Das Dilemma der Raketenabwehr
Trokavec ist ein verschlafenes Nest irgendwo in Böhmen, nicht weit von Pilsen. Es wäre für den Rest der Welt nicht weiter wichtig zu wissen, wo genau Trokavec liegt, stünde es nicht im Mittelpunkt der derzeit hitzig geführten Debatte um das amerikanische Missile-Defense-Programm, die manchen Beobachter an längst vergangene Zeiten des Kalten Krieges erinnert.
Die Vereinigten Staaten sind fest entschlossen, ein Raketenschild gegen Interkontinentalraketen aufzubauen, die von unberechenbaren „Schurkenstaaten“ abgefeuert werden könnten. Ein Militärstützpunkt nahe Trokavec wäre, so haben es Pentagon-Experten genau berechnet, der ideale Standort für eine wesentliche Komponente des europäischen Teils der Raketenabwehr: ein hochauflösendes X-Band-Radar. Dieses soll anzeigen, wenn in Iran eine ballistische Rakete abgefeuert wird.
Den Dorfbewohnern selbst ist das Vorhaben suspekt. Das Ergebnis eines Referendums im Frühjahr war deutlich: 88 Wahlberechtigte, 71 abgegebene Stimmen, davon 70 gegen die Radaranlage. So berichteten es die Medien. Aber entschieden wird woanders, das wissen auch die Einwohner von Trokavec.
Der zweite europäische Standort des Abwehrschildes ist in Polen vorgesehen. Dort ist die Stationierung jener zehn Abfangraketen geplant, die im Ernstfall, wenn das Radar den Anflug feindlicher Flugkörper gemeldet hat, die gegnerischen Sprengköpfe hoch oben in den Umlaufbahnen zerstören sollen.
Seit amerikanische Offizielle in Prag und Warschau erste Gespräche über die Nutzung der Stützpunkte geführt haben und Präsident Bush in beiden Ländern sogar persönlich für sein Vorhaben warb, beherrschen die Pläne der Amerikaner die Schlagzeilen und sorgen auf internationalen Tagungen für Kontroversen.
Während Europa noch diskutiert, schaffen die USA Fakten. Die Vorstellung, es ginge um eine ergebnisoffene Debatte darüber, ob ein Raketenschild eine sinnvolle Antwort auf die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und Trägermittel in der Hand zweifelhafter Regime ist, geht an der Realität vorbei. Denn Amerika ist längst über das Planungsstadium hinaus. Die Raketenabwehr ist beschlossene Sache, erste Teile des Systems sind bereits in Betrieb.
Im Anfang war Reagan
Die Radaranlage in Tschechien und das Raketensilo in Polen sind nur zwei Bausteine eines weltweit vernetzten Abwehrschildes, das, beginnt man die Zeitrechnung bei der Strategic Defense Initiative (SDI) Ronald Reagans, schon einen 25-jährigen Vorlauf hat. Reagan hatte Anfang der achtziger Jahre mit der Idee polarisiert, ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem zu schaffen, um die Vereinigten Staaten mit einem gigantischen technischen Aufwand vor sowjetischen Raketen zu schützen. Während die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung am erhofften Innovationsschub partizipieren wollte und im Jahr 1986 zwei Regierungsabkommen mit den Vereingten Staaten schloss, sprach sich die SPD gegen eine deutsche Beteiligung aus. Westeuropa blieb mehrheitlich skeptisch.
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes verschwand das ambitionierte SDI-Projekt aus den Schlagzeilen. Ein Abwehrsystem gegen sowjetische beziehungsweise russische Atomraketen erschien plötzlich anachronistisch. Auch war mittlerweile deutlich geworden, dass Reagans Vorstellungen an technische Grenzen stießen. Die Clinton-Regierung führte das Programm auf Sparflamme weiter, so dass bis Mitte der neunziger Jahre insgesamt 30 Milliarden Dollar dafür ausgegeben worden waren. Dennoch blieb ein funktionierendes Abwehrsystem gegen feindliche Interkontinentalraketen zunächst nur eine Vision.
