Auf die Kleinsten kommt es an
In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder. Das behauptete in einer Schlagzeile die Bild am Sonntag und berief sich dabei auf das Zitat eines FDP-Politikers. Die sozial Schwachen hätten zu viele Kinder, und in Akademikerhaushalten gebe es zu wenig Nachwuchs, suggerierte der Bericht. Die zweite These ist sicherlich richtig, die erste hingegen eine unverschämte Anmaßung.
Dass in bildungsfernen Schichten mehr Kinder geboren werden als in bildungsnahen Schichten macht sich nicht zuletzt in der Pisa-Studie bemerkbar. Nicht ohne Grund spricht Renate Schmidt von einer drohenden “Bildungskatastrophe”. Auch der FDP-Mann Daniel Bahr weiß, dass bei uns der Bildungsabschluss eines Kindes stark von der sozialen Stellung der Eltern abhängt. “Wir brauchen mehr Kinder von Frauen mit Hochschulabschluss als von jenen mit Hauptschulabschluss”, lautet seine zynische Schlussfolgerung.
Der Schulerfolg eines Kindes hängt nirgends so stark vom Geldbeutel der Eltern ab wie in Deutschland. Das ist ein Skandal. Dass ein Liberaler dies so hinnimmt, überrascht diejenigen nicht, die die FDP kennen. Wer dagegen die philosophischen Grundlagen des Liberalismus kennt, ist verwundert. Aber Verwunderung hilft nichts. Und der Wille allein, die soziale Mobilität in unserem Lande wiederherzustellen, reicht ebenfalls nicht aus. In vielen Debatten darüber zeigt sich zunehmende Ratlosigkeit.
Die Herstellung von sozialer Mobilität war ein Markenzeichen der Sozialdemokratie (und einer sozialliberal eingestellten Freidemokratie) der siebziger Jahre. Die Bildungsexpansion war ein Erfolgsmodell. In sehr vielen Familien machte seinerzeit erstmals ein Kind das Abitur. Breite Schichten der Arbeiterklasse, denen die Bildungsmöglichkeiten zuvor verwehrt wurden, hatten zum ersten Mal die Chance zum sozialen Aufstieg. Die SPD war die Partei der Schwachen, deren bildungsbeflissene Teile die Möglichkeiten durch die Bildungsreform, wie Franz Walter schreibt, “beherzt und prompt” ergriffen. Die bildungsfernen, oft ungelernten Arbeiter hingegen seien nie das “wirkliche und aktive Klientel” der SPD gewesen. Und die sind zurückgeblieben. Die SPD war eben nie die Partei der Schwachen, sondern die Vertreterin der “starken Teile der Schwachen”, präzisierte Walter in der Berliner Republik.
Massenarbeitslosigkeit und Privatfernsehen
Für den durch die Bildungsreform abgehängten Teil der Bevölkerung hat sich die Situation seit den siebziger Jahren zusätzlich verschärft. Massenarbeitslosigkeit und vererbte Sozialhilfekarrieren gab es damals noch nicht. Und auch kulturell hat sich viel verändert – das Privatfernsehen mit seinen unendlich vielen Kanälen ist der wichtigste Ausdruck dieses Wandels.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nicht die Bildungsreform war der Fehler, sondern die Tatsache, dass sie stecken geblieben ist. Selbst von den sozialen Brennpunkten der Großstädte sind Gymnasien oder Gesamtschulen, in denen man Abitur machen kann, räumlich problemlos erreichbar. Doch die meisten kommen dort trotzdem nicht an.
In den siebziger Jahren haben vor allem die Mütter, deren Bildungschancen besonders eingeschränkt waren, den sozialen Aufstieg ihrer Kinder organisiert. Ihnen war die Rolle der nachmittäglichen Hausaufgabenbetreuerin und punktuellen Nachhilfelehrerin zugewiesen. Und wo das nicht ging, gab es immerhin einige Gesamtschulen, die an drei Tagen in der Woche Nachmittagsunterricht anboten.
Caritas und Paternalismus
Die damalige Bildungsexpansion hat die von der Sozialdemokratie vertretene Arbeiterklasse noch selbst getragen. Dass wir eine neue Phase der Expansion brauchen, liegt auf der Hand. Doch wer ist dabei der Akteur? In den marginalisierten Stadtteilen gibt es immer weniger SPD-Wähler. Selbstorganisation findet dort kaum statt. Damit hat jeder Eingriff von außen immer auch etwas Karitatives und kann leicht ins Paternalistische abrutschen: Schick dein Kind mit einem Frühstück in die Schule! Kümmere dich um seine Hausaufgaben! Und lies ihm ein Buch vor, statt vor dem Fernseher zu hocken!
