Susanne Gaschke aufgreift (zuletzt in: Der Preis der Freiheit, Berliner Republik 6/2001). Die Reformpolitik der siebziger Jahre gilt heute unter anderem wegen der Folgekosten ihrer verfehlten Personalpolitik als gescheitert.
Darüber hinaus hat sich die in der ÖTV organisierte Arbeiterschaft von den Rebellen im Staatsdienst berechtigterweise nicht abhängen lassen wollen. Entsprechend groß fielen die Zuschläge aus. Die Rücktritte von Brandts Finanzministern Alex Möller und Karl Schiller waren Reaktionen auf diese Form der Integrationspolitik Willy Brandts. Die beiden verstanden schlicht nicht, worum es in der Gesellschaft der siebziger Jahre ging. Eben nicht nur um die Verbesserung der Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten und die Modernisierung der Gesellschaft, sondern zugleich um die Stillegung der Rebellen mittels Gratifikation.
Wie Joseph Fischer beschloss, Politiker zu werden
Die Folgekosten dieser Politik müssen die nachrückenden Generationen bezahlen. Zum einen, indem Stellen im öffentlichen Dienst nicht wieder besetzt werden. Zum anderen, weil diese Politik den Konsolidierungskurs des Finanzministers nötig gemacht hat - der allerdings in Zukunft durchaus sagen sollte, dass nicht wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, sondern seine Generation über ihre.
Dabei gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen den sozialdemokratischen Achtundsechzigern und ihren Pendants auf Seiten der Neuen Linken. Bei den Sozialdemokraten sind Heidemarie Wiezcorek-Zeul oder Rudolf Scharping idealtypisch für ihre Generation. In ihrer Vita gibt es schlicht kein Leben außerhalb der Politik. Die übrigen sozialdemokratischen Achtundsechziger müssen Lehrer geworden sein - was selbstverständlich die polemische Verkürzung eines ernsten Sachverhalts ist: Zwar hat die Bildungskatastrophe der sechziger Jahre hauptsächlich eine revolutionäre Ausweitung von Planstellen und die Deformation der Hochschulen gebracht. Aber auch Juristen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Naturwissenschaftler et cetera bekamen im sozialdemokratischen Interventionsstaat ihren Teil vom Kuchen.
Bei der Neuen Linken vollzog sich diese Entwicklung widersprüchlicher, wie erst jüngst wieder die Debatte um Joseph Fischer gezeigt hat. Der Spontiflügel in der Neuen Linken zeichnete sich zu Beginn durch seine Staatsferne aus. Das subkulturelle Milieu alternativer Betriebe und Vereine ist bis heute die Basis der grünen Stammwählerschaft, die liberale grüne Wirtschaftspolitik deren programmatischer Ausdruck. Man weiß hier, dass es ein Leben außerhalb des öffentlichen Dienstes geben kann - für sozialdemokratische Achtundsechziger eine eher theoretische Sichtweise. Joseph Fischer bringt diesen Widerspruch in seiner Person zum Ausdruck. In der linken Sackgasse zwischen RAF und K-Gruppe suchte er einen neuen politischen Anknüpfungspunkt, den er schließlich in Frankfurt bei den Grünen fand. Er beschloss, Politiker zu werden und kaperte eine Partei, die sich bereits unabhängig von ihm und seinen Genossen entwickelt hatte.