Wo sich Radikalismus und Technologie treffen
Mit Besorgnis registrierten die Vereinigten Staaten allerdings das Streben einer Reihe von „Risikostaaten“ (Irak, Iran, Nordkorea, Libyen) nach Raketentechnik und Massenvernichtungswaffen. Mitte der neunziger Jahre befasste sich eine überparteiliche Kommission unter Vorsitz von Donald Rumsfeld mit dieser Entwicklung. In ihrem Abschlussbericht stellte sie 1998 fest, Amerika sei gut beraten, Gegenmaßnahmen zu ergreifen – auch in Form einer technischen Raketenabwehr.
Bill Clinton erhöhte die Mittel für die Raketenverteidigung, verfolgte das Projekt ansonsten aber nicht sehr enthusiastisch weiter. Schließlich vertagte er die Entscheidung über den Aufbau eines Raketenabwehrschildes kurz vor Ende seiner Amtszeit im Sommer 2000 und überließ sie seinem Nachfolger. George W. Bush plädierte schon im Wahlkampf für ein umfassendes Missile-Defense-Programm und forcierte das Projekt nach seinem Wahlsieg und vor allem nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2002 unterstreicht die Entschlossenheit des derzeitigen Präsidenten und stellt dem Abschnitt zur Gefährdung der Vereinigten Staaten durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ein kämpferisches Statement von Georg W. Bush voran: „Die größte Gefahr für die Freiheit liegt an der Schnittstelle von Radikalismus und Technologie. Wenn die Verbreitung von chemischen, biologischen und nuklearen Waffen, gepaart mit der Technologie für ballistische Flugkörper – wenn dies stattfindet, könnten sogar schwache Staaten und kleine Gruppen die katastrophale Macht erlangen, große Nationen anzugreifen. Unsere Feinde haben eben diese Absicht erklärt und wurden bei dem Versuch ertappt, sich solche schrecklichen Waffen zu beschaffen. Sie wollen in der Lage sein, uns zu erpressen oder uns oder unseren Freunden Schaden zuzufügen – und wir werden uns ihnen mit aller Macht widersetzen.“
Seither haben die Vereinigten Staaten weitere Milliarden Dollar ausgegeben – allein im Haushaltsjahr 2008 beträgt das Budget nahezu neun Milliarden Dollar, und bis 2013 sind weitere 50 Milliarden Dollar eingeplant. Sie haben mit wechselndem Erfolg Tests durchgeführt, den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen gekündigt und mit dem Aufbau von Radaranlagen und Raketensilos begonnen. Es ist kaum zu erwarten, dass die Europäer das Vorhaben werden stoppen können, das für das Selbstverständnis Amerikas nach dem 11. September steht, alles zu unternehmen, um gegen jede Gefahr gewappnet zu sein.
Die ersten Raketen sind schon stationiert
Schon heute sind auf zwei Raketenbasen in Alaska (Fort Greely) und Kalifornien (Vandenberg) Abfangraketen (Ground Based Interceptors (GBI)) stationiert. Hinzu kommen Radaranlagen in Japan, auf der Aleuteninsel Shemya, in North Dakota, in Großbritannien und in Thule (Grönland). Von dort aus überwachten die Vereinigten Staaten schon zu Zeiten des Kalten Krieges die Nordhalbkugel. Im Jahr 2004 wurde mit Dänemark ein Abkommen geschlossen, den Stützpunkt Thule in die Raketenabwehr einzubinden. Leitstellen in Nordamerika sowie seegestützte Komponenten und Aufklärungssatelliten ergänzen das Gesamtsystem.
Die Anlagen rund um den Pazifik sollen die Vereinigten Staaten vor möglichen nordkoreanischen Raketenangriffen schützen. Obwohl ungewiss ist, ob das Abwehrsystem im Ernstfall zuverlässig funktioniert, hat es seine erste Alarmierung bereits erlebt. Als das nordkoreanische Militär im Juni 2006 Raketen testete, wurde die pazifische Missile Defense-Komponente vorsorglich aktiviert. Viel zu tun bekam das System allerdings nicht: Die nordkoreanische Taepodong-2-Rakete, von der gemutmaßt worden war, sie könne Alaska und Hawaii erreichen, stürzte kurz nach dem Start ins Japanische Meer.