Wollen wir das? Die britische Labour Party zeigt gelegentlich diese Anflüge moralischer Rigorosität, die mit einer gewissen Illiberalität einhergehen (siehe dazu den Beitrag von Jürgen Krönig in diesem Heft). Dies ist mit den Traditionen der deutschen Sozialdemokratie nicht vereinbar. Trotzdem sollten wir einen klaren Standpunkt beziehen und Werte setzen, gerade dann, wenn es um Kinder geht.
Eine kinderfreundliche Gesellschaft zu schaffen, in der die Kinder wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt werden, ist eine zentrale Aufgabe für die Sozialdemokratie – und nicht nur für sie. Wenn wir die jetzige Situation fortschreiben und einen großen Teil von Kindern in sozial benachteiligten Stadtteilen aufwachsen lassen, wird das die Demokratie gefährden. Bereits heute besteht für Kinder und Jugendliche ganzer Stadteile die Realität in Aussichtslosigkeit, Sozialhilfemilieu, Schulversagen, Werteverfall, Rechtsextremismus und Kriminalität – im Osten wie im Westen. Sie haben dort geringere Bildungschancen und einen schlechteren Gesundheitszustand als in anderen Wohngegenden. Damit geht eine niedrigere Lebenserwartung einher.
Wir brauchen einen neuen Aufbruch, eine zweite Bildungsexpansion. In den siebziger Jahren weitete sich das Bildungssystem nach oben aus, der Bildungsaufbruch setzte in der zweiten Hälfte der Schullaufbahn an. Gesamtschulen wurden geschaffen und Gymnasien geöffnet. Heute brauchen wir eine wirklich grundlegende Bildungsexpansion von unten und nach vorne – nämlich im Elementarbereich, beim vorschulischen Lernen. Denn wer ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Schule kommt – und dazu gehören immer mehr Kinder auch dann, wenn sie nicht aus Einwandererfamilien stammen – der macht bald schon seine erste “Sitzenbleiber”-Erfahrung. Für diese Kinder stellt sich die Frage nach dem Abitur überhaupt nicht. Ihnen fehlen die Startchancen, die ihnen vom Elternhaus nicht in dem Maße mitgegeben wurden, wie es das deutsche Bildungssystem erforderlich macht.
Der Kindergarten als Elterntreffpunkt
Bildung von Anfang an – das ist deshalb der entscheidende Punkt. Der Bund hat durch das Gesetz über die Ausweitung der Betreuung von Unter-Dreijährigen einen Anstoß gegeben. Und die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen hat jetzt einen bemerkenswerten Schritt getan: Demnächst sollen schon Zweijährige einen Kindergartenplatz bekommen, und das letzte Kindergartenjahr wird kostenfrei. Bei den Fünfjährigen soll dann, wenn nötig, auch eine spezielle Sprachförderung greifen.
Zu hoffen ist, dass mit der Aufwertung des letzten Kindergartenjahres für die Eltern nicht die Jahre davor an Bedeutung verlieren. Schon heute ist zu beobachten, dass in manchen Stadtteilen Kinder nur ein Jahr lang eine Kindertageseinrichtung besuchen. Und dies sind gerade diejenigen Kinder, die aufgrund ihres Sprachstandes sehr viel langfristiger und mit mehr Zeit gefördert werden müssten. Hier sind Ganztagsangebote sehr dringend erforderlich, weil diesen Kindern im Elternhaus die notwendigen Anregungen nicht gegeben werden.
Einen neuen Schritt, die Eltern mit einzubeziehen, gehen die Briten mit ihrem Modell des Early Excellence Centre. Das sind frühpädagogische Einrichtungen, “eine Mischung aus Luxuskindergarten für sozial Benachteiligte und Elterntreffpunkt”, wie die Zeit geschrieben hat. Die Blair-Regierung will mit diesen Zentren – nicht ohne Erfolg – jedem Kind einen Sure Start ins Leben ermöglichen. Hier geht es um Bildung für die Kleinsten – nicht nur durch Sprachförderung, sondern auch durch musikalische, künstlerische, mathematische und naturwissenschaftliche Lernangebote. Hier hat niemand Angst vor vorschulischen Rechen-, Schreib- oder Leseversuchen der Kinder, denn diese lernen spielerisch und sind neugierig auf Bildungsinhalte. In Deutschland dagegen trifft man nicht selten noch auf eine Kultur des Überbehütens und die Angst vor “Überforderung”.