Keine Frage, Fischer ist eines der größten politischen Talente der deutschen Nachkriegspolitik. In der Disziplin Ausschaltung innerparteilicher Gegner können es nur Konrad Adenauer und Helmut Kohl mit ihm aufnehmen. Er symbolisiert den Aufstieg einer Generation von Rebellen, die, ursprünglich in unzählige Fraktionen zerfallen, heute ihre politische Existenz als "rot-grünes Reformprojekt" zelebriert. An der Spitze steht Fischer als Außenminister, dahinter seine Entourage, all die Dicks und Kleinerts. Ihre "Netzwerke" - nicht ohne Grund ist der Begriff eine rot-grüne Lieblingsvokabel - reichen bis in die Kommunen hinein, wo Dezernenten alternative Projekte mit Staatsknete versorgen. Fischers jüngster Erfolg beim Rostocker Parteitag war mit diesem Netzwerk verbunden und insofern durchaus kein Zufall. Die Grünen als Generationenpartei ohne substantiellen programmatischen Unterbau sind von dieser Klientelpolitik abhängig. Der urgrüne Typus des redlichen Pulloverträgers wurde in Rostock für seine Änderungsanträge von den Profis verlacht. Es lachten die, die schon 1980 das Ganze nicht allzu ernst nahmen. Dort sieht man auch den Unterschied zur SPD: In der Sozialdemokratie wagt es noch keiner, öffentlich den etwas ungelenk auftretenden Arbeiter zu verhöhnen; dort macht man das höchstens heimlich beim Bier.
Joseph Fischer - und nicht Gerhard Schröder - ist die Verkörperung von Rot-grün. Gerhard Schröder ist vielmehr der Repräsentant einer klassischen SPD, die die Grünen nach Hause schickt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Rot-grüne Sozialdemokraten hingegen sind besonders anhänglich gegenüber der grünen Partei. Sie gingen schon in den siebziger Jahren den Weg des geringeren Risikos, hatten aber den Nutzen, den die Rebellion der Achtundsechziger brachte.
Während der Typus Rudolf Scharping höchstens für sein biografisches Gesamtkunstwerk Baden mit Gräfin verlacht wird, sieht die Sache für Fischer schon ernster aus. Er muss die Feindschaft der Meinhof-Tochter Bettina Röhl ertragen, die ihm in ihrer Person den Spiegel vorhält. Bettina Röhl bezahlte mit dem Leben ihrer Mutter, was Fischer im Auswärtigen Amt als Belohnung kassiert. Ihre einzige Waffe besteht darin, die Doppelmoral des Außenministers zu attackieren. Diese Kritik war schon immer die Waffe der Machtlosen - wer wüsste das besser als die Achtundsechziger? Sie wird den Grünen am Ende das Genick brechen, weil von ihrer Utopie der siebziger Jahre nichts übrig geblieben ist. Der grüne Nachwuchs, die Scheels und die Berningers, ist weder besser noch schlechter als deren Kollegen in der SPD oder CDU. Aber diese beiden Parteien stehen einstweilen noch für mehr als für ihre Funktionäre Gabriel oder Merz. Das ist bei den Grünen anders, weshalb ihr politisches Überleben ausgeschlossen ist.
Auch Cäsar wollte an seine Vergangenheit nicht erinnert werden
Joseph Fischers Kritik an den Globalisierungsgegnern macht die schiere Egozentrik der Generation Rot-Grün exemplarisch. Er hat den jungen Aktivisten vorgeworfen, dass sie so sind, wie er selbst einmal war. Der 20-jährige Steinewerfer von heute ist moralisch zu verurteilen, nicht weil Gewalt grundsätzlich illegitim ist - das kann Fischer nicht im Ernst erklären -, sondern weil der Steinewerfer aus Fischers eigenen Erfahrungen keine Konsequenzen gezogen hat. Seit 1989 ist die linke Utopie tot und es gibt keine naturrechtliche oder sonstige Begründung mehr dafür, das staatliche Gewaltmonopol infrage zu stellen. Er, der Cäsar Fischer, ist der leibhaftige Beweis dafür, und der Steinewerfer findet vor des Imperators Augen entsprechend wenig Gnade. Der historische Cäsar - das nur als Hinweis für den Historiker Fischer - fand es übrigens ebenfalls immer geschmacklos, wenn er an seine republikanische Vergangenheit erinnert wurde.
