Berlins Parteien zwischen Provinz- und Metropolenpolitik
Berlin ist etwas Besonderes. Die alte Reichs- und neue Bundeshauptstadt mit ihren über drei Millionen Einwohnern und ihrer ökonomischen, sozialen und politischen Ausnahmesituation hat ein einmaliges Kaliber unter Deutschlands Großstädten. Das gilt auch für ihre Politik.
Nach 1945 war Berlin der zentrale Schauplatz der Teilung Deutschlands und Europas. Seit dem Mauerbau 1961 wurden beide Stadthälften "Frontstädte" und "Aushängeschilder" im Kalten Krieg. Bis heute leidet die Stadt unter den Eliten-Vertreibungen durch Nazis und Kommunisten wie unter den Verlusten des Zweiten Weltkriegs und der Einigelung im großen Systemkonflikt.
Im Westen entstand nach der "heroischen Phase" der Abwehr des Kommunismus 1948/49 in den hektischen Aufbaujahren der 50er ein eigenständiges, westorientiertes Teilberlin, das nach der endgültigen Abriegelung 1961 zunehmend abhängig von bundesdeutschen Subventionen wurde und sich eine widerborstig-ambivalente "Inselmentalität" zulegte. Seither schwanken die Berliner zwischen sympathischer Kotzigkeit und Jammerei. Immer schon war Berlin Hort der Spießerei, seit 1968 aber auch Mekka der neuen sozialen Bewegungen, für Studenten, Wehrdienstflüchter, Öko- und Kulturfreaks aus der westdeutschen Provinz, die - selbst oft Kleinbürger - hier ihre antibürgerlichen Affekte auslebten. Hauptzug des Berliner Politikverständnisses ist daher ein etatistisch-autoritäres "Das soll gefälligst der Staat machen" und zugleich ein libertär-ignorantes "Ihr blöden Politiker, quatscht mir bloß nicht ‘rein." Beide Haltungen zusammengenommen, entlasten die Bürger trefflich von jeglicher Eigenverantwortung.
Die Politik West-Berlins wurde geprägt von der abnehmenden Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes und der wachsenden Rolle der westdeutschen Subventionen, die die "Insel im roten Meer" stabilisieren sollten. Diese Entwicklung - zuletzt waren es immerhin 12 Milliarden Mark jährlich - erzeugte eine Subventionsmentalität, die über Parteien und Verbände in immer weitere gesellschaftliche Bereiche ausstrahlte. Damit eng verbunden ist die übergroße Rolle des öffentlichen Sektors und der Gewerkschaften bei gleichzeitiger relativer Schwäche der mittelständischen Schichten und ihrer Vertretungen. Schließlich ist Berliner Politik meist eine delikate Melange aus der zentralistischen Landespolitik des Senats bzw. seiner Verwaltung, und aus Kommunalpolitik in bisher 23 politisch buntscheckigen Bezirken.
Auch in der "Hauptstadt der DDR" war der Staatssektor stärker als irgendwo sonst. Ost-Berlin war als "Schaufenster des Ostens" konzipiert und wurde jahrzehntelang bevorzugt. Das machte die dortige SED besonders linientreu und selbstgefällig und verstärkte die ohnehin extrem etatistische Einstellung. Allerdings war auch Ost-Berlin "Fluchtburg" für Intellektuelle und Abweichler aller Art, die sich unter anderem in den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Friedrichshain ballten. Die Führung reagierte mit Brot und Spielen für die Massen wie mit schnell hochgezogenen "Komfortwohnungen" in den für DDR-Bürger attraktiven Trabantenstädten, mit Festivals, Weltjugendspielen oder der 750-Jahr-Feier, aber auch mit scharfer Kontrolle und Repression für die Andersdenkenden wie beim Mauer-Konzert 1987, der Rosa-Luxemburg-Demo 1988 oder den Ausreisekundgebungen 1989.
