Dann sind wir jenseits von Schweden

Erstmals seit 50 Jahren hat Schweden wieder Passkontrollen an der Grenze zu Dänemark eingeführt. In der Fluchtkrise brauche sein Land erst einmal eine »Atempause«, erklärte Premier Stefan Löfven. Tatsächlich geht es um mehr: Die einst sozialdemokratischste Gesellschaft der Welt ringt um ihr Selbstverständnis

„Wäre Stockholm betroffen, hätte die Regierung anders gehandelt.“ So lautete der verärgerte Vorwurf von Vertretern der südschwedischen Wirtschaft, nachdem der schwedische Premier Stefan Löfven Anfang Januar ankündigt hatte, zwischen Dänemark und Schweden Personenkontrollen einzuführen. Der Protest ist nachvollziehbar: Seit 15 Jahren ist die Öresundbrücke (bekannt aus dem Krimidrama Die Brücke) ein stolzes Symbol der skandinavischen Integration. Das Pendeln zwischen den beiden Ländern in der Region ist zur Normalität geworden. Davon hat nicht zuletzt die lokale Wirtschaft enorm profitiert.

Zerreißprobe für die Sozialdemokraten

Doch nun werden die Menschen an der Öresundbrücke angehalten und müssen ihre Pässe vorzeigen – an einer Grenze, bei der man eigentlich längst vergessen hatte, dass es sich um eine Grenze handelt. Die Folge sind massive Verkehrsprobleme. So hat die schwedische Bahngesellschaft SJ den Zugverkehr zwischen Stockholm und Kopenhagen bis zum 1. März eingestellt.

Rund 50 Jahre lang war das passfreie Reisen zwischen Schweden und Dänemark Realität, viel länger als der Schengen-Raum existiert. Aber die Flüchtlingskrise in Europa hat auch diese Besonderheit des skandinavischen Lebens verändert.

Schweden hat 2015 mehr Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen als jedes andere europäische Land. Seit Dezember setzt Löfvens sozialdemokratische Regierung daher alles daran, Schweden – wie er sagt – eine „Atempause“ zu verschaffen. Vor Weihnachten präsentierte die rot-grüne Koalition eine lange Liste vorläufiger Maßnahmen, mit denen der Zustrom der Flüchtlinge begrenzt werden soll. Die Personenkontrollen an der dänischen Grenze war eine von ihnen.

Die Regierung begründete die Maßnahmen damit, dass die Kommunen mehr Zeit benötigen, um mit dem Andrang fertig zu werden. Denn es gibt in Schweden einfach nicht mehr genügend Häuser, Lehrer und Ärzte. Schweden und Deutschland können all die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, nicht alleine versorgen. Und leider sieht es nicht so aus, als würden andere europäische Länder ihren Teil der Verantwortung demnächst übernehmen.

Dennoch wurde Löfven für diesen Schritt vor allem aus dem linken politischen Lager heftig kritisiert. Viele Beobachter sind der Meinung, dass die Regierung sich mit ihrer Entscheidung gefährlich nah an die Politik und Rhetorik der Schwedendemokraten angenähert hat – einer xenophoben Partei, die sich im Aufwind befindet. Besonders problematisch: Viele junge Menschen, die im September 2014 die Sozialdemokraten gewählt haben, fühlen sich hintergangen.

Der nationale Wohlfahrtsstaat

Löfven ist allerdings nicht der einzige schwedische Politiker, der in der aktuellen Situation mit Problemen konfrontiert ist. Auch der wichtigsten Oppositionspartei, den Moderaten, droht angesichts der Flüchtlingsfrage die Zerreißprobe. Dem ehemaligem Premier Fredrik Reinfeldt wird vorgeworfen, in seiner Amtszeit eine zu liberale Migrationspolitik verfolgt zu haben. Zugleich steigt der Druck auf die neue Oppositionsführerin Anna Kinberg Batra, die Haltung ihrer Partei in der Flüchtlingsfrage deutlich zu verändern.