Das politische Ziel des gesamten Systems ist es, ein Schutzschild gegen eine begrenzte Zahl gleichzeitig anfliegender Interkontinentalraketen zu schaffen. Sicherheit für das homeland soll die Unbedrohbarkeit und Unerpressbarkeit der Vereinigten Staaten garantieren. Aufgrund der vermeintlichen Unverwundbarkeit des eigenen Territoriums können die Amerikaner auch diejenigen Akteure uneingeschränkt angreifen, die mit Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln drohen.
Die Nato darf diskutieren
Der Schutz des Staatsgebietes der Vereinigten Staaten ist auch das vorrangige Ziel der jetzt so vehement diskutierten Erweiterung des Raketenschildes in Europa. Amerikanische Fachleute prognostizieren, Iran könnte ab dem Jahr 2015 über einsatzbereite Interkontinentalraketen mit Nuklearsprengköpfen verfügen. Deshalb sollen die Radar- und Raketenstellungen in Mitteleuropa ab 2011 oder 2012 in der Lage sein, einen möglichen Angriff Irans mit ballistischen Raketen abzuwehren.
Dass der Raketenabwehrschirm dann auch Raketen stoppen könnte, die auf europäische Ziele gerichtet sind, ist eher ein Nebeneffekt, wenngleich die Amerikaner mit diesem Argument bei ihren Verbündeten werben. So erklärte der Direktor der Missile Defense Agency, General Henry Obering, bei einem Berlin-Besuch im März 2007, die Vereinigten Staaten sähen es als „Pflicht“ an, auch ihre Verbündeten vor dieser Gefahr zu schützen.
Der amerikanische General verdeutlichte allerdings, dass sein Land wenig Neigung verspürt, sich in sein unilaterales Großprojekt hineinreden zu lassen. Die Vereinigten Staaten, so Obering, seien zwar „nicht abgeneigt“, die Nato in die Planungen einzubeziehen. Um aber keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, fügte er hinzu: „Wir fürchten, dass ein formaler Beschluss der Nato das Projekt verzögern wird.“ Die Nato wird informiert, darf diskutieren, aber das war’s dann auch – so lässt sich die amerikanische Position zusammenfassen.
Neu ist die Debatte keineswegs
Die US-Führung untermauert ihre Argumentation mit dem Hinweis, dass in Polen Abfangraketen stationiert werden sollen, bei denen im Gegensatz zu den Ground Based Interceptors in Alaska und Kalifornien auf eine der drei Antriebsstufen verzichtet wird. So würden sich auf Europa gerichtete Raketen besser abwehren lassen. Ein Praxistest dieser Abfangraketen steht allerdings noch aus. Zudem seien die Orte für Radare und Raketen das Resultat exakter Messungen der möglichen Flugbahnen iranischer Raketen, politisches Kalkül habe keine Rolle gespielt. So viel Altruismus lässt in Europa Skepsis aufkommen.
Neu ist die Raketendebatte keineswegs, sie wird weltweit geführt, seit die Vereinigten Staaten entschieden haben, eine eigene Raketenabwehr aufzubauen. Auch die ablehnende Haltung Russlands ist seit Jahren bekannt. Die Debatte hat sich verschärft, weil das Vorhaben in Europa jetzt in die konkrete Phase der Umsetzung eingetreten ist. Mancher Widerspruch mag deshalb so heftig ausgefallen sein, weil die Kontroversen der letzten Jahre keinen erkennbaren Einfluss auf die amerikanische Position hatten. Nach wie vor ist man in Washington entschlossen, Missile Defense als nationales Projekt zu verwirklichen und sich Unterstützung, wo sie benötigt wird, durch bilaterale Abkommen zu sichern.
