Angie, Angie, ain’t it time we said goodbye?

So war es nie, so wird’s nie wieder: Eindrücke von einem Abend, an dem die SPD ihren Kanzler einmal so richtig gut fand

Wahlabend, Punkt 18 Uhr. Ein besorgtes Raunen geht durch das Willy-Brandt-Haus. Der erste rote Balken hätte ruhig etwas höher ausfallen können. Beim zweiten, dem schwarzen, bricht Jubel aus. Das überraschend schlechte Ergebnis der Unionsparteien ist der Erfolg des Abends. Und der wird ab sofort gefeiert. Von der SPD und von Gerhard Schröder. Beide sind sich in diesen Stunden so nah wie nie zuvor.
Eine halbe Stunde zuvor noch hatte angespannte Ruhe geherrscht. Unsere schnelle Umfrage um 17.30 Uhr ergab: „An der Bar ist die Laune gut!“ Die Aufregung wird weggetrunken. Zur selben Zeit sammeln sich in der Kneipe Wahlkreis, drei Kilometer Luftlinie vom sozialdemokratischen Mutterschiff entfernt, die Unterstützer der Initiative „wirkaempfen.de“. Die letzten Wetten werden abgeschlossen. Kaum jemand taxiert die CDU/CSU unter 40 Prozent. Während die Bildschirme justiert werden, läuft im Hintergrund der Abschiedssong der Rolling Stones: „Angie, Angie, ain’t it time we said goodbye?“ Noch kurz vor der ersten Prognose gehen die letzten „Anti-Angie“-Buttons so schnell weg wie kurz darauf der Union die Prozente.

Ein wichtiger, ein guter, ein fulminanter Tag

Meantime in the Mutterschiff. Der jüngste aller jungen Kampa-Mitarbeiter erklärt uns wichtig: „Das war ein wichtiger Tag! Schwarz-Gelb hat keine Mehrheit bekommen!“ Aus einer anderen Ecke hören wir ein begeistertes: „Wir haben die Wahl gewonnen.“ „Heute ist ein guter Tag“, ruft eine weitere Sympathisantin und stößt mit Rotwein an. „Ein fulminantes Ergebnis“, erklärt ihre Tischnachbarin. So sehen es hier jetzt alle. Die Stimmung ist überwältigend. Was wird aus Angela? Angie, Angie, where will it lead us from here?

Bei „wirkaempfen.de“ kursiert derweil ein gut gemeinter Ratschlag: „Merkel kann sich ja als Vorsitzende der stärksten Fraktion zur Bundestagspräsidentin wählen lassen.“ Ein wenig Mitleid kommt auf, als die nächste Live-Schaltung ins Konrad-Adenauer-Haus eine Angela Merkel zeigt, die vor den langen Gesichtern ihrer Parteikollegen irgendetwas sagen muss, aber selbst noch nicht begriffen hat, was ihr da eigentlich passiert ist. Angie, Angie, I hate that sadness in your eyes.

Das Parteivolk klatscht und jubelt

Als sich schließlich der „Umfragesiegerbesieger“ das erste Mal der Menge zeigt, löst er eine Welle der Begeisterung aus: Euphorisch ruft das Parteivolk in Sprechchören „Gerhard, Gerhard“. Es klatscht und jubelt. Und müsste doch wissen: Er allein hat ihnen den Karren aus dem Dreck gezogen. Der Kanzler jedenfalls erklärt, er habe beschlossen, Kanzler zu bleiben. Jubel!

„Die Dialektik der Situation“, erklärt ein erfahrener Fahrensmann aus der Parteizentrale, „besteht darin, dass aus einer ein bisschen geschwächten SPD ein gestärkter Gerhard Schröder hervorgekommen ist“. Geschwächt? Gestärkt? Egal. Heute sind hier alle Sieger.

Elefantenrunde im Ersten. Nahaufnahme. Vergessen sind die Bilder einer strahlenden CDU-Vorsitzenden. Angie, Angie, come on baby dry your eyes! Aber „unser“ Kanzler, Gewinner des Abends, was macht er denn jetzt bloß? – „Hat er Kurt Beck schon mit Brüderle dealen lassen?“ – „Gibt es ’ne Tickermeldung von Kubicki?“ – Verwundertes Gelächter im WBH.

Trotzdem: „Der Kampf hat sich gelohnt“, sagt ein Mitarbeiter von „wirkaempfen.de“. „Mitte Juni sind wir bei 24 Prozent gestartet. Jetzt liegen wir 10 Prozent darüber.“ A friend of Gerd, der immer an den Kanzler geglaubt hat, fühlt sich weiterhin wunderbar: „Die Menschen wollen Gerhard Schröder.“

Schröder-Fans wohin man schaut

Nach dem Fernsehauftritt kehrt Gerd zurück zur Wahlparty – seiner Party. Da teilt man sich schon mal einen Stuhl, um im Gedränge über die Köpfe der anderen einen Blick auf ihn zu erhaschen. Diesmal ist seine Ansprache persönlicher: „Der Wahlkampf hat sich gelohnt! Wir haben gezeigt, dass wir besser sind als jede Meinungsumfrage.“ Einen Abend lang sind sie im WBH alle, alle, alle die treuesten Schröder-Fans – ganz so, als wären sie das schon immer gewesen und würden es immer sein.

Vorwärts in die Gambia-Koalition

Im Wahlkreis beginnen zeitgleich die Spekulationen. Die Ampel steht ganz hoch im Kurs. Das Fernsehen erklärt, welche Nationalfarben die Flagge von Jamaika hat. „Das machen die Grünen nicht“, sagt einer. Ein wenig Angst schwingt mit. „Wir müssen zeigen, dass wir regieren können“, doziert ein anderer. „Nur nicht Opposition. Schon gar nicht, wenn wir von links zerrieben werden.“ Und neue Überlegungen kommen auf: Wenn die CDU und die CSU getrennte Parteien sind, wie sie immer sagen, dann muss ganz neu über Horst Seehofer und die Bürgerversicherung nachgedacht werden: „Das Soziale darf nicht verloren gehen.“ Gambia ist in! Gambias Nationalflagge besteht aus Rot, Grün und Blau-Weiß. Am darauf folgenden Morgen wird Peter Gauweiler erklären, mit Schröder im Kanzleramt gehe es doch auch.

Und was werden wir singen? Angie, Angie, where will it lead us from here? Oder werden wir in den Chor der Rastafaris einstimmen, deren heilige Farben bekanntlich Rot, Gelb und Grün sind: „No Woman, No Cry“?

WAHLKREIS – Politische Kneipe – in der Weinbotschaft, Reinhardtstr. 37, Berlin Mitte

ANGIE – Deutsche Übersetzung & Anti-Angie-Buttons auf wirkaempfen.de/Ideenbox

WILLY-BRANDT-HAUS – Stresemannstr. 28, Berlin Kreuzberg

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