Die Sozialdemokraten führen eine ähnliche Debatte, die sich jedoch vor allem um die Rolle des Wohlfahrtsstaates dreht. Auf der einen Seite gibt es viele junge Sozialdemokraten, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Sie glauben an die internationale Solidarität. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, deren Grenzen scheinbar zunehmend an Bedeutung verlieren. Und sie sind davon überzeugt, dass Schweden die moralische Verpflichtung hat, weiterhin eine große Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, egal wie sich der Rest Europas verhält. Dem Argument der Regierung, man benötige eine „Atempause“, stehen sie äußerst skeptisch gegenüber.

Auf der anderen Seite betonen viele in der Partei, dass der Wohlfahrtsstaat ein nationales Konstrukt ist. Das Sozialmodell, auf das die Schweden so stolz sind, sei nicht geschaffen worden, um alle Menschen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit abzusichern. Es bestehe ein Zielkonflikt, denn es gebe eine Grenze, wie viele Flüchtlinge Schweden aufnehmen kann, ohne die Funktionsfähigkeit des Wohlfahrtsstaats zu gefährden. Die Sozialdemokraten müssten begreifen, dass sie in erster Linie dem schwedischen Wohlfahrtsstaat verpflichtet sind. Und das würde bedeuten, die schwedischen Bürger an erste Stelle zu setzen – und nicht Syrer.

Löfven kann es sich nicht leisten, eine dieser beiden Gruppen vor den Kopf zu stoßen. Ohne die junge Anhängerschaft hat die schwedische Sozialdemokratie keine Zukunft, und ohne die Zustimmung der traditionellen Milieus lassen sich keine Wahlen gewinnen.

Zugleich bringt die Debatte ein grundlegendes Dilemma der schwedischen Sozialdemokratie zum Ausdruck. Die Arbeiterpartei war in der Vergangenheit auch deshalb so erfolgreich, weil sie die Idee der Nation und des schwedischen Volkes in einer Weise verwendete, die vielen anderen linken Bewegungen unangenehm war. In den zwanziger und dreißiger Jahren konnte sie die Wähler mit einer kommunitaristischen und nationalistischen Rhetorik von den Vorzügen des schwedischen Wohlfahrtsmodells überzeugen. Fest steht: Historisch gesehen gewann die schwedische Sozialdemokratie die Wähler immer dann für sich, wenn sie eine patriotische Sprache mit einem umfassenden, radikalen Programm für ökonomischen Wandel verband.

Zugleich beruht die von den Sozialdemokraten maßgeblich aufgebaute Volkswirtschaft – und damit das Fundament des schwedischen Wohlfahrtsstaats – auf Offenheit, Freihandel und einer positiven Einstellung zur Globalisierung.

Ohne politisches Kapital und Mehrheit

Doch nun sind diese zwei Bereiche immer stärker in Konflikt miteinander geraten: der Sozialstaat und die Wirtschaft. Um das nationale Projekt des Wohlfahrtsstaates zu schützen, hat Löfven die Freizügigkeit in Richtung Dänemark eingeschränkt – mit enormen wirtschaftlichen Konsequenzen. Es ist kein Wunder, dass seine Partei sich über diese Entscheidung zerstreitet.

Eine der wenigen guten Nachrichten für Löfven lautet, dass die schwedische Wirtschaft derzeit gut aufgestellt ist. Einige Wirtschaftsexperten sprechen sogar von einem „Flüchtlings-Keynesianismus“: Angesichts des massiven Zustroms von Flüchtlingen musste die sonst so eiserne Finanzministerin Magdalena Andersson die öffentlichen Ausgaben erhöhen. Unter anderem boomt deshalb gerade die Bauwirtschaft.

Sollte Löfven einen Weg finden, das Erfolgsrezept der Vergangenheit zu wiederholen und eine patriotische Rhetorik mit einem umfassenden Programm für wirtschaftliche Reformen zu kombinieren, so hätte er derzeit wenigstens die finanziellen Mittel dafür. Das ist zumindest ein Lichtblick. Aber dies würde politisches Kapital und eine Mehrheit im Parlament erfordern. Beides hat Löfven derzeit nicht.

Aus dem Englischen von Nane Retzlaff

Wir bedanken uns beim Policy Network für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieses Textes.

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