Das Entscheidende an den Early Excellence Centres, die zumeist in sozialen Brennpunkten entstanden sind, ist die Einbeziehung der Eltern. Die Erzieherinnen und Erzieher besuchen die Eltern zu Hause und machen sich dort ein Bild über den Entwicklungsstand des Kindes. In den Zentren selbst werden Familienberatungen und konkrete Hilfen angeboten. Erziehungsberatung und Sprachkurse für Eltern, Gesundheitsberatung, Kochkurse und Arbeitsvermittlung – was zuvor an unterschiedlichen Orten angeboten wurde und die wirklich Betroffenen nicht so recht erreichte, ist hier gebündelt untergebracht. Langfristig sollen diese Kinder- und Familienzentren so ausgebaut werden, dass die Kinder vom Säuglingsalter bis zum zehnten Lebensjahr begleitet werden: Wrap around care nennt das die britische Regierung.
Empowerment ist das Ziel dieser Konzepte, genauso wie die Verbesserung der dramatisch schlechten Gesundheitssituation in vielen marginalisierten Stadtteilen. Dabei kommt man den Eltern nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Sie werden in ihrer Rolle ernst genommen, als Fachleute in Fragen ihres Kindes anerkannt. Sie werden dazu gedrängt, diese Rolle auszufüllen, indem sie die notwendigen Hilfestellungen erhalten. Ganztagsbetreuung kann die Eltern nur in Notfällen (die es aber auch oft genug gibt) aus der Erziehungsarbeit entlassen. Umgekehrt: Durch eine intensive und individuelle Elternarbeit in den Kindertageseinrichtungen müssen die Eltern fit für ihre Rolle gemacht werden.
Die Erzieherinnen müssen fit gemacht werden
Zuvor aber müssen die Erzieherinnen fit gemacht werden. Einige sind es bereits, aber grundsätzlich leiden wir in Deutschland darunter, dass bei uns die Erzieherinnenausbildung nicht auf hochschulischem Niveau stattfindet. Die Idee, man benötige für Kleinkinder eine geringere pädagogische Qualifizierung als für das Unterrichten einer Realschulklasse, entbehrt jeder stichhaltigen Begründung. Früher wählten noch Jugendliche mit gutem Schulerfolg aus Neigung und Engagement den Erzieherberuf – ungeachtet der bescheidenen Bezahlung. Das ist heute selten geworden. Am Beginn der Erzieherinnenkarriere steht inzwischen meist ein durchschnittlicher Realschulabschluss. Und es ergreifen so gut wie keine Männer diesen Beruf, was dringend geändert werden muss.
Der Übergang von der Vorschule in die Schule muss fließend sein. Lehrkräfte und Erzieherinnen müssen eng kooperieren, Sprachförderung muss früh und sehr zielgerichtet einsetzen. Schule muss kindgerecht sein. So wie Kindergärten ihre Erziehungsaufgaben um Bildungsziele ergänzen müssen, muss sich Schule neben der Bildung verstärkt um Erziehungsaufgaben kümmern. Und dafür braucht man Zeit. Da reicht es nicht, die Kinder um kurz nach halb zwölf wieder von der Schule nach Hause zu schicken – oft genug zu Fast Food, Gameboy und TV. Sogar im Kindergarten wurde ihnen mehr geboten.
Bildung und Erziehung gehören zusammen
Das Vier-Milliarden-Ganztagsschulprogramm des Bundes wird im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen als “offene Ganztagsgrundschule” verwirklicht. Alle, die schon vorher zu wissen meinten, dass dies nicht funktionieren könne, haben sich getäuscht. Die Grundschulen, die bislang mitmachen, vermelden durchgängig Erfolge. Sicherlich gibt es anfänglich Probleme, besonders weil mit den Investitionsmitteln erst die nötigen Bauten errichtet werden müssen. Doch viele Eltern und Kinder haben das Angebot bereits sehr gut angenommen.
Wir werden auch den zweiten Schritt tun müssen: Der Nachmittag muss mit dem Vormittag zu einer Einheit verbunden werden. Für die Schülerinnen und Schüler brauchen wir den stetigen Wechsel zwischen Unterricht, anderen Lernerlebnissen, Sport, Spiel und Bewegung. Dabei kann das Nachmittagspersonal, das Erzieherinnen und Sportanleiter, ehrenamtliche Eltern und andere mit einbezieht, auch vormittags eine Bereicherung sein. Genauso werden die Lehrerinnen und Lehrer die Chance ergreifen müssen, die eine ganztägige Schule bietet. Wer Bildung und Erziehung als eine Einheit sieht, muss mehr Zeit mit den Kinder verbringen, und sie auch außerhalb des Unterrichts kennen lernen – ob beim Mittagessen oder bei Freizeitaktivitäten in einer AG.
