Gefangen in der Wohlfühlecke

Weil sich die schwedischen Sozialdemokraten in der Opposition zu bequem eingerichtet hatten, erlitten sie in diesem Jahr eine historische Wahlniederlage. Ihr Scheitern muss als dringender Weckruf für andere Mitte-Links-Parteien in Europa wirken

Es ist nicht leicht, Sozialdemokrat zu sein. Wenn wir zu unseren politischen Programmen stehen und verlieren, heißt es, wir seien nun einmal veraltet. Wenn wir versuchen, unsere politischen Programme zu erneuern und verlieren, heißt es, wir hätten unsere Wurzeln verraten. Die Lösung ist einfach: nicht zu verlieren. Darin lag früher die besondere Begabung der schwedischen Sozialdemokratie.

Die Parlamentswahl vom 19. September dieses Jahres hat die schwedischen Sozialdemokraten von der erfolgreichsten Partei der Welt (die Schweden während 65 der vergangenen 78 Jahre regierte) in eine schwer angeschlagene Mitte-Links-Partei wie viele andere auch verwandelt.

Zum ersten Mal seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts ist in Schweden eine Mitte-Rechts-Regierung im Amt bestätigt worden. Premierminister Fredrik Reinfeldt, der Chef der konservativen „Moderaten“ seit 2003, hat seine Partei modernisiert und dabei gezielt in die politische Mitte ausgegriffen. Wie bei David Cameron, dem Parteiführer der britischen Konservativen, handelte seine Botschaft davon, wie sich sozialdemokratische Ziele mit konservativen Mitteln erreichen ließen. Die Wähler schenkten ihm Glauben – und das nicht bloß einmal, sondern zweimal.

Die harte Wahrheit ist, dass die schwedischen Sozialdemokraten die schlimmste Wahlniederlage in ihrer modernen Geschichte erlitten haben. Der Schmerz des Scheiterns wird noch verschlimmert durch den Vormarsch der einwanderungsfeindlichen Schwedendemokraten (wobei übrigens die Immigration diesmal für die Wähler nicht einmal ein wichtiges Thema war, so dass das Gesamtbild sehr komplex ausfällt). Im Gefolge der Wahl sah sich Mona Sahlin, die Vorsitzende und Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten gezwungen, ihr Amt niederzulegen. Auch das ist historisch neu: Die schwedischen Sozialdemokraten sind es gewohnt, dass ihre Parteichefs mindestens ein Jahrzehnt lang amtieren.  

Der offensichtlichste Fehler der Sozialdemokraten war, dass sie ihren neuen Gegner offenbar nicht als neu begreifen wollten – oder konnten. Seit mindestens vier Jahren versuchen sie, Fredrik Reinfeldt als Wolf im Schafspelz zu brandmarken. Aber erstens sieht ihn die Öffentlichkeit nicht so, und zweitens verschiebt diese Betrachtungsweise die Debatte weg von Fragen handfester Politik, hin zu einer Diskussion über mutmaßliche ideologische Absichten. Das ist immerhin eine bequeme Strategie: Wenn sich die Sozialdemokraten einreden, dass die Rechte immer die gleiche alte Rechte ist, die sich niemals ändern wird, dann kann die Sozialdemokratie ebenfalls als diejenige alte Partei fortbestehen, die sie schon immer gewesen ist.

Vor vier Jahren verloren die Sozialdemokraten die Wahl beim Thema Arbeitslosigkeit. Seither ist Reinfeldt im Kampf gegen dieses Problem aber ebenfalls nicht erfolgreich gewesen. Die schwedische Wirtschaft hat sich von der Krise schnell erholt, das Wachstum wird den Prognosen zufolge in diesem Jahr vier Prozent erreichen, und die öffentlichen Finanzen befinden sich in einem sehr guten Zustand. Aber die Arbeitslosigkeit ist mit etwas über acht Prozent problematisch geblieben. Daher konnten die Sozialdemokraten Reinfeldt im Wahlkampf ziemlich erfolgreich für seine Überzeugung kritisieren, für jedes wirtschaftliche Problem seien Steuersenkungen die Lösung; entscheidend war aber, dass sie zugleich kein glaubwürdiges eigenes Wirtschaftsprogramm vorlegten.

Rot-Grün-Rot schreckte die Wähler ab

Schweden ist ein kleines Land mit einer langen Geschichte der Freihandelspolitik, des offenen Umgangs mit ausländischer Konkurrenz und internationalen Märkten. Die strukturellen Veränderungen der Wirtschaft sind hier immer sehr dramatisch verlaufen. Mit diesen Veränderungen einher ging in Schweden die politische Überzeugung, dass eine dynamische Gesellschaft notwendig sei, die allerdings gerade nicht mit totaler Marktfreiheit, sondern nur mit einem starken universellen Netz sozialer Sicherheit erreicht werden könne. „Sichere Menschen wagen etwas“, lautet ein berühmter Slogan der schwedischen Sozialdemokraten: Fortschrittliche Politik handelt davon, den Menschen bei der Bewältigung des Wandels zu helfen. Sie handelt nicht davon, sich der Veränderung zu widersetzen.

Die gegenwärtige Krise folgte auf den längsten Wirtschaftsaufschwung der Geschichte:  China, Indien und Brasilien erlebten dramatische Aufwärtsentwicklungen, und seit Mitte der neunziger Jahre wuchs der Welthandel schneller als das globale Sozialprodukt. In vieler Hinsicht stellen die vergangenen 15 Jahre eine neue Periode der Globalisierung dar. Mitte der neunziger Jahre begann die Produktivität zu steigen, während die Inflation aufhörte, ein großes Problem zu sein – das Gegenteil von dem, was die Weltwirtschaft in den späten siebziger Jahren gekennzeichnet hatte. Aber genauso wie damals brachte der Umbruch grundlegende Konsequenzen für die Politik in den Nationalstaaten mit sich.