Lieber mit den „neuen“ Europäern
Das Vorgehen erinnert an die Zeit vor dem Irak-Krieg, als die Vereinigten Staaten schon einmal auf eine Koalition der Willigen gesetzt und eine Spaltung des Bündnisses in Kauf genommen haben. Die Unterscheidung zwischen old und new Europe ist noch in Erinnerung. Vier Jahre später erwecken die USA erneut den Eindruck, lieber bilateral mit den neuen Europäern zusammenarbeiten zu wollen, statt sich um eine gemeinsame Nato-Strategie zu bemühen. Missile Defense spaltet die Bündnisse, sowohl die EU als auch die Nato, in eine Gruppe von Ländern, die den Vereinigten Staaten Schützenhilfe leisten, und in eine Gruppe von Multilateralisten, die Bündnisbeteiligung und ein gemeinsames Vorgehen fordern. Dies erklärt, weshalb die bei unseren östlichen Nachbarn geplanten Missile Defense-Komponenten zu emotionalen Debatten führen, während von der Integration der bestehenden Radarstationen in Thule und im britischen Fylingdales in das Radarnetz des Raketenschildes kaum jemand Notiz genommen hat.
Nicht zuletzt spielt die politische Geografie für die russische Haltung eine zentrale Rolle. Auch wenn die bipolare Weltordnung Vergangenheit ist, lässt sich das unter Wladimir Putin nach neuem Selbstbewusstsein strebende Russland ungern neueste US-Technik vor die Haustür setzen. Russland, dank hoher Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas gestärkt, will wieder als globaler Akteur wahrgenommen werden – und nicht als schwankender Transformationsstaat, der auf Hilfe von außen angewiesen ist.
Russische Generäle und Regierungsoffizielle registrieren mit Unbehagen, dass sich die Nato bis an die russischen Grenzen ausgedehnt hat und die Vereinigten Staaten im Kaukasus und in Zentralasien zunehmend präsent sind. „Nicht nur bei unverbesserlichen Stalinisten verfestigt sich der Eindruck einer Umzingelungsstrategie, die darauf abzielt, Russland den Großmachtstatus zu verweigern“, schreibt der Politologe Harald Müller.
Dafür, dass sich das Raketenschild nicht gegen Russland richtet, spricht allerdings die Technik. Einen vollständigen Schutz vor dem russischen Nuklearpotenzial böte die Missile Defense nicht einmal annährend. In Moskau wird jedoch befürchtet, dass das System – hat es seine Funktionsfähigkeit erst einmal unter Beweis gestellt – ausgebaut werden und sich das strategische Gleichgewicht zuungunsten Russlands verschieben könnte.
Warum Russland nicht gelassen bleibt
Der Nachrichtenagentur Novosti sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow im Februar dieses Jahres: „Jedes dieser zu bauenden Objekte allein hat in militärstrategischer Hinsicht keine allzu große Bedeutung. Aber die Zahl der Objekte nimmt zu. Die Pläne werden umfangreicher, und das können wir nicht außer Acht lassen. Wir können uns nicht gelassen verhalten, da manch einer in einigen Jahren der Versuchung nicht widerstehen wird, dieses System gegen Russland anzuwenden.“
Trotz aller Bekenntnisse, mit Russland offen über die eigenen Pläne reden zu wollen, hat die amerikanische Seite selbst zur Verunsicherung beigetragen. Zwar solle das X-Band-Radar in Tschechien nicht zur Überwachung russischer Nukleararsenale eingesetzt werden, wie die Amerikaner versichern. Gleichwohl ist das gesamte System modular aufgebaut. Es bleibt technisch möglich, das Radar auf andere Bandbreiten und Einsatzradien umzustellen. Die Vereinigten Staaten deuten diese Möglichkeit bewusst an: „Dass wir derzeit Systeme potenziell nur in Tschechien und Polen errichten werden, bedeutet nicht, dass die Architektur der Gesamtabwehr sich auf anderen Wegen im Laufe der Zeit nicht verändert und entwickelt. Wir arbeiten daran mit einer Reihe von Staaten. Dies ist ein globales Projekt“, formulierte ein US-Außenamtssprecher im Februar mehrdeutig. Die Welt kommentierte: „Die USA zeigen ihr Blatt verdeckt, aber unmissverständlich.“
Bloß keine „Spirale des Misstrauens“!