Insgesamt ist Deutschland nirgendwo bürokratischer, autoritärer und schlicht lauter als in Berlin. Gleichzeitig ist aber nirgendwo das intellektuelle, kulturelle und politische "Störpotenzial" größer, kreativer und sensibler als hier. Berlins Parteien sind daher auf der Links-Rechts-Skala schwerer zu verorten als in Westdeutschland: Sie waren alle in derselben Verteilungskoalition. Die Großen huldigen dem "Mann auf der Straße" und müssen doch auch den Minderheiten und dem Bildungsbürgertum etwas bieten. Nur so ist zu verstehen, warum die Hauptstadt-CDU sich den Spagat leistet vom "christlichen Preußen" Ekkehard Wruck im Abgeordnetenhaus über den regierenden Berliner Lieblingsschwiegersohn und Ex-FU-AStA-Vorsitzenden Eberhard Diepgen bis zur linksliberalen Ausländerbeauftragten Barbara John. Hier ist die CDU etwas liberaler, die SPD noch bürokratischer, die FDP noch rechter, die PDS noch verbohrter, und die Grünen sind chaotischer als anderswo.
Nach neun Jahren Großer Koalition hängen die Spitzen der beiden Koalitionspartner fast unentwirrbar in einem Knäuel aus Regierungs- und Parlamentsgremien und Aufsichtsratsmandaten zusammen, und ihre Attacken zu Wahlkampfzeiten wirken noch angestrengter als andernorts. Die Regierungsparteien funktionieren eigentlich gar nicht, aber sie regieren. Die Arbeitsteilung geht so: Die CDU tut möglichst wenig, wartet auf Fehler des Juniorpartners oder treibt durch ihren kongenialen Fraktionschef Landowsky populistische Säue durchs Dorf, die der lächelnde "Regierende" wieder einfängt. Funktionäre und Basis sind einverstanden, solange die Wahlergebnisse und damit ihre Pfründe stimmen. Die SPD kämpft für die Zukunft der Stadt, konsolidiert und kürzt im öffentlichen Sektor und verärgert damit ihre Stammwähler und Mitglieder. Außerdem kämpft die SPD-Spitze gegeneinander, was mit alten Rechts-Links-Konflikten nichts mehr zu tun hat, aber Kraft kostet. So klammern sich beide Große aneinander wie zwei erschöpfte Ringer, die mit Recht fürchten, umzufallen, wenn sie einander loslassen. Programmatische Arbeit und Nachwuchspflege sind selten. Und die kleinen Oppositionsparteien PDS, Grüne und FDP funktionieren nach dem Wort des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti: "Die Macht verschleißt den, der sie nicht hat."
Die von der Einheit 1989/90 überraschte politische Klasse hatte alle Hände voll zu tun mit den Vereinigungsfolgen und wirkt konzeptionell und personell überfordert. Kein Wunder, da bis heute die Politiker-Generation der späten 60er am Ruder ist. Dazu kommt, dass das Berliner Feierabendparlament nur für Rechtsanwälte und Beamte attraktiv ist. Der Nachwuchs aus den Bezirken verengt sich auf diejenigen, die sich den Parteispitzen anzudienen wissen. Eigenständige Denker werden hier nicht alt. Nachwuchs von außen wird seit Apel 1985 in der SPD und von Weizsäcker 1981 in der CDU abgeblockt. Wichtig ist der Kontakt zu den Senatoren und den sie stellenden landesweiten Machtzirkeln. Inhalte interessieren wenig, Berliner Politik ist Personalpolitik. Opportunismus wird belohnt: Wer den Wählern nach dem Munde redet wie das Duo Diepgen/Landowsky wird wiedergewählt.
Politik und Wirtschaft sind vielfältig verwoben: So wurde der Berliner ÖTV-Chef, wackerer Kämpfer gegen die Bewag-Privatisierung, in dem gerade privatisierten Unternehmen bestens dotierter Arbeitsdirektor. Dazu die ewigen Bauaffären, die Kungelproporze in öffentlichen Sendern und Betrieben, kurz: Berliner Politik ist, freundlich gesagt, berechenbar und bodenständig. Man beruft sich gern auf tote Visionäre und Reformer wie Luxemburg, Reuter und Brandt. In der Praxis herrschen Pragmatismus und das Lauern auf die Fehler der anderen. Dabei verengen sich die Rekrutierungskanäle. Das wiederum erleichtert der herrschenden Clique das Regieren und erschwert Reformen. Ein Teufelskreis, der besonders die SPD trifft, weil ihr ein alle Schwächen überlächelnder Strahlemann wie Eberhard Diepgen fehlt.
