Ankunft im Vielparteienstaat
Der Grund für die starke bundespolitische Überlagerung der Landtagswahlen in der Bundesrepublik ist ein doppelter. Auf der einen Seite ahmen die Bundesländer das parlamentarische System des Grundgesetzes sämtlich bis ins Detail nach, so dass sich auf der Landesebene dieselben Bedingungen und Zwänge der Mehrheitsbildung ergeben wie im Bund. Würden sich die Länder bei der Gestaltung ihrer Regierungssysteme an den heutigen Kommunalverfassungen orientieren, was besonders für die Stadtstaaten nahe läge, dann wäre das Ausmaß der bundespolitischen Einflussnahme automatisch geringer. Warum das, was in Köln und Frankfurt offenbar funktioniert – nämlich das Zusammenwirken eines direkt gewählten Bürgermeisters mit unterschiedlichen, wechselnden und vielleicht sogar gegenläufigen parteipolitischen Mehrheiten im Stadtrat – nicht auch in Hamburg oder Bremen möglich sein sollte, haben bisher weder die Staatsrechtslehre noch die Politologie überzeugend beantwortet.
Der andere Grund liegt in der Aufgabenverteilung im deutschen Föderalismus. Auch nach dessen Reform bleibt das Gros der für die materielle Lebenswirklichkeit der Bürger relevanten Gesetzgebungsbefugnisse beim Bund. Dieser übt die Befugnisse freilich nicht autonom, sondern im Verbund mit den Ländern aus, die für die verwaltungsmäßige Durchführung der Bundesgesetze zuständig sind und über den Bundesrat auch an deren Zustandekommen beteiligt werden. Die Konsequenzen der dadurch bewirkten engen Verflechtung zeigen sich sowohl im Parteiensystem als auch im Wählerverhalten. Sie führen zu einer Zentralisierung des politischen Wettbewerbs, die die Landespolitik in den Sog der Bundespolitik geraten lässt und die Entscheidungsfreiheit der Landesparteien bei der Koalitionsbildung einengt. Die Entscheidungsfreiheit bleibt aber dennoch erhalten. Welche Regierungsbündnisse in den Ländern gangbar oder nicht gangbar sind, hängt insofern nicht nur von der machtpolitischen Konstellation im Bund, sondern auch von derjenigen des Landes ab. Selbst dort, wo die Bündnisse nicht mit dem Segen von oben geschlossen werden, kann die Länderpolitik dann als Versuchslabor dienen, um neue Koalitionsmodelle serienreif (oder „salonfähig“) zu machen.
Zwei Lager, glasklare Alternativen
In der Vergangenheit musste das Labor nicht allzu oft benutzt werden, da die Wettbewerbskonstellation im Parteiensystem überschaubar war. Bis Mitte der achtziger Jahre war es die FDP, die im Zweieinhalb-Parteien-System als Scharnier zwischen den beiden Volksparteien fungierte und dadurch die Möglichkeit des Machtwechsels gewährleistete. Mit dem Hinzutreten der Grünen wurde das System zwar vorderhand pluraler; seine Wettbewerbslogik näherte sich damit aber noch weiter dem dualistischen Westminster-Modell an. Die ihrer Scharnierfunktion beraubten Liberalen kaprizierten sich nun einseitig auf die Union, während die Grünen im Gegenzug koalitionspolitisch fest an die SPD gebunden waren. Es entstanden also zwei festgefügte Lager, die sich als klar unterscheidbare Alternativen gegenübertraten. Auf diese Weise konnte im Jahr 1998 zum ersten Mal ein kompletter Regierungswechsel ausschließlich von Wählerhand herbeigeführt werden.
Die Linkspartei hat sich etabliert
Mit der deutschen Einheit wurde das Parteiensystem um eine weitere Kraft – die ostdeutsche PDS – bereichert, die auf der Bundesebene zunächst aber noch zu schwach war, um das Zustandekommen einer kleinen Koalition nach dem vertrauten Muster zu vereiteln. Zur eigentlichen Zäsur kam es erst im Jahre 2005, als es der PDS gelang, mit der aus Protest gegen die Schröderschen Sozialreformen entstandenen SPD-Abspaltung WASG eine gesamtdeutsche Linkspartei zu formieren. Wie man am Wahlabend des 18. September sehen konnte, traf diese Entwicklung die politische Klasse völlig unvorbereitet. Ihre Konsequenz war die Bildung einer Großen Koalition, in die sich Union und SPD im Unterschied zum Jahr 1966 jedoch nur widerwillig fügten, nachdem sie das gegnerschaftliche Modell jahrzehntelang internalisiert hatten. Dies sollte sich für die Zusammenarbeit der beiden Großen als schwer überwindbares Hindernis erweisen. Die auch von manchen Politologen formulierte Erwartung, dass mit der Großen Koalition die neue Ära eines stärker konsensorientierten Parlamentarismus anbrechen würde, ist Wunschdenken geblieben.