Vermutlich ist es weniger die militärische, als vielmehr die politische Wirkung des Vorhabens, die die Militärs in Moskau beunruhigt. Präsident Putin ist offenbar entschlossen, am Beispiel der Raketenabwehr zu demonstrieren, dass sein Land als einflussreicher und mächtiger Akteur seine eigenen Interessen zu verteidigen weiß – auch im Konflikt mit den Vereinigten Staaten und der Nato. Russland, heißt es im Berliner Tagesspiegel, „will sich provoziert fühlen.“
Es liegt im deutschen Interesse, dass es zu keiner „Spirale des Misstrauens“ (Frank-Walter Steinmeier) zwischen dem Westen und Russland kommt. Stabilität in Europa kann es nicht gegen Russland geben. Dabei geht es weder um Äquidistanz, noch darum, für jede russische Haltung Verständnis aufzubringen. „Russland-Bashing“, wie es gelegentlich in der innenpolitischen Debatte in gewollter Abgrenzung zur Ostpolitik des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu beobachten ist, hilft allerdings ebenso wenig weiter. Gefragt ist ein ernsthafter Dialog.
In der Zeitschrift Internationale Politik mahnte Frank-Walter Steinmeier jüngst: „Strategien des ‚containment‘, des indifferenten Nebeneinanders oder der nur selektiven Kooperation mit Russland, wie sie mitunter als Rezept für den Umgang mit einem außenpolitisch selbstbewussten, manchmal sehr eigenwillig auftretenden Russland empfohlen werden, sind jedenfalls nicht im europäischen Interesse.“
Auch Kritiker des geplanten Raketenabwehrsystems bestreiten nicht, dass das Streben Irans nach Raketen mit größerer Reichweite Anlass zur Sorge bereitet. Selbst Russland dürfte über eine unberechenbare Atommacht in seiner südlichen Nachbarschaft wenig erfreut sein. Unterschiedliche Auffassungen bestehen jedoch in der Frage, wie auf solche Entwicklungen reagiert werden sollte. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der gemeinsamen Sicherheit in Europa und im transatlantischen Raum besser gedient ist, wenn multinational, in bewährten Bündnissen gehandelt wird und nicht unilateral, nicht im Konflikt mit jenen, die wir besser mit an Bord hätten, um den neuen Herausforderungen angemessen begegnen zu können.
Sicherheit ist nicht „messbar“
Sicherheit ist keine technische Kategorie, sie ist nicht „messbar“. Bedeutet ein gegen alle Bedenken durchgesetztes Raketenabwehrsystem mehr Sicherheit für die Vereinigten Staaten? Oder würde der Zuwachs an Sicherheit durch die Verschlechterung des Klimas zwischen den Vereinigten Staaten und Russland neutralisiert?
Deutschland sollte sich aktiv dafür einsetzen, dass die amerikanischen Raketenabwehrpläne in eine Nato-Gesamtkonzeption eingebettet werden. Die Nato vereinigt das gemeinsame transatlantische Sicherheitsinteresse und verfügt über institutionalisierte Gesprächsforen mit Russland – ein besserer Ort für diesen strategischen Dialog ist kaum vorstellbar. Zumal es innerhalb der Nato Anknüpfungspunkte gibt. So hat das Bündnis vor fünf Jahren in Prag eine Machbarkeitsstudie zur Raketenabwehr (Missile Defence Feasibility Study) in Auftrag gegeben. Der Gipfel in Riga (2006) hat ergänzende Untersuchungen beschlossen, auch zur Frage der Einbeziehung Russlands. Die Ergebnisse sollen beim nächsten Treffen der Staats- und Regierungschefs der Nato in Bukarest im April 2008 vorliegen. Es wäre ein gutes Signal der Vereinigten Staaten, aber auch der Nato-Mitglieder Polen und Tschechien, vor weiteren Entscheidungen die Diskussion in der Nato und den Bukarester Gipfel abzuwarten. Auch das russische Angebot, ein gemeinsames Radar in Aserbaidschan zu betreiben, könnte bis dahin sorgfältig und unter Beteiligung der Europäer geprüft werden.
