Auf dem Weg zur mehrheitsfähigen Sozialdemokratie
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 ist ambivalent: Einerseits ist es das zweite Wahlergebnis in Folge, bei dem die SPD deutlich unter 30 Prozent und damit deutlich unter ihrem eigenen Selbstanspruch liegt. Andererseits hat es uns wieder in Regierungsverantwortung gebracht und damit neue Gestaltungsspielräume eröffnet. Diese Ambivalenz darf uns aber nicht täuschen: Wir dürfen uns mit solchen Ergebnissen nicht zufrieden geben. Die strategische Aufgabe der kommenden Monate und Jahre – programmatisch, organisatorisch und bündnispolitisch – lautet: Die SPD muss wieder mehrheitsfähig werden. Unsere Themenführerschaft in vielen politischen Gebieten muss sich auch in Wahlergebnissen niederschlagen, die uns nicht nur das Mitregieren, sondern die Führung der Regierung ermöglichen. Dafür müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern das berechtigte Gefühl geben, dass der Staat und das Land bei uns in guten Händen sind. Hierzu einige ordnende Gedanken.
Die SPD hat trotz eines sehr engagierten Wahlkampfes kein gutes Ergebnis erzielt. Etwas mehr als 25 Prozent sind zwar eine Verbesserung gegenüber dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl, bei der die SPD mit 23 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1949 einfuhr. Aber ein solches 20-Prozent-Ergebnis erzielte die SPD sonst nur bei den ersten beiden Bundestagswahlen 1949 und 1953. An diesem Befund führt deshalb kein Weg vorbei: Die SPD ist wieder im 20-Prozent-Käfig der fünfziger Jahre angelangt.
Volkspartei zu sein beginnt im Kopf
Um sich aus dieser Lage zu befreien, wandelte sich die SPD damals zur Volkspartei, beschloss das Godesberger Programm, öffnete sich für Bundeswehr und Nato und trat ab 1961 mit dem modernen Reformpolitiker und Berliner Bürgermeister Willy Brandt an. Nach zwei vergeblichen Anläufen 1961 und 1965, bei denen die SPD 36 und 39 Prozent erzielte, dem Bruch der CDU-CSU-FDP-Koalition sowie dem Eintritt in die Große Koalition1966, gelang ihr dann 1969 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wahlergebnis oberhalb der 40 Prozent. Zum ersten Mal stellte die SPD den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Bei allen Wahlen während der Zeit der sozialliberalen Koalition konnte die SPD Wahlergebnisse oberhalb der 40-Prozent-Marke verteidigen. Im Jahr 1972 wurde sie sogar erstmals stärkste Partei und erzielte mit 45,8 Prozent der Stimmen ihr bis heute bestes Ergebnis. In den gesamten achtziger und den beginnenden neunziger Jahren gelang ihr das nicht mehr. Nur 1998 erzielte die SPD noch einmal ein Ergebnis oberhalb von 40 Prozent und wurde erneut stärkste Partei. Letzteres gelang auch im Jahr 2002 mit 38,5 Prozent.
Die SPD muss Volkspartei bleiben. Eine demokratische Mitgliederpartei war die SPD ja seit ihrer Gründung. Aber der Schritt zur Volkspartei bestand nicht – wie heute oft behauptet wird – aus reinen Wahlerfolgen und hohen Mitgliederzahlen. Vielmehr basierte er auf der strategischen Entscheidung, sich der Integrationsaufgabe zu stellen, mehrheitsfähige Positionen zu entwickeln, um die Regierung des Landes bilden zu können. Damit war das Bekenntnis zur Volkspartei die Grundlage des späteren Wahlerfolgs – nicht umgekehrt. Eine Volkspartei ist nicht bloß eine große Partei mit vielen Mitgliedern, sondern eine Volkspartei strebt nach mehrheitsfähigen Positionen und nach der Führung der Regierung.
Entscheidend ist der Wille zur Integration
Eine solche Mehrheitsstrategie ist in Deutschland mit seinem Verhältniswahlrecht natürlich ungleich schwieriger als in Ländern mit Mehrheitswahlrecht (dem hier nicht das Wort geredet werden soll). Ein Anhänger der Demokraten in New York, nehmen wir einen linksliberalen Staatsanwalt, muss sich, wenn er einen demokratischen Abgeordneten unterstützen will, beispielsweise darüber Gedanken machen, wie er eine gemeinsame Haltung mit einem Arbeiter bei der Müllabfuhr oder einer Verkäuferin im Supermarkt einnehmen kann. In Deutschland kann man diese Entscheidungen delegieren, eine linksliberale Partei wählen und deren Führung den Auftrag erteilen, das Aushandeln mehrheitsfähiger Positionen in Koalitionsverhandlungen zu erledigen. Dass dies auch misslingen kann, hat man beim gescheiterten schwarz-grünen-Koalitionsversuch in Hamburg gesehen.