Daniel Cohn-Bendit hat dieses Verhalten seines alten Kumpels nicht ohne Grund gerügt. Cohn-Bendit verdankt seine Existenz, wie er einmal berichtet hat, anders als die meisten von uns nicht dem Zufall. Vielmehr war er ein Kind der Befreiung seiner jüdischen Eltern von der Angst vor der Vernichtung. Er verkörpert als Person Hoffnung - ein Faktum, das ihn geprägt hat. Als einzige grüne Führungsfigur mit historischen Bewusstsein kennt Cohn-Bendit die Funktion der Integrationspolitik Willy Brandts, der die Emphase der Jusos von gestern für die SPD von morgen nutzen wollte. Doch die Überlegung Cohn-Bendits, die Globalisierungskritiker durch die Verkündung gemeinsamer Überzeugungen zu integrieren, wird scheitern. Willy Brandts Integrationskonzept funktionierte nicht deshalb, weil er in seiner Jugend bei der SAP rebelliert hatte, sondern weil er die Kontinuität der Arbeiterbewegung verkörperte und den Jusos die Segnungen des Staatsdienstes anbieten konnte. Genau dafür sind sie ihm bis heute dankbar. Die Geschichte der Grünen hingegen kann als Tradition bloß historische Fußnoten wie den Karneval des Pariser Mai 1968 oder Peinlichkeiten wie Fischers Putztruppe aus dem Frankfurter Westend anbieten. Das wird als Integrationsmotor schwerlich ausreichen. Darüber hinaus bleiben die Segnungen des Staatsdienstes heute jungen Kofferträgern vorbehalten. Der Rest hat sich durch Leistung zu qualifizieren, wie es programmatisch bei den Herolden früherer Leistungsfeindschaft heißt. Da geht der Nachwuchs lieber gleich zum liberalen oder konservativen Original.
"Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein! Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Urteil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels."
Die Grünen als Generationenpartei brauchen keinen Nachwuchs. Für die SPD trifft das nicht ohne weiteres zu. Sie beabsichtigt nicht, ihren Betrieb mit dem Ende der Amtszeit Gerhard Schröders einzustellen - wenigstens hat der Generalsekretär Franz Müntefering das glaubwürdig versichert. Allerdings hat die Sozialdemokratie derzeit noch Schwierigkeiten mit der Sicherung ihrer Existenz. Für die meisten Nicht-Achtundsechziger stellt sich dabei die Frage des Sisyphos. Wie können wir uns in der Partei durchsetzen? Gar nicht. Wir sind schlichtweg zu wenige. Wie können wir unserem nutzlosen Tun gleichwohl einen Sinn abgewinnen? Mit Camus.
"Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann."
Gewiss, mancher Achtundsechziger hält den Mann für einen Reaktionär. Selbst für biedere linke Schulmeister oder linke Schulmeisterinnen ist es immer noch selbstverständlich, dass man lieber mit Sartre irrt als etwa Recht behält mit Camus - oder mit Raymond Aron, auf den sich dieses Bonmot ursprünglich bezog.
Die Nicht-Achtundsechziger, die es geschafft haben, lassen sich in drei Gruppen einteilen: Sie sind weiblich, sie schaffen es durch geschicktes Taktieren als Einzelkämpfer, oder sie kommen aus Ostdeutschland - wobei man übrigens sicher sein kann, dass es eine Regine Hildebrandt in einem westdeutschen Ortsverein noch nicht einmal in den Vorstand geschafft hätte. Das Problem der Jungen - und als jung gilt groteskerweise jeder unter 40 - besteht nun darin, dass sie es mit einer rot-grünen Generation zu tun haben, die ihre Standortvorteile machtpolitisch ausschlachtet. Im Gegensatz zur heutigen Propaganda haben die wenigsten Achtundsechziger eine "Ochsentour" hinter sich. Tatsächlich haben sie den Vorteil zu nutzen gewusst, dass die vorhergehende Generation der Jahrgänge 1910 bis1930 wegen der riesigen Kriegsverluste nur schwach besetzt war.