Die Schutzwirkung wird begrenzt bleiben
Unabhängig davon, ob die Vereinigten Staaten die Raketenabwehr als unilaterales oder als Nato-Vorhaben weiterverfolgen, wird die Schutzwirkung des Abwehrschildes begrenzt bleiben – trotz des Milliardenaufwandes. Da wir davon ausgehen müssen, dass die Gegner der Zukunft nicht in jedem Fall so rational handeln werden, wie es einst die „berechenbare“ Sowjetunion tat, muss das System hundertprozentig funktionieren. Erreicht auch nur eine ballistische Rakete eines „irren“ Diktators ihr Ziel, hat das System versagt.
Im best-case-Szenario werden „Schurkenstaaten“ angesichts der amerikanischen Raketenabwehrfähigkeit auf Hochrüstung verzichten. Sie könnten ihre Aktivitäten aber auch erst recht verstärken. Denn je mehr Raketen abgeschossen werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass nicht alle gestoppt werden.
Auf eine weitere Fehlkalkulation wies der amerikanische Publizist Edward Luttwak in der Frankfurter Allgemeinen hin: „Strategie ist nicht gleich Technik. Man wendet sie nicht an auf unbelebte Technik, sondern auf denkende Gegner, die reagieren. Wenn die ‚Sorgenstaaten‘ der Zukunft über nukleare Waffen und Interkontinentalraketen verfügen, würden sie angesichts einer Raketenabwehr nicht einfach aufgeben. Wären sie entschlossen, die Vereinigten Staaten anzugreifen, würden sie stattdessen auf ein verdecktes Absetzen der Flugkörper bauen. So kann etwa der amerikanische Zoll nur einen Bruchteil jener Container durchsuchen, die täglich in amerikanischen Häfen umgeschlagen werden.“
Wäre ein Mitglied der „Achse des Bösen“ wild entschlossen, den Vereinigten Staaten maximalen Schaden zuzufügen – würde es dann so lange warten, bis es über Interkontinentalraketen verfügt, gegen die die USA ein Schutzsystem aufbauen? Oder würde dieses Land andere Wege suchen, etwa Terroristen unterstützen oder Regionalkonflikte eskalieren lassen?
Gegen viele der neuen Bedrohungen helfen ohnehin keine Radare im Beringmeer, keine Raketensilos in Nordostpolen. Terroristen, die einreisen, um Anschläge zu verüben oder radikalisierte islamistische Jugendliche in den Vorstädten europäischer Metropolen benötigen keine Interkontinentalraketen.
You don’t make peace with friends
Der technische Fortschritt wird politisches Handeln nicht ersetzen können. Schutzschilde gegen Raketen aus dem Orbit mögen hilfreich sein; ohne eine aktive Politik gegen die Weiterverbreitung von Raketentechnologie (und Massenvernichtungswaffen) wird sich das Problem aber nicht lösen lassen. Erfolge sind gerade im Umgang mit rogue states nicht ohne schwierige Verhandlungen, oftmals nicht ohne Rückschläge zu erreichen. Für die Entschärfung internationaler Konflikte gilt aber, was Yitzhak Rabin einst feststellte: „You don’t make peace with friends. You make it with very unsavory enemies.“
Auf diese Weise wurde beispielsweise Libyen aus der Liga der Atomaspiranten und aus dem Club der Freunde des islamistischen Terrors herausverhandelt. Das war mühsam. Aber dies ist der Weg, der am meisten Erfolg verspricht. Auch für Nordkorea und Iran.