Statt sich auf die neue Situation einzustellen und nach alternativen Dreierbündnissen zu suchen, trösteten sich Union und SPD zunächst in der Hoffnung, dass die Etablierung der Linkspartei nicht ausgemacht und schwarz-gelbe oder rot-grüne Zweierbündnisse weiterhin möglich seien. Das schwache Abschneiden der Linkspartei bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im Frühjahr 2006 schien dem Recht zu geben. Beginnend mit der Bürgerschaftswahl in Bremen im Mai 2007 ist es der Linkspartei dann aber doch gelungen, die Zäsur der Bundestagswahl zu bestätigen und sich als fünfte Kraft im neuen deutschen Parteiensystem zurückzumelden. Besonders ihre Erfolge in zwei westdeutschen Flächenländern (Hessen und Niedersachsen) lassen die Chancen auf eine Rückkehr zu der Zeit vor 2005 gegen Null tendieren. Zwar haben die Wahlen in Bremen und Niedersachsen gezeigt, dass auch bei einem Einzug der Linkspartei in die Parlamente die von den übrigen Parteien präferierten rot-grünen oder schwarz-gelben Zweierkoalitionen immer noch zustande kommen können. Die dortige Konstellation dürfte der Situation auf der Bundesebene allerdings weniger entsprechen als die Ergebnisse in Hessen und Hamburg, wo es in beiden Fällen für die Wunschkoalition nicht reichte. Dies gilt umso mehr, als die Linkspartei, deren größte Wählerbastionen bekanntlich im Osten liegen, im Bund auf ein besseres Ergebnis hoffen kann als im Durchschnitt der Westländer.
Die Große Koalition im Sinkflug
Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Institutionell betrachtet liegt ein Grund für den Aufschwung der Linken sicher im Oppositionseffekt, der von einer Großen Koalition automatisch ausgeht. Nach anfänglich gutem Beginn, als die Zeichen noch auf vertrauensvolle Zusammenarbeit standen, begannen deren Zustimmungswerte in der Bevölkerung spätestens seit dem misslungenen Gesundheitskompromiss im Frühjahr 2007 rasch zu sinken. Der Ansehensverlust hatte dabei nicht nur mit den (zum Teil ja durchaus vorzeigbaren) Leistungen der Regierungspolitik zu tun. Er lag auch am Auftreten der Koalitionspartner, die sich munter beharkten, statt vorhandene Erfolge nach außen gemeinsam darzustellen.
Wie der „Linksruck“ der SPD scheiterte
Auch die Tatsache, dass die Bundesrepublik – gemessen an den makroökonomischen Indikatoren – im Jahr 2007 so gut da stand wie seit sieben Jahren nicht mehr und die Arbeitslosigkeit spürbar zurückgegangen war, konnte den Aufstieg der Linkspartei nicht bremsen. Die von Lafontaine und Gysi angeführten Postkommunisten profitierten im Gegenteil von dem Eindruck, dass die wirtschaftliche Ungleichheit sich durch den Konjunkturaufschwung weiter vergrößert hatte, dieser mithin bei der großen Masse der Bevölkerung nicht ankam. Die SPD versuchte dem entgegenzutreten, indem sie das Gerechtigkeitsthema programmatisch und im Regierungshandeln stärker akzentuierte. Symbolhaft markiert wurde dies durch die gegen den Willen von Arbeitsminister Franz Müntefering durchgesetzte verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, die eine vorsichtige Abkehr von der Agenda 2010 signalisierte, und die Kampagne zur Einführung gesetzlicher Mindestlöhne. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob die Linkspartei ohne diese Korrekturen ein noch größeres Wählerpotenzial hätte erreichen können, als sie es bei den zurückliegenden Landtagswahlen tatsächlich getan hat. Sollte sich die SPD von ihrem „Linksruck“ eine spürbare Eindämmung der neuen Konkurrenz erhofft haben, ist sie jedenfalls gründlich gescheitert.
