Darwinismus in der Politik
Bei allem Fortschritt in Sachen modernes Management und Verhandlungsführung neigt man leicht dazu, diese Grundtatsache zu übersehen.
Ein schönes Lehrstück in Sachen „Politik durch natürliche Auslese“ war die Schlussberatung für den Entwurf des neuen SPD-Grundsatzprogramms an einem regnerischen Samstag vor ein paar Monaten im Berliner Willy-Brandt-Haus. Als assoziiertes Mitglied der Programmkommission ohne Stimmrecht war ich gespannt auf die Meinungsbildungsprozesse dieser großen, modernen Partei im sechsten Stock eines großen, modernen Gebäudes.
Glasige Augen vor Erschöpfung
An der Schlussberatung nahmen die gesamte Programmkommission und eine stattliche Zahl von Parteimitarbeitern teil – eine Gruppe von rund 100 Personen. Die Veranstaltung begann um 10 Uhr morgens und sollte bis 21 Uhr am Abend dauern. Am nächsten Tag sollte es weitergehen. Eine Pause gab es nicht.
Nur Menschen, die vor Erschöpfung glasige Augen bekamen. Oder – wie ich – die Veranstaltung vorzeitig verließen. Noch bevor das Kapitel aufgerufen wurde, für das ich in einer Arbeitsgruppe zuständig gewesen war. Denn, wie man sich schon vorher hätte denken können: Es verschob sich alles nach hinten.
Jede der 100 Personen konnte sich jederzeit zu allen Punkten äußern. Mal wollte einer einen Satz streichen, mal eine andere irgendetwas einfügen. Mal überschlug sich eine Stimme vor Aufregung und Empörung, dafür gab es dann besonderen Beifall. Manche Berichterstatter sprachen zu einer einzigen Seite im Programm 20 Minuten lang. Mein fehlendes Stimmrecht störte mich kaum, denn abgestimmt wurde gar nicht. Die Redaktionsgruppe versprach, die einander häufig widersprechenden Anregungen im Sinne der Gesamtpartei und der in ihr vertretenden Gremien aufzunehmen.
Bockwurst und Streuselkuchen
Für Essen war gesorgt. Auf den Tischen standen Obstteller, mittags wurden Bockwurst mit Kartoffelsalat und Streuselkuchen gereicht. Auch die Raucher fühlten sich wohl. Aschenbecher standen überall zur freien Verfügung bereit. Der Genosse am Tisch hinter mir zum Beispiel schaffte eine Zigarettenquote von ungefähr vier pro Stunde. So stieg im Laufe des Nachmittags nicht nur der Nebel in den Köpfen, sondern auch der im Saal. Um fünf Uhr war das Präsidium um Generalsekretär Hubertus Heil von meinem Platz aus nur noch schemenhaft auszumachen.
Gerne hätte ich ihm durch den Dunst meine Meinung zur Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zugerufen. Aber da war ich schon zu ermattet von der Diskussion über die Demokratie in der Sozialen Demokratie. Über den globalen Kapitalismus und unsere sozialdemokratischen Schwächen. Oder war es die Zukunft des demokratischen Sozialismus? Die hinzugeladenen Experten bröckelten langsam ab. Immerhin war Wochenende. Übrig blieben die Nebelmaschinen. Als ich nach acht Stunden ging, steckte sich ein eifriger Genosse gerade die nächste Kippe an. Mir liefen die Tränen. Das ist Politik.