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest sich wie ein dringender Appell für eine zweite Bildungsreform. Armut und Reichtum klaffen in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander. Das ist ohne Zweifel auch ein Verteilungsproblem – aber eher bei den Reichen als bei den Armen. Denn deren Armut geht über materielle Not weit hinaus: fehlende Schulbildung und Gesundheit, Suchtmittel, Erwerbslosigkeit – den Ausbruch aus diesem Milieu können finanzielle Zuweisungen an den Einzelnen meist nicht bewirken. Vielmehr ist Bildung der Schlüssel. Deshalb ist die zweite Bildungsreform das zentrale Projekt für die Zukunft unserer Gesellschaft: die notwendige Bildungsexpansion “nach unten”.
Wichtig ist, dass diese Bildungsexpansion kein Projekt für die Unterschichten ist, bei denen Sozialarbeiter und Lehrer in den benachteiligten Stadtteilen für Wertevermittlung und Moral sorgen sollen. Es geht tatsächlich um die Gesellschaft insgesamt, deren enormer Wandel in den achtziger und neunziger Jahren verschlafen wurde. Andere Länder hatten damals schon längst erkannt, dass die Gesellschaft ihrer Mitverantwortung an der Erziehung, Förderung und Betreuung bereits der Kleinkinder gerecht werden muss.
Mehr Kinder durch schlechte Betreuung?
Bei der direkten finanziellen Förderung von Kindern liegt Deutschland EU-weit an der Spitze. Bei der Möglichkeit dagegen, Kinder und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren, liegen wir weit hinten. Die Geburtenrate ist in Europa dort am höchsten, wo die Frauenerwerbsquote hoch und die Kinderbetreuung gut geregelt ist. Der von der Prognos AG im Auftrag des Familienministeriums erarbeitete “Familienatlas” stellt fest, dass in Deutschland die Kinderzahlen dort hoch sind, wo niedrige Arbeitslosigkeit, geringe Kriminalität und eine vergleichsweise schlechte Kinderbetreuung aufeinander treffen. “Der Mut zum Kind ist größer, wo traditionelle Familienstrukturen und eine geringe Frauenerwerbsquote zusammenkommen”, stellte Tissy Bruns ernüchtert im Tagesspiegel fest.
Auch eine Forsa-Erhebung im Auftrag der Zeitschrift Eltern ergab, dass fehlende Kinderbetreuung nur als nachrangige Ursache für Kinderlosigkeit empfunden wird. Stattdessen sagten 44 Prozent der befragten Kinderlosen, der passende Partner fehle. Gleichzeitig wird klar, dass ökonomische Fragen und die Sorge um den Arbeitsplatz vordringliche Gründe sind, auf Kinder zu verzichten. Der Staat kann aber nicht unbefristete Arbeitsplätze für alle schaffen. Deshalb ist es umso mehr seine Aufgabe, wenigstens für eine tragfähige Kinderbetreuung zu sorgen. Auf diese Weise können die Eltern ihre ökonomische Situation selbst in die Hand nehmen.
Mehr Geld für Bildung und Betreuung
Bleibt die Frage, wie wir die kinderfreundliche Gesellschaft finanzieren. Oftmals schlagen selbst seriöse Presseorgane und Politikern vor, dies sollten die wohlhabenden Eltern tun, indem sie auf ihr Kindergeld verzichten. Ein seltsamer Vorschlag: Die “Besserverdienenden” bekommen ja gar kein Kindergeld im engeren Sinne, sondern sie haben einen verfassungsrechtlich garantierten Kinderfreibetrag, der für eine deutlich höhere Steuerersparnis sorgt. Wir werden daher nicht darum herumkommen, tatsächlich mehr Geld für Bildung und Betreuung auszugeben. Eine höhere Erbschaftssteuer wäre ein gutes Finanzierungsmittel, das dann sowohl bei den Einnahmen wie bei den Ausgaben für mehr Gerechtigkeit sorgen würde.
Recht hat der rheinland-pfälzische Finanzminister Gernot Mittler: “Eigentlich können wir es uns finanziell nicht erlauben, aber wir können uns auch nicht erlauben, es nicht zu machen”, sagt er in Hinblick auf das beitragsfreie letzte Kindergartenjahr, das es in seinem Bundesland ab 2006 geben wird. Vermutlich weiß er, dass die Folgekosten eines Auseinanderbrechens unserer Gesellschaft – nämlich in einen von Armut und fehlenden Bildungschancen geprägten Teil, und einen komfortabel lebenden, oftmals kinderlosen Teil – weitaus höher wären.