Das Ende der alten Zeitungsindustrie
Dieser Fall sorgte weltweit für Schlagzeilen: Anfang Mai 2013 wurden mehrere Frauen aus einem Haus in Cleveland/Ohio befreit, die zehn Jahre zuvor gekidnappt worden waren. Im Anschluss war es insbesondere die örtliche Lokalzeitung The Plain Dealer, die wertvolle Recherchen zu den Hintergründen der Entführung leistete. Aber nur einen Monat später hatten fast alle mit dem Fall betrauten Kriminalreporter im Zuge einer massiven Verkleinerung des „Newsroom“ ihren Job verloren. The Plain Dealer ist Teil des Medienkonzerns Advance Publications, der seit 2012 eine Strategie verfolgt, die Kritiker als schrittweise Liquidierungskampagne bezeichnet haben: Es gibt Massenentlassungen; die Print-Ausgabe wird an Abonnenten nur noch an drei Tagen pro Woche ausgeliefert; der Fokus liegt auf einer zentralisierten und boulevardisierten Webseite. Bereits im vergangenen Jahr hatte Advance Publications den Verkauf der renommierten Times Picayune in New Orleans auf drei Tage in der Woche reduziert. Somit wurde der noch immer unter den Spätfolgen der Hurricane-Katastrophe von 2005 leidenden Gemeinde die traurige Ehre zuteil, Amerikas erste Großstadt ohne tägliche Zeitung zu werden. Zwar hat der Konzern das „Newhousing“ seiner 35 Zeitungstitel (in Anlehnung an Advance-Chairman und Multimilliardär Si Newhouse) wieder schrittweise zurückgefahren und bietet sie zumindest am Kiosk mittlerweile wieder täglich an. Jedoch hat die Qualität der Berichterstattung enorm gelitten. Anstelle wertvoller Hintergrundberichte über das lokale Schul- und Gesundheitswesen oder Korruption in der Kommunalpolitik müssen die Leser mit pseudo-journalistischen Rezensionen örtlicher Fastfood- und Restaurantketten vorlieb nehmen.
David Simon, der Erfinder der legendären amerikanischen Erfolgsserie The Wire und ehemaliger Polizeireporter, hat in den vergangenen Jahren immer wieder die dramatischen Folgen des Zeitungssterbens in den Vereinigten Staaten beim Namen genannt. Angesichts der Schließung ganzer Ressorts und der Halbierung von Redaktionen kann man nicht mehr von einem Strukturwandel der Öffentlichkeit reden – es handelt sich um das komplette Verschwinden gesellschaftlicher Teilöffentlichkeiten. Häufig wiederholt Simon das Beispiel, dass es in seiner Heimatstadt Baltimore lange Zeit offenbar keinen einzigen Journalisten gab, der die nötigen Ressourcen hatte, um die Öffentlichkeit umfassend über Kriminalität und Polizeikorruption zu informieren.
Nicht mal mehr der Verlag des Time Magazine findet noch einen Käufer
Dass Regional- und Lokalzeitungen per se keineswegs kurz vor dem sprichwörtlichen Tod stehen, wird dabei häufig vergessen. Zwar haben alle Titel der Advance-Gruppe in den vergangenen Jahren an Auflage und Anzeigenerlösen verloren. Die Mehrzahl allerdings operiert nach wie vor profitabel. Das Problem für die Besitzer, CEOs und Aktionäre ist, dass sie nach der Logik von Shareholder Value und Gewinnmaximierung nicht mehr profitabel genug sind. Redaktionen und Journalistengehälter schrumpfen nicht etwa, weil es keinen Markt mehr für Regionalzeitungen gibt, sondern weil sich nur so die exorbitanten Gehälter der Verlagsmanager aufrechterhalten lassen, die aus einer Zeit stammen, in denen Zeitungen noch hohe Gewinne generierten. Die Gannett Company etwa, das noch immer größte Zeitungshaus der USA, hat in den vergangenen Jahren tausende Mitarbeiter auf die Straße gesetzt, während Firmenchef Craig Dubow Boni in Millionenhöhe einstrich.
Anders sieht es bei den überregionalen Traditionstiteln aus. Die jüngst an Amazon-Gründer Jeff Bezos verkaufte Washington Post hat in der vergangenen Dekade rund 100 000 Abonnenten verloren und hunderte Millionen Dollar Verlust gemacht. Zwei von Rupert Murdochs einflussreichsten Titeln, die New York Post und die Londoner Times, sind seit geraumer Zeit Millionengräber – letztere verlor zwischen 2002 und 2012 mehr als 270 000 Leser. Die Aktionäre des Mutterkonzerns News Corp. zeigten sich deshalb im vergangenen Juni mehr als erleichtert, als der zunehmend greise und störrisch wirkende Zeitungsromantiker Murdoch sich endlich dazu drängen ließ, die defizitäre Printsparte vom hochprofitablen Film- und Fernsehgeschäft abzuspalten und in ein eigenständiges Unternehmen zu überführen. Anfang September nun folgte die Ankündigung, 33 amerikanische Lokalzeitungen an die Fortress Investment Group abzustoßen.