Die Frontstadtatmosphäre Berlins mit ihrem Anti-Intellektualismus und der ständigen Einladung zur Stadtflucht erzeugte zusammen mit einer vom Springer-Verlag dominierten konservativen Medienlandschaft eine politische Öffentlichkeit mit ausgeprägten Teilkulturen: Der idealtypische CDU-Wähler wohnt in Zehlendorf oder Steglitz, liest BZ, Morgenpost oder Welt, schimpft auf Grüne und Türken und pflegt liebevoll sein Eigenheim. "Der" SPD-Wähler kommt typischerweise in zwei Varianten vor: Der linksliberale Mittelschichtler lebt in Charlottenburg oder Friedenau, liest Berliner Zeitung oder Tagesspiegel und hat ein Häuschen im Speckgürtel. Der traditionelle SPD-Arbeiter im Wedding oder in Neukölln liest BZ oder Bild, schimpft auf Türken und Beamte und träumt von "Herthas" Deutscher Meisterschaft. Der Grüne, früher meist in Kreuzberg, neuerdings mehr in Mitte und Prenzlberg daheim, liest taz oder freitag, ärgert sich über die Berliner Verkehrsbetriebe, und träumt von einer Eigentumswohnung in der Oranienburger Straße. Der PDS-Wähler sitzt in Mitte im Altbau oder in Marzahn im Elf-Geschosser, liest ND oder Berliner Zeitung und träumt vom Häuschen am Stadtrand. Und dann gibt es die steigende Zahl derer, die in gesichtslosen Trabantenstädten hausen, kaum lesen, im Privat-TV träumen lassen und einfach sauer sind auf alles, was ihnen die Medien vorsetzen. Natürlich gibt es auch noch die kulturellen und intellektuellen Eliten, das universitäre Milieu, rund 150 000 Berliner Türken, viele Russen, Polen, Juden. Berlin ist über seine fantastische Kulturszene hinaus so vielfältig wie seine Politik einfallslos und arm ist.
Und Berlin ist arm. Die Stadt hat im Schnitt über 15 Prozent Arbeitslose, rund 300 000 offiziell. Sie hat das niedrigste Wirtschaftswachstum aller Bundesländer, und hat die meisten Schulabbrecher, Drogenabhängigen, Sozialhilfeempfänger, Illegalen und Schwarzarbeiter. Hier tut Bildungspolitik Not, hier sind Integrations- und Sozialpolitik gefordert. In Berlin ist innere Sicherheit wirklich ein Problem. Die Berliner Politik hat reagiert, mit Hausmeistern für Slumgebiete und der höchsten Polizeidichte aller Länder.
Die Strukturprobleme der Berliner SPD sind als "Sandwich-Syndrom" zu beschreiben. Die Partei hängt doppelt dazwischen: Geographisch-politisch zwischen der stärksten West-Berliner Partei, der CDU, und der stärksten Ost-Partei, der PDS.
Sozialstrukturell liegt die einstige "Arbeiterpartei" in der industriearmen Stadt, mit Wachstumsbranchen wie Einzelhandel und Tourismus, zwischen dem mittelständisch-angestellten Milieu der CDU und dem öffentlich-angestellten Milieu der PDS. Dazu kommt noch die Konkurrenz zu den in der Studentenhochburg Berlin starken Grünen, die in Bezirken wie Schöneberg und Kreuzberg mit der SPD gleichziehen konnten.
Diese Strukturschwäche und eigene Fehler beim Scheitern des rot-grünen Senats zwangen die SPD 1990 als Juniorpartner an die Seite der Union. Seither hat sie die unangenehme Aufgabe, die CDU zum Jagen zu tragen und mit ihren Sparaktionen die Bürger zu ärgern. Und das mit einer Partei, die mehrheitlich im öffentlichen Dienst arbeitet. Der versuchte Befreiungsschlag einer Fusion mit Brandenburg wurde von den Brandenburger Wählern 1996 niedergestimmt. Immerhin konnte die SPD die Verwaltungs- und Bezirksreform auf den Weg bringen, die aus 23 abhängigen zwölf eigenständigere Hauptstadtbezirke macht. Seit Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing das Defizit der Stadt bekämpft, glaubt die Partei, ein Pfund zu haben, mit dem sie bei den Wählern wuchern kann. Nur waren alle harten Entscheidungen nicht nur beim Koalitionspartner und den Berlinern, sondern gerade in der eigenen Partei durchaus streitig. Zudem konnte die SPD-Spitze kaum vermitteln, wohin dieser Totalausverkauf des städtischen "Tafelsilbers" führen soll. Schließlich fehlt der SPD die klare Nummer Eins an der Spitze. In einem regelrechten "Putsch an der Wahlurne" setzte im Januar 1999 die rot-grün gestimmte Basis gegen die großkoalitionär gesonnene Funktionärsschicht und Fraktion per Mitgliederbefragung den rot-grünen Altmatador Walter Momper durch.