Aus alter Erfahrung nehmen die schwedischen Sozialdemokraten ökonomischen Strukturwandel als einen Prozess wahr, in dem alte Berufe durch neue Technologien ersetzt werden, während gleichzeitig neue Arbeitsmärkte in neuen Branchen entstehen. Demzufolge meinen sie, Arbeitsmarktpolitik könne sich darauf konzentrieren, Menschen durch den Wandel hindurch in die neuen Verhältnisse mitzunehmen. Doch seit Mitte der neunziger Jahre hat sich eine Menge Umstrukturierung innerhalb bestehender Industrien ereignet, wodurch eine wachsende Gruppe von Menschen entstanden ist, die von der Globalisierung zurückgelassen worden sind. Für diese Leute findet sich auf dem Arbeitsmarkt offensichtlich keinen Platz mehr, ganz gleich wie sehr die Wirtschaft wächst.

Am anderen Ende der Skala hat die Entwicklung die Unsicherheit der Mittelschichten verstärkt. White collar jobs, also typische Büroarbeitsplätze sind in Schweden dem strukturellen Umbruch ausgesetzt wie nie zuvor. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit hat massiv um sich gegriffen, aber näher an die Sozialdemokratie herangeführt hat sie die Menschen keineswegs: Die Mittelschichten haben nicht den Eindruck, dass die sozialdemokratische Wachstums- und Arbeitsmarktpolitik hinreichend erneuert worden ist, um ihren neuen Formen von Unsicherheit gerecht zu werden.

Diese neue Phase der Globalisierung zu verstehen – darin bestand die offensichtliche Aufgabe für die politische Erneuerung der schwedischen Sozialdemokraten nach ihrer Wahlniederlage von 2006. Doch diese Arbeit wurde nie getan. Die Partei konzentrierte sich auf die Wahl einer neuen Vorsitzenden, sie stand in den Umfragen zunehmend gut da, sie wurde selbstzufrieden – und stürzte schließlich am Wahltag katastrophal ab. Weil es an einer glaubwürdigen wirtschaftspolitischen Alternative fehlte, wuchs die Attraktivität der simplen Botschaft Reinfeldts, den Menschen zumindest Steuersenkungen zu versprechen. Die Sozialdemokraten dagegen versäumten es, ihre Steuerpolitik auf systematische Weise zu überprüfen und verrannte sich daher in den Debatten über einzelne Steuerarten – völlig losgelöst von der Frage, zu welchen politischen Zwecken die Steuern eigentlich verwendet werden sollten.

Die Unfähigkeit der Sozialdemokraten, die Mittelschichten erfolgreich anzusprechen, führte dazu, dass sich am Wahltag nur noch 22 Prozent aller Arbeitnehmer in regulären Beschäftigungsverhältnissen für sie entschieden. Zunehmend wurden die Sozialdemokraten stattdessen als eine Partei von Menschen ohne Arbeit wahrgenommen – und wurde auch hauptsächlich von diesen gewählt: von den Erwerbslosen, den berufsunfähig Geschriebenen und anderen von staatlichen Transferleistungen Abhängigen. Das auf diese Weise erzielte Ergebnis hat die schwedische Sozialdemokratie nicht in die Lage versetzt, gerade diesen Menschen beistehen zu können.

Auch das von Mona Sahlin vor der Wahl mit den Grünen und der Linkspartei geschlossene Wahlbündnis trug dazu bei, Wähler in die Flucht zu schlagen. Nach Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts United Minds wandten sich 32 Prozent der vormals sozialdemokratischen Wähler von ihrer Partei ab, weil sie mit der Linkspartei paktierte, während zugleich 45 Prozent den Sozialdemokraten wegen des Einflusses der Grünen den Rücken kehrten.

Das rot-grüne Bündnis trieb einen Keil bis tief in das Herz der sozialdemokratischen Kernwählerschaft. Das Misstrauen gegenüber den Grünen ist in den historischen Hochburgen der Sozialdemokratie besonders ausgeprägt. Besonders im Norden von Schweden ist die Wahrnehmung verbreitet, die Grünen wollten gegen den dortigen way of life vorgehen, der sich nicht zuletzt um Autos, Schneescooter und Fernreisen dreht. In den Städten wiederum ist es die Linkspartei, die den Leuten verdächtig vorkommt. Ihre Steuerpolitik sowie ihre außenpolitischen Vorstellungen waren für viele Mittelschichtwähler schlicht nicht akzeptabel. Hinzu kam, dass die Medien tiefe Zweifel daran nährten, ob die Linkspartei wirklich mit ihrer kommunistischen Vergangenheit ins Reine gekommen sei.

In ihrer langen Geschichte waren die Sozialdemokraten in Schweden immer in der Lage, den Wählern zwei Dinge plausibel zu erklären: warum eine egalitäre Gesellschaft für die Wirtschaft gut ist, und wie die Steuern, die die Bürger bezahlen, direkt der Qualität des öffentlichen Sektors zugute kommen. Im Wahlkampf dieses Jahres sind sie in beiden Punkten gescheitert.

Der Grund dafür war nicht ein schlechter Wahlkampf, der Grund war das Fehlen politischer Erneuerung. Hoffentlich kann dies eine nützliche Lektion für andere Parteien der linken Mitte sein: Bleibt bloß nicht in eurer Wohlfühlecke stecken, solange ihr in der Opposition seid! Tatsächlich sind die schwedischen Sozialdemokraten nie gut darin gewesen, sich aus der Opposition heraus zu erneuern. Sie sind seit jeher gut darin, sich in der Regierung zu erneuern. Aber das ist jetzt leider keine Option. «  


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