Die älteren Bundespolitiker wie Schmidt, Bahr und Wischnewski waren schon zu arriviert, als dass sie kurzfristig beiseite zu schieben gewesen wären. Doch in den Ortsvereinen und auf der mittleren Funktionärsebene sah es anders aus. Mehrheitlich setzen sich heute Fraktionen und Partei aus altgedienten Genossen und Genossinnen zusammen, die schon 25 Jahre Politik machen und - im historischen Vergleich - sehr früh in wichtige Positionen einrückten. Keiner von ihnen hat an Nachwuchs Interesse. Sie verstehen die SPD als ihr Generationsprojekt, wobei ihnen die Chiffre "Achtundsechzig" als Legitimationsbasis dient. Sie steht für Kampf, Veränderung und Fortschritt. Kämpfe kosten Opfer, selbst wenn der erzielte Fortschritt zweifelhaft ist - und Opfer hat es in der Neuen Linken durchaus gegeben. Der Fall Meinhof ist ja nur exemplarisch für manche, die als gebrochene Persönlichkeiten aus den politischen siebziger Jahren herausgekommen sind.
Bei den Ex-Jusos war das anders. Das einzige Lebensrisiko, das sie in den frühen siebziger Jahren zu tragen hatten, bestand darin, den Kampf gegen das Übergewicht zu früh zu verlieren. Ihre Achtundsechziger-Revolution ist ein einziger Mythos. Und das hat Konsequenzen. Die Profiteure des Verfalls der linken Utopie sind zur konservativen Fraktion in der Sozialdemokratie geworden. Sie sind die verwöhnten Nachkriegskinder. Sie wissen, dass es ihnen - Brandt sei Dank! - nur immer besser gegangen ist. Heute stellen sie fest, dass dasselbe für spätere Generationen nicht mehr der Fall sein wird.
Diese Jusos sind in historischer Perspektive eine privilegierte Generation. Wie jede privilegierte Gruppe neigt auch diese dazu, ihre Privilegien durch ideologische Überhöhung zu verteidigen. Man habe hart gekämpft - etwa gegen böse Altnazis. Man lasse sich bloß nicht von ihren Geschichten über die restaurativen fünfziger Jahre verwirren, die sie nur als Kinder erlebt haben. Und bekanntlich gab es Altnazis in der Sozialdemokratie sowieso nur selten, als man die Arbeiterpartei SPD für sich eroberte und mit Erfolg den langen Marsch durch die Institutionen antrat. Aber entsprechend eifersüchtig wird dieser Erfolg bewacht. Man ist so neidisch, wie es nur aufgestiegene Spießer sein können - etwa auf die Erfolgreicheren in der eigenen Generation, die es weiter gebracht haben als man selbst. Das Problem der SPD machen insofern nicht so sehr Führungsfiguren wie Schröder, Müntefering oder Renate Schmidt aus. Es besteht in den mittleren Kadern der Partei und ihrer Fraktionen, in den kleinen Lichtern, die keiner kennt, die aber die politische Kultur der Partei vor Ort prägen. Mit genau dieser Gruppe haben auch die Schröders, Münteferings und Schmidts ihre Schwierigkeiten.
Solidarisch vereint sind sie dann aber alle wieder, wenn es jemand wagen sollte, den Sachverhalt auch nur auszusprechen. Dann regt sich das Gewissen der moralisch Unanfechtbaren, die im Windschatten der Geschichte bis 1998 für nichts irgendwelche Verantwortung tragen mussten. Das ist mittlerweile anders, da 50-Jährige mit Stolz in der Brust verkünden, sie müssten erwachsen werden - so allen Ernstes die Grünen in der Kriegsdiskussion. Ähnliches hört man auch von sozialdemokratischen Rot-grünen. Es gibt keine zweite Generation, die wie sie fast jede ihrer Überzeugungen über Bord geworfen hat und das nicht als Lebenserfahrung begreift, sondern die eigenen Irrtümer schlicht ignoriert. So viel Nachsicht zeigte man bei anderen nicht.
Der ausgebliebene Lernprozess bleibt nicht ohne Folgen. Die in ihrer Jugend antireformistisch sozialisierten Jusos machen heute zwar Reformpolitik, können aber die frühere Überzeugung nicht verbergen. Wenn der Bundeskanzler oder der Generalsekretär die fehlende Begeisterung in der Partei für die Erfolge der Bundesregier-ung beklagen, finden sie exakt hier den Grund dafür. Von den einstigen Überzeugungen ist zwar nichts geblieben, aber die Skepsis gegen die "kleinen Fortschritte" und die Sehnsucht nach dem "großen Wurf" - das alles ist noch da. So bleibt man sich auf fatale Weise treu.