Jedenfalls ist es die Aufgabe der beiden Volksparteien SPD und CDU/CSU, diese Integrationsleistung in ihrer Mitgliedschaft und unter ihren Wählern zu vollbringen. Das unterscheidet diese beiden Parteien von den anderen. Und das ist auch der Grund, warum nur diese beiden Formationen das Amt des Kanzlers oder der Kanzlerin anstreben. Deutlich wird aber auch: Man kann mit 22 Prozent eine Nischenpartei sein und mit 23 Prozent eine Volkspartei. Die SPD startete als Volkspartei zu einer Zeit, in der sie kaum bessere Wahlergebnisse erzielte als heute.
Das eigene Milieu ist nicht genug
Wir sind in den fünfziger Jahren und Anfang der sechziger Jahre bewusst Volkspartei geworden. Wir wollten uns nicht auf ein Milieu konzentrieren, sondern erreichen, dass die Sozialdemokratie mehrheitsfähige Positionen zu formulieren vermag, mit denen sie das Land regieren kann. Diese Entscheidung müssen wir immer wieder aufs Neue treffen. Sie ist die Voraussetzung für unsere Mehrheitsfähigkeit. Und wir müssen uns dazu bekennen, dass wir den Staat regieren wollen.
Im Übrigen sollten wir uns darüber im Klaren sein, was die Wahlanalysen bedeuten. Sie bedeuten, dass man uns gut findet, uns aber derzeit nicht die Regierung anvertrauen will; dass man sich in den Fragen der Außenpolitik, der Sicherheitspolitik, der Wirtschaftspolitik, der Finanzpolitik, bei der Frage „Klappt das auf dem Arbeitsmarkt?“ nicht sicher ist, ob wir die Richtigen sind, um das Land zu regieren. Man hätte uns gern dabei – daher die Zustimmung, die wir in den gegenwärtigen Diskussionen erhalten, aber man will derzeit nicht, dass wir diejenigen sind, auf die es in einer Regierung ankommt.
Umfragen zufolge teilt die Mehrheit der Bürger unsere inhaltlichen Positionen: Vom Mindestlohn über die Fragen zur Rente bis hin zur Arbeitsmarktpolitik finden unsere Vorschläge überwiegend Zustimmung. Warum haben viele Wählerinnen und Wähler uns dennoch nicht ihre Stimme gegeben? Ich glaube, dass es sehr davon abhängt, ob man uns die Führung des Staates zutraut.
Wenn sie regieren will, muss die SPD immer beweisen, dass man ihr alleine dieses Land und diese Regierung anvertrauen kann. Dass man bei ihr in guten Händen ist, wenn sie darüber entscheidet, welche Politik in Deutschland für Europa und die Welt gemacht wird, welche Finanz- und Haushaltspolitik betrieben wird und wie sich die Wirtschafts- und die Arbeitsmarktpolitik entwickeln, damit es Beschäftigung und Wachstum gibt. Nur wenn uns das gelingt, bekommen wir auch die entsprechenden Mehrheiten zusammen. Unser Ziel muss es sein, dass in vier Jahren niemand mehr einen Zweifel daran hat, dass wir die richtige Adresse für die Führung des Landes sind.
Die SPD ist eine vernünftige Partei. Weil sie als eine der beiden Volksparteien um die Führung der Regierung in Deutschland ringt, muss sich die von ihr vertretene politische Programmatik immer daran messen lassen, dass sie dazu auch taugt. Auch die kleineren Parteien, deren Perspektive die des Koalitionspartners der zentralen Regierungspartei ist, können nicht alles fordern, was öffentlicher Kritik nicht Stand hält. Das hat dieser Bundestagswahlkampf erneut gezeigt. Für diejenigen Parteien, die das Kanzleramt anstreben und die Führung der Regierung übernehmen wollen, gilt dies allerdings in ungleich gesteigertem Maße.
Nochmals: Erfolg hat die SPD, wenn man ihr die Regierung zutraut. Deshalb hat die SPD das Kanzleramt 1969 aus der Großen Koalition heraus erobert. Im Jahr 1998 war das Erneuerungsversprechen („Innovation und Gerechtigkeit“) mit der Zusage verbunden, vieles besser, aber nicht alles anders zu machen. Diese Haltung hat aber auch nach dieser Bundestagswahl eine Konsequenz: Sie verpflichtet uns – wie nach jeder Wahl – dazu, Optionen der Regierungsbildung daraufhin zu prüfen, ob diese sozialdemokratische Programmatik ermöglichen. Das ist in den zurückliegenden Wochen in Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen geschehen, weshalb alles für ein Ja beim Mitgliedervotum sprach.
Was Kompromisse bedeuten
Koalitionsverhandlungen – und besonders Koalitionen zwischen SPD und den Unionsparteien – stellen die SPD als ihrerseits um die Führung der Regierung ringende Volkspartei vor eine große Herausforderung: Wir dürfen im Grundsatz niemals anders regieren, als wir es zuvor im Wahlprogramm und im Wahlkampf angekündigt. Dass wir diesen Grundsatz 1998, 2002 und 2005 nicht streng genug beachtet haben, ist eine der unterschätzten Ursachen für die heutige Lage der SPD. Diesem Grundsatz zu folgen, hat Konsequenzen für die Wahlprogramme: Man darf nicht versprechen, was man nicht halten kann. Aber es hat auch Konsequenzen für Koalitionsverträge und Koalitionen: Selbst wenn Kompromisse unvermeidbar sind, müssen sich die eigenen Wähler im Verhandlungsergebnis wiederfinden und die Kompromisse nachvollziehen können. Noch einmal darf sich die Situation aus dem Jahr 2005 nicht wiederholen, als die CDU/CSU vor der Wahl eine Anhebung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte ankündigte, die SPD eine Erhöhung strikt ablehnte – und am Ende eine Erhöhung um drei Punkte herauskam.