Der Durchbruch der Linkspartei in den Altbundesländern verschärft folglich das Dilemma, in das die SPD seit dem Jahr 2005 hineingeraten ist. Einerseits muss sie den Wettbewerb nun nach zwei Seiten hin führen – in Richtung Mitte, wo das Gros der wechselbereiten Wähler anzutreffen ist, und in Richtung der Linkspartei. Dies dürfte gerade im Westen eine schwierige Gratwanderung bedeuten, weil der neue Rivale hier Fleisch vom eigenen Fleische ist, der sich derselben Symbole bedient und auf dieselben Grundwerte beruft wie die Sozialdemokratie. Andererseits gerät die SPD auch machtpolitisch ins Hintertreffen. Nicht nur, dass sie im Fünf-Parteien-System auf der Bundesebene und in den meisten Westländern dauerhaft schwächer zu bleiben droht als die Union, die dann als stärkste Kraft den Anspruch auf die Regierungsbildung erheben und – im Falle einer Großen Koalition – das Amt des Regierungschefs für sich reklamieren kann.
Auch bei den Koalitionsoptionen scheinen die Sozialdemokraten ihren strategischen Vorteil mittlerweile eingebüßt zu haben. Während die Union sich anschickt, ihre Bündnispalette in Richtung der bisher ausschließlich auf die SPD abonnierten Grünen zu erweitern, bleiben die sozialdemokratischen Avancen in Richtung FDP zur Bildung einer Ampelkoalition – nicht nur in Hessen – einstweilen unerwidert. Zugleich hat die SPD eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei für den Bund und die alten Länder bislang immer ausgeschlossen. Will sie sich also nicht auf längere Sicht mit der Rolle des Juniorpartners in einer Großen Koalition abfinden, muss sie entweder weiter geduldig auf die Liberalen hoffen oder aber ihre Abwehrhaltung gegenüber der Linkspartei überdenken.
Steilvorlage für die CDU
Dass letzteres nun in Hessen eintreten könnte, hat die Partei in eine Krise gestürzt. Diese ist durch den mit nur einer Gegenstimme getroffenen Vorstandsbeschluss, wonach den Landesverbänden „freie Hand“ bei der Koalitionsbildung gegeben werden soll, längst nicht abgewendet. Der Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Landes- und Bundespartei. Würden Kurt Beck und der Bundesvorstand eine fest entschlossene und von ihrem Landesverband mehrheitlich unterstützte Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti tatsächlich davon abhalten können, den Tabubruch zu begehen und sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen?
In derselben Angelegenheit hat sich die Parteispitze schon einmal die Zähne an einem widerborstigen Genossen ausgebissen: Reinhard Höppner setzte die Fortführung des „Magdeburger Modells“ einer von der PDS geduldeten Minderheitsregierung im Jahr 1998 gegen den Widerstand der Bundespartei durch, die mit Blick auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf eine Große Koalition vorgezogen hätte. Schon damals wurde also ein wesentliches Element der Strategieplanung der Bundespartei von einem eigensinnigen Landespolitiker durchkreuzt. Dasselbe Spiel könnte sich jetzt wiederholen. Dass sich Kurt Beck und die Parteiführung dabei von der Zufälligkeit einer Geheimwahl abhängig machen, grenzt fast schon ans Absurde. Verliert Ypsilanti die Abstimmung, wäre Beck massiv beschädigt. Kommt es dagegen in Hessen tatsächlich zu einer Tolerierung, würde nicht nur ein Präjudiz für andere westliche Bundesländer geschaffen, sondern auch für die Bundespolitik. Gewiss gibt es gute Gründe dafür, eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund anders zu betrachten als in den Ländern (und hier wiederum im Westen anders als im Osten). In der Wahlkampfkommunikation dürfte das allerdings kaum zu vermitteln sein, handelt es sich doch in allen Fällen um dieselbe Partei. Union und FDP werden sich eine solche Steilvorlage gewiss nicht entgehen lassen. Der Bundesrepublik droht damit 2009 ein für die parlamentarische Kultur des Landes unseliger Lagerwahlkampf.
Glaubwürdigkeit als Ressource
Das Hamburger Beispiel zeigt, dass es durchaus anders gehen kann. In Hessen wurde der Wortbruch der SPD ja erst dadurch provoziert, dass keine der von ihr als bündnisfähig angesehenen Parteien bereit war, koalitionspolitisch über den eigenen Schatten zu springen. Genau das ist aber unter den Bedingungen eines „fluiden“ Fünf-Parteien-Systems nicht mehr möglich. Ob ein Wortbruch prinzipiell ungehörig ist, oder ob er zum üblichen politischen Finassieren gehört, ja vielleicht sogar einen Ausweis besonderer Staatskunst darstellt, wie der Politologe Franz Walter im Spiegel geschrieben hat, ist ein Thema für Feuilletonisten, das die Politiker nur am Rande interessieren dürfte. Sie müssen vor allem die Kosten und Nutzen ihres Tuns unter Wettbewerbsaspekten kalkulieren, und hier bleibt Glaubwürdigkeit zweifellos eine wichtige Ressource. Diese mag einen zur Einhaltung eines gegebenen Wortes verpflichten. Sie verlangt aber auch, dass man sich gar nicht erst in eine Situation begibt, aus der man nur unter Wortbruch wieder herauskommt.