Entsprechend zeichnete sich der Nürnberger Parteitag der SPD im Herbst 2001 durch ein Maß an Geschlossenheit aus, wie man es von früher nicht gewohnt ist. Die Helden einstiger Parteitagsschlachten sind müde geworden, Debatten über früher weltbewegende Fragen werden bestenfalls noch simuliert. Detlev von Larcher, mit 65 Jahren unverdrossen Vorkämpfer der Parteilinken, streitet für die soziale Gerechtigkeit an der Vermögenssteuerfront. Begeistern kann der alte Recke aber nicht einmal mehr sich selbst. Weil man den Afghanistankrieg schlechterdings nicht ablehnen konnte, suchte man im Vorfeld ein Palliativ. Zum Methadonprogramm für auf Entzug gesetzte Pazifisten wurde die Debatte über Streubomben. Zwar wussten gewiss die wenigsten, worum es sich dabei überhaupt handelte. Auch nicht, dass auch die Bundeswehr solche Bomben in ihrem Arsenal hat. Aber man brauchte eben das erhebene Gefühl, irgendwie dagegen gewesen zu sein - selbst wenn es sich an noch so unsinnigen Dingen entzündet. Denn wieso der Tod eines Talibankämpfers durch gewöhnliche Granatmunition humaner sein soll als durch schreckliche Streubomben, wusste keiner zu beantworten.
Man trifft Entscheidungen - doch deren Konsequenzen lehnt man ab
Nach welchen Mechanismen die rot-grüne Selbstfindungstruppe funktioniert, demonstrierten im Vorfeld der jüngsten Parteitage von Rot und Grün Heidemarie Wieczorek Zeul und Claudia Roth. Es war ihre Theorie des Absurden (im Sinne des Törichten). Sie forderten einen Bombenstopp nach einer einzigen Woche Krieg. Man habe noch nichts erreicht, lautete die Begründung. Wer diese Forderung so aufstellt, begreift den Krieg ohne Rücksicht auf das zu erreichende Kriegsziel als symbolische Handlung. Doch einen symbolischen Krieg zu führen ist keineswegs die moralischere Haltung. Sie bedeutet, sinnloserweise Blut zu vergießen - eine Sichtweise, die kaum ein Militär teilen könnte. Aber um solche Feinheiten ging es beiden Politikerinnen nicht. Sie unterstützten im Übrigen eine Politik der Bundesregierung, die sie noch fünf Jahre zuvor mit Empörung als unvereinbar mit rot-grünen Grundsätzen zurückgewiesen hätten. Es war das Meisterstück des rot-grünen Selbstvergewisserungsprozesses, in dem man seine politische Integrität symbolisch rettet, um am Ende nicht völlig nackt dazustehen. Ihre Parteien haben es den beiden gedankt. Wieczorek-Zeul erhielt bei der Wahl zur stellvertretenden Parteivorsitzenden ein herausragendes Ergebnis, Roth wurde in Rostock von ihrer Partei bejubelt. Das Problem ist dabei keineswegs, ob man den Krieg ablehnt oder befürwortet. Das Problem besteht darin, dass die Delegierten die Idee, eine Entscheidung zu treffen und zugleich deren Konsequenzen abzulehnen, offensichtlich für belohnenswert hielten. In diesem Vorgang wird die derzeitige Lage der rotgrünen Partei wie im Brennglas sichtbar.
"Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."
Als Nicht-Achtundsechziger steht man dem ganzen Schauspiel nur noch staunend gegenüber. Es wird, in anderer Besetzung und auf anderem Niveau, überall in der Republik gespielt. Es ist noch nicht an sein Ende gelangt. Wir sollten es durch die Wiederbelebung der Sozialdemokratie vom Spielplan ablösen. Und unser Lehrmeister sollte Camus heißen.