Die Grünen, die nach dem Wahlergebnis ebenfalls Koalitionspartner der Wahlsiegerin sein könnten, stünden im Hinblick auf eine Koalition mit der Union vor anderen, aber nicht geringen Problemen. Sie mögen Nachbarn in denselben Vierteln sein, dennoch gehören die Wählerschaften von Union und Grünen zu unterschiedlichen Milieus und verlangen unterschiedliche Programmatiken und Politikstile. Das hat in diesem Herbst zur Absage der Grünen an die Union geführt. Dies muss allerdings nicht so bleiben, schließlich stehen die Grünen mit der Union (oder der SPD) nicht im Wettbewerb um die Führung des Landes und die Kanzlerschaft. Eine Koalition mit SPD oder Union ist daher aus grüner Perspektive schon dann erfolgreich, wenn viel von der eigenen Programmatik durchgesetzt wird und die Grünen bei der nächsten Wahl mit einem besseren Ergebnis wiedergewählt werden. Das kann durchaus zu einer attraktiven Perspektive für die Grünen werden.
Mehrheitsfähigkeit ist eine Haltung
Die Union hat die Wahl haushoch gewonnen, aber sie hat keine Mehrheit im Parlament. Dass viele Stimmen auf konservative Parteien wie die FDP und die AfD gefallen sind, die nicht im Parlament vertreten sind, ändert daran nichts, auch wenn es nicht unbedacht bleiben darf. Deshalb musste die SPD auch nicht ohne weiteres einspringen, nachdem die FDP als Koalitionspartner der Union ausgefallen war und die Grünen keine Verhandlungen aufnehmen wollten. Gerade weil im Parlament eine Mehrheit für wesentliche Teile der Programme von SPD oder Grünen existiert, musste die SPD in den Koalitionsverhandlungen weitreichende Zugeständnisse durchsetzen, beispielsweise beim Mindestlohn oder bei der doppelten Staatsangehörigkeit.
Die SPD muss den faktischen Stellenwert einer Großen Koalition im Blick haben. Die politischen Rechtfertigungen bisheriger Großer Koalitionen bezogen sich auf die Erneuerung eines erschütterten gesellschaftlichen Grundkonsenses: Ein zeitlich befristetes Zusammengehen der großen Kräfte des Landes sei notwendig, um grundlegende Fragen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung einvernehmlich zu klären und einen produktiven Wettbewerb in allen anderen Fragen wieder zu ermöglichen. Diesen Auftrag haben die beiden früheren Großen Koalitionen in Teilen erfüllt, so dass wir in vielen Bereichen heute keine grundlegenden Schismen zwischen den beiden großen Lagern haben. Das macht das Zusammengehen der beiden vernünftigen Volksparteien zwar einerseits einfacher, erschwert es aber andererseits, die Notwendigkeit des großkoalitionären Ausnahmefalls zu begründen.
Die Große Koalition gewinnt Relevanz nicht nur durch ihr Handeln, sondern auch durch die Regierung, die später auf sie folgt. Wenn die SPD jetzt in eine Große Koalition eintritt, muss sie im Hinblick auf ihr ungebrochenes Selbstverständnis als Volkspartei frühzeitig darüber nachdenken, wie sie nach den nächsten Wahlen 2017 die Bundesregierung führen kann. Denn das ist unser Ziel. Wir Sozialdemokraten wollen nicht nur mitregieren, wir wollen die Regierung führen. Wir wollen „Staat machen“, wie es früher hieß. Wir müssen wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger der Meinung sind, dass das Land bei uns in guten Händen ist. Das österreichische Szenario der Großen Dauerkoalition sollten wir vermeiden und stattdessen daran arbeiten, wieder stärkste Kraft zu werden. Das ist die mittelfristige strategische Aufgabe, der wir uns parallel zur Regierungsarbeit zuwenden müssen.
Das bedeutet: Die SPD muss sich auch heute – trotz der parlamentarischen Existenz der Grünen und der Linkspartei – bundesweit Wahlresultate oberhalb von 30 Prozent zutrauen. Dazu darf sich die SPD programmatisch nicht verengen, sondern muss Angebote formulieren, die auch konzeptionell wirtschaftliche und soziale Vernunft miteinander verbinden. Und sie muss neue Themen setzen, die jenseits der klassischen Schemata der gesellschaftlichen Diskussion liegen. Als eine im Selbstverständnis progressive Volkspartei sollte die SPD eine positive Vorstellung der Zukunft des Landes kommunizieren, die auch in der gesellschaftlichen Mitte anschlussfähig ist. Das ist die Grundlage unserer Mehrheitsfähigkeit.