Das Dilemma mit der Flexibilität
Gerade für die kleinen Parteien ergibt sich aus dem Erfordernis größerer Flexibilität freilich ein grundlegendes Dilemma. Einerseits erwarten die Wähler von ihnen Klarheit, welche der beiden großen Parteien sie als Regierungspartner vorziehen. Dies erscheint auch unter Demokratiegesichtspunkten geboten. Auf der anderen Seite verbieten sich den Parteien eindeutige Festlegungen aus strategischer Sicht. Nicht nur, dass sie damit potenzielle Wähler verprellen. Sie geben auch mögliche Handlungsoptionen aus der Hand, die für die Regierungsbildung hilfreich wären. Ein denkbarer Ausweg aus dem Dilemma, der beiden Anforderungen genügt, könnten abgestufte Koalitionsaussagen sein. Diese würden bei Nicht-Zustandekommen der Wunschkonstellation andere Bündnisse ausdrücklich nicht ausschließen. Dass damit noch keine Garantie für eine reibungslose Regierungsbildung verbunden ist, zeigt sich aber am Beispiel der aktuellen Diskussion über mögliche neue Dreierbündnisse. Legt man den Ausgang der letzten Bundestagswahl zugrunde, dem der Tendenz nach auch das hessische Landtagswahlergebnis entspricht, wäre die Bildung einer schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition und einer rot-gelb-grünen Ampelkoalition gleichermaßen denkbar. Dass die FDP mit der zweiten Variante bislang noch ebenso wenig anzufangen weiß wie die Grünen mit der ersten, verwundert mit Blick auf den Standort der beiden Parteien im politischen Spektrum nicht. Die Befürchtung, in einem Bündnis mit zwei Vertretern des anderen „Blocks“ von diesen untergebuttert zu werden, wiegt für sie offenbar schwerer als die Aussicht, sich in einem solchen Bündnis als politikinhaltliches Korrektiv profilieren zu können. Solange FDP und Grüne in ihrer Lagermentalität verharren, dürften sich die beiden Optionen folglich gegenseitig blockieren.
Will man die Rückwende zu einem bipolaren System des Parteienwettbewerbs vermeiden, in dem sich das so genannte bürgerliche Lager aus Union und FDP und die drei linken Parteien antagonistisch gegenüberstehen, und gleichzeitig die demokratiepolitisch unerwünschte Perpetuierung der Großen Koalition als Regierungsformat umgehen, führt an der Bildung von lagerübergreifenden Dreierkoalitionen indessen kein Weg vorbei. Bleibt die Frage, was sich tun lässt, um deren Zustandekommen künftig zu ermöglichen beziehungsweise zu erleichtern?
Dem an Verfassungsfragen interessierten Politologen kommen hier als erstes institutionelle Vorkehrungen in den Sinn. Der Automatismus der Mehrheitsbildung hat in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass es bislang solcher Vorkehrungen im Normalfall nicht bedurfte. Weder gab es die Institution eines Regierungsformateurs, noch musste man auf das ungeschriebene Gesetz zurückgreifen, wonach der Regierungsauftrag im parlamentarischen System stets der stärksten Partei beziehungsweise Fraktion gebührt. In einem System multipler Koalitionen wird man nicht umhinkommen, entsprechende Regeln zu etablieren und einzuhalten. Dabei kann man entweder auf die Erfahrungen anderer Länder bauen, die mit Mehrparteienkoalitionen vertraut sind (Benelux, Skandinavien). Oder man verständigt sich auf Regeln, die den Besonderheiten des deutschen Parteiensystems Rechnung tragen. Stehen Schwarz-Gelb und Rot-Grün als gewünschte Koalitionen gegeneinander, könnte man den Regierungsauftrag zum Beispiel der stärkeren Formation zusprechen (statt der stärksten Partei). In Hamburg würde das bedeuten, dass SPD und Grüne durchaus das Recht hätten, eine Regierung gegen die CDU zu bilden (wofür als Partner dann aber nur die Linkspartei in Frage käme). In Hessen läge es dagegen an den Grünen, sich als „Mehrheitsbeschaffer“ für Union und FDP in die Pflicht nehmen zu lassen.