Der aber erwies sich als zu wenig populär und zu zahm, um die zerstrittene Partei hinter sich zu vereinen. Die wiederum gab sich, weil sie ihrem Kandidaten Führung nicht zutraute, eine Quadriga-Spitze. Diesen vieren - die konsequente Finanzsenatorin, der wortgewaltige Landesvorsitzende Strieder, der aufrechte Kärrner Fraktionschef Böger und der "Mann für Wirtschaftskompetenz" Momper - gelang es nicht, die Partei zu einen. Im Gegenteil, ihr schlecht platziertes "Quadriga-Papier" wurde von der empörten Partei abgeschmettert. Dazu kamen aufgebauschte Patzer des Bürgermeister-Kandidaten, ein matter Wahlkampf und die gnadenlose Stimmungsmache der Berliner Medien. Bald setzten die üblichen Positionskämpfe ein, dazu Symptome der Lustlosigkeit - wie der endlose Urlaub einer amtsmüden Senatorin. Dies alles kombiniert mit dem Bundestrend brachte die Berliner SPD von ihrem Hoch bei der Bundestagswahl - da gewann sie mit 37,8 Prozent über drei Viertel aller Berliner Direktmandate - auf den einmaligen Tiefstand von 20 Prozent im August. Die biedere Unentschlossenheit der Hauptstadt-SPD zwischen Provinz und Metropole bringt ihr Wahlkampfslogan auf den Punkt: "Willkommen Zukunft. Berlin bleibt doch Berlin."
Die verzweifelte Berliner SPD-Führung lehnte sich nun eng an die Bundesregierung und ihr Sparpaket an, in der Hoffnung, die Schulterschlüsse "Schröder und Momper" und "Eichel und Fugmann-Heesing" würden es richten. Doch statt Rückenwind kommen aus dem Bund derzeit mehr Fallwinde und auf dem Willkommensfest am Willy-Brandt-Haus Ende August waren sich Landes- und Bundespartei herzlich fremd. Während sich daher viele schon intern auf weitere vier Jahre babylonischer Gefangenschaft beim Dauerlächler einrichten, beschwört der Kandidat noch tapfer "Rot-Grün". Ansonsten greift die alte SPD-(Un-)Tugend des Augen-zu-und-durch in der sozialdemokratischen Wagenburg, obwohl jeder weiß, der Indianer sind zu viele.
Dabei hätte die SPD gute Chancen, führende Partei Berlins zu werden. Ökonomisch fordert der Strukturwandel zur Dienstleistungsmetropole neue Konzepte statt Diepgens populärer Tatenlosigkeit. Sozial schreien Arbeitslosigkeit und soziale Frage geradezu nach einer sozialdemokratischen Antwort. Strukturell ist die SPD die einzige Partei, die beide Stadthälften integrieren könnte. Politisch wählt die Mehrheit der Berliner nach wie vor links. Die verbrauchte Diepgen-CDU kann den selbst verursachten Problemstau nicht lösen. Und die SPD könnte sich mit der Bundesregierung die Bälle zuspielen. Finanzpolitisch ist nach dem Ausverkauf des Tafelsilbers die Fortsetzung der von der SPD eingeleiteten Konsolidierung unverzichtbar. Gefragt sind eigentlich Visionen von der europäischen Metropole Berlin im 21. Jahrhundert. Dabei kommt es laut Erhard Eppler nicht auf die Größe der Schritte an, sondern auf die Erkennbarkeit der Richtung. Hier hätte die SPD mit ihren Themen und ihrem begonnenen Weg Angebote zu machen wie keine andere Partei. Dazu müsste sie "nur" die autistische SPD der 80er Jahre hinter sich lassen. Also Raum schaffen für Neugier und Debatten, eine neue Denk- und Gesprächskultur entwickeln, sich öffnen für neue Themen und Menschen, wieder zuhören lernen. Aber das fällt ja auch anderenorts nicht leicht.