Zu konservativ für die rundum veränderte Welt



1 Als vor zweieinhalb Jahren die Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach, glaubten die meisten von uns, die Sozialdemokratie würde wieder auferstehen. Der Staat war wieder da; Interventionismus und Rettungsaktionen lauteten die Devisen. Der neoliberale Moment schien vorüber. Heute dreht sich die politische Diskussion vor allem um den Abbau der Staatsverschuldung. Es geht nicht einmal darum, auf welchem Weg diese gesenkt werden soll, sondern nur wie schnell.

Alternativen scheint es keine zu geben. Und während die tief verschuldeten Länder Löhne senken und ihre Sozialstaaten zurückbauen, zahlen die Finanzunternehmen, die die Krise verursacht haben und von den Steuerzahlern gerettet wurden, wieder hohe Boni. Inzwischen fragen sich die einfachen Leute, ob nicht Verwaltungskosten einzusparen gewesen wären, wenn sie den Reichen ihr Geld direkt aushändigt hätten. Aber ihre Wut überträgt sich nicht in mehr Rückhalt für die Sozialdemokratie. Im Gegenteil verlieren Europas Sozialdemokraten gleich in drei Richtungen Wählerstimmen: an die Grünen, an fremdenfeindliche und nationalistische Parteien sowie an einen neuen „progressiven Konservatismus“.

Vor allem junge Leute in den Großstädten werden von der idealistischen Botschaft der wachsenden grünen Bewegung angezogen. Das gilt für Stockholm wie für Berlin. Die Situation scheint ausweglos: Die Art von Politik, mit der die Sozialdemokraten diese Wähler zurückgewinnen könnte, würde auf der anderen Seite ihre traditionelle Basis verschrecken.

Die Wähler aus der Arbeiterschaft sind besonders anfällig für nationalistische Stimmungen. Fremdenfeindliche Politiker missbrauchen die wirtschaftlich schwierigen Zeiten, um die tiefsten Ängste der Bürger aufzugreifen. Diese Wählergruppe muss vollkommen anders angesprochen werden als die jungen, umweltbewussten Städter. Dennoch muss die Sozialdemokratie beide gleichzeitig adressieren.

Zugleich erneuert sich die rechte Mitte mit einer neuen „progressiven“ konservativen Agenda. Aufgrund ihrer angeblichen Wirtschaftskompetenz, ihrer Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des Staates sowie ihres modernen Images haben die Mitte-Rechts-Parteien in Deutschland, Schweden und Großbritannien die Kontrolle über die politische Mitte erlangt.
So haben die schwedischen Sozialdemokraten zwei Wahlen hintereinander verloren. Die SAP versuchte erfolglos, den „progressiv-konservativen“ schwedischen Premierminister Fredrik Reinfeldt als Wolf im Schafspelz darzustellen. Aber so sieht ihn die Öffentlichkeit nun einmal nicht. Solange sich die Sozialdemokraten einreden, die Rechte sei unverbesserlich und werde sich nie ändern, können sie zwar bequem weitermachen wie immer. Aber sie werden dann auch immer wieder verlieren

2 Ein großes Problem der Sozialdemokraten besteht darin, dass sie sich selbst als progressiv betrachten, während die Wähler sie als konservativ wahrnehmen – nicht nur die jungen Stadtmenschen, die die Grünen wählen. Auch die Wähler aus der traditionellen Arbeiterklasse mögen mit den sozialdemokratischen Werten übereinstimmen, glauben aber nicht, dass die Sozialdemokratie in der Lage ist, diese Werte in progressive Politik zu übersetzen. Auf ähnliche Weise schätzen große Teile der Mittelschicht zwar die historischen Errungenschaften der europäischen Sozialdemokratie: die beispiellose Verbesserung des Lebens und den Abbau von Ungleichheit in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber heute stimmen sie trotzdem für die neue „progressive“ rechte Mitte. Für keine dieser Gruppen scheint die Sozialdemokratie mehr von Bedeutung zu sein.

Warum sind Sozialdemokraten nicht in der Lage, angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise eine glaubwürdige Botschaft zu formulieren? Um eine Wirtschaftskrise zu verstehen, muss man den Boom verstehen, der ihr voranging. Womöglich sind die Sozialdemokraten daran gescheitert. Die Krise folgte auf den längsten Wirtschaftsaufschwung der Geschichte. Seit Mitte der neunziger Jahre war weltweit die Produktivität angestiegen; Inflation war kein großes Problem mehr. Diese Entwicklung hatte mit der Einführung der neuen Informationstechnologien und der Öffnung neuer Märkte zu tun. Hinzu kam die zunehmende Bedeutung der Finanzwirtschaft. Eine neue Phase der Globalisierung hatte begonnen.    

Sozialdemokraten waren es gewöhnt, den Strukturwandel als einen Prozess zu betrachten, bei dem alte Berufe aufgrund von neuen Technologien verschwinden, während parallel dazu in neuen Industrien neue Arbeitsplätze entstehen. Aber seit Mitte der neunziger Jahre erfolgten viele Neustrukturierungen innerhalb bestehender Industrien. Deshalb finden immer mehr Menschen keinen Arbeitsplatz, ganz gleich wie stark die Wirtschaft wächst.  

Die Angehörigen der Mittelschichten sind unsicherer geworden, seit auch die Angestelltenberufe strukturellen Veränderungen unterliegen wie niemals zuvor. Doch die Furcht vor der Arbeitslosigkeit hat diese Gruppen nicht näher an die Sozialdemokratie herangeführt. Im Gegenteil: Sie haben gerade nicht das Gefühl, dass sozialdemokratische Politik die Ursachen ihrer Verunsicherung bekämpft. Und sie haben Recht.

3 Zuletzt hat sich die Sozialdemokratie Mitte der neunziger Jahre erneuert. New Labour und die neue Mitte wurden erfunden; eine Ewigkeit ist das her. Am Silvesterabend 1994 gab es insgesamt 623 Internetseiten. Seitdem ist eine vollständig neue Welt entstanden. Es wäre merkwürdig, wenn die politischen Strategien aus den neunziger Jahren heute noch funktionieren würden.

In ganz Europa beobachten wir Insider-Outsider-Probleme auf dem Arbeitsmarkt, wachsende Ungleichheit und Menschen, die mit der sozialdemokratischen Botschaft von „Mehr Investitionen in Bildung“ nichts anfangen können. Ihre Kinder schneiden im real existierenden Bildungssystem so schlecht ab wie eh und je. Sozialdemokratische Schlagwörter wie „Wissensgesellschaft“ oder „dynamisches Wachstum“, die in den neunziger Jahren neu waren, sprechen sie schlicht nicht an. Warum sollten sie auch?

Hat die Sozialdemokratie das Zeug dazu, sich noch einmal gründlich zu erneuern? Viel hängt davon ab. Denn der entscheidende Punkt ist nicht, dass Europas Sozialdemokraten neue Botschaften finden müssen. Der entscheidende Punkt ist, dass dieses Europa dringend eine neue Sozialdemokratie braucht. «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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