Eine weitere institutionelle Neuerung könnte darin bestehen, dass man zur Bildung von Minderheitskabinetten bereit ist und diese nicht mehr länger als „Sündenfall“ des parlamentarischen Systems brandmarkt. Indem sie die starren Fronten zwischen Regierung und Opposition auflockern, würden Tolerierungsmodelle auf ein stärker konsensorientiertes System des Parlamentarismus hinauslaufen, das mit dem heutigen „Mehrheitsdogmatismus“ bricht. Dies scheint gerade auf der Länderebene sinnvoll, weil hier die verwaltungslastigen Aufgaben einen kooperativen Politikstil eher gestatten als die ideologisch polarisierte Bundespolitik.
Da die Bundespolitik auf die Länderpolitik – wie gesehen – stark ausstrahlt und einen im Grunde ungebührlichen Einfluss ausübt, müsste das Lagerdenken aber auch hier entscheidend zurückgedrängt werden, um die neuen Koalitionsmodelle und Regierungsformate über die Länder anzubahnen. Dies verlangt von den Parteien einen pfleglicheren Umgang miteinander, also die Bereitschaft, den Wettbewerber weniger als Gegner denn als potenziellen Partner zu betrachten. Gleichzeitig setzt es programmatische und politikinhaltliche Korrekturen voraus. Die Grünen müssten zu einem pragmatischeren Zugang in der Energie- und Klimapolitik finden, die FDP von der reinen neoliberalen Lehre in der Wirtschaftspolitik Abstand nehmen, und die Linkspartei dürfte sich der Wirklichkeit des globalisierten Kapitalismus nicht mehr auf weite Strecken verweigern. Der Zwang zum Kompromiss in einer Koalitionsregierung könnte sich dabei selbst als der wichtigste „Lehrmeister“ erweisen.
Was herauskommt, weiß man nicht
Alle institutionelle und programmatische Flexibilität wird aber nichts daran ändern, dass wir uns in der Bundesrepublik an schwierigere Regierungsbildungen gewöhnen müssen. Aus Sicht des Wählers bleibt die Hinwendung vom mehrheits- zum konsensdemokratischen System ohnehin ambivalent. In einem System multipler Koalitionen, in dem das Zusammengehen der beiden Großen nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, geht dessen Einfluss zwangsläufig zurück. Politiker gefallen sich ja vorzugsweise an Wahlabenden gerne darin, das Volk als „Souverän“ zu titulieren. Bezogen auf die Regierungsbildung sind in einem Vielparteiensystem aber nicht die Wähler der eigentliche Souverän, sondern die Parteien beziehungsweise Parteiführungen, die über die Koalitionen entscheiden. Werden die gewünschten oder nicht auszuschließenden Allianzen vor der Wahl nicht klar offengelegt, gerät die Abgabe der Stimme damit künftig zum Lotteriespiel: Man weiß nicht, was am Ende herauskommt.
Primaries wie in Amerika
Dies wirft die Frage nach etwaigen Gegengewichten auf. Nehmen die Oligarchisierungstendenzen in der Parteiendemokratie zu, müssen die dadurch entstehenden Legitimationsdefizite an anderer Stelle ausgeglichen werden. Dazu könnte zum einen die Einführung beziehungsweise der Ausbau von plebiszitären Beteiligungsformen auf der staatlichen Ebene dienen, die in der Bundesrepublik bislang ein Schattendasein fristen, zum anderen die Stärkung der Mitgliederrechte in den Parteien selbst und die Abkehr vom heutigen reinen Delegiertensystem. Das heißt: Urwahlen und Mitgliederentscheide sollten nicht mehr nur sporadisch und nach Gutdünken der Parteiführungen eingesetzt werden, sondern die Regel sein – so wie gerade in Thüringen, wo die SPD-Basis mit der Wahl Christoph Matschies zum Spitzenkandidaten zugleich eine Strategieentscheidung über den Umgang mit der Linkspartei getroffen hat. Ein offeneres System der Kandidatenaufstellung, das sich am Vorbild der amerikanischen Vorwahlen orientiert, könnte dazu beitragen, die Wähler wieder näher an die Politik heranzuführen. Wer das als unrealistisch oder Zukunftsmusik abtut, übersieht, wie sehr sich der Charakter der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik schon jetzt verändert hat. Darauf die passenden Antworten zu finden, wird den politischen Akteuren noch manche Schweißperle auf die Stirn treiben.