Düster gestaltet sich die Lage auch auf dem internationalen Zeitschriftenmarkt. Der Medienkonzern Time Warner hatte Anfang dieses Jahres vergeblich versucht, den renommierten, jedoch kriselnden Time Inc. Verlag zu verkaufen. Nachdem der einzige Interessent – ein auf Frauenmagazine spezialisierter Verlag aus Iowa – schließlich Abstand von einem Kauf nahm, blieb Time Warner nichts anderes übrig, als den Verlag ebenfalls vom Mutterkonzern abzukoppeln. Wenn der Verlag der drei wohl berühmtesten Zeitschriften der Welt – Time Magazine, LIFE und Sports Illustrated – keinen Käufer mehr findet, wie schlecht muss es dann um die gesamte Branche stehen?
Eine Zeitung ohne Journalisten als Beitrag zur Medienvielfalt?
Das dachte sich wohl auch Springer-Chef Mathias Döpfner, der im Aufsichtsrat von Time Warner sitzt. Er entschloss sich dazu, einen Großteil von Springers Zeitungs- und Zeitschriftensegment zu verkaufen. Dass die Springer-Blätter ausgerechnet an die Funke-Mediengruppe gingen, die einen signifikanten Teil ihres Umsatzes mit komplett erfundenen Klatsch-Blättern macht, wurde hierzulande zu Recht als Schlag ins Gesicht der Journalismusbranche gewertet. Die Vehemenz, mit der der ehemalige WAZ-Konzern in den Redaktionen seiner Lokalzeitungen gewütet hat, steht den Entlassungswellen der amerikanischen Gannett- und Advance-Konzerne in nichts nach. Was genau die Funke-Gruppe mit den neuen Titeln im Portfolio bezweckt, kann nur gemutmaßt werden. Der Konzern hat es bisher selbst nicht geschafft, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man mit gedruckten Zeitungen in Deutschland noch Geld verdienen kann. Erst Anfang des Jahres entschied die Mediengruppe, die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau zu entlassen und das traditionsreiche Blatt mit Texten und Fotos anderer Medien zu bestücken. Ziel sei es, „die Westfälische Rundschau zu erhalten und damit die Medienvielfalt in dem Verbreitungsgebiet sicherzustellen“, so die WAZ-Mediengruppe in einer Pressemitteilung vom 15. Januar. Eine Zeitung ohne Journalisten als Beitrag zur Medienvielfalt? Was den betroffenen Redakteuren nur wie Zynismus vorkommen kann, ist ein Beleg fundamentaler Hilflosigkeit. Das drittgrößte Verlagshaus Deutschlands hatte nie eine Strategie, den fundamentalen Veränderungen, die sich aus der Digitalisierung von Informationen für die Finanzierung, Produktion und Vermarktung von Journalismus ergeben, mit anderen Mitteln als Redaktionszusammenlegungen und Entlassungen zu begegnen. Damit steht Funke nicht allein.
Natürlich ist die Digitalisierung längst in den großen Verlagshäusern angekommen. So kommt es, dass einige Zeitungen, ihre Online-Ausgaben eingerechnet, mehr Leser erreichen als je zuvor. Doch nirgendwo ist es bisher gelungen, diese Reichweiten zu monetarisieren und die Verluste bei den Vertriebserlösen und im Anzeigengeschäft durch zusätzliche Einnahmen im Netz zu kompensieren. Für kosten- und personalintensive Segmente wie den Lokal- und Auslandsjournalismus, für Arbeitsweisen wie investigativen Journalismus, aber auch für Ausstattung, Ausbildung und Innovation werden die Mittel knapper. Die publizistische Meinungsvielfalt leidet, wenn im Kräftespiel mit einem zusehends wachsenden Feld professionalisierter PR der vielerorts unter strengen Sparvorgaben und Wettbewerbsdruck stehende Journalismus ins Hintertreffen gerät. Auf vielen anderen Märkten, darunter in Frankreich, wo France Soir und La Tribune eingestellt wurden, aber auch in England, Japan oder Spanien, bietet sich ein ähnliches Bild.
In vielen Fällen hat grobes Missmanagement dazu beigetragen, den Niedergang der Zeitungsindustrie zu beschleunigen. Viele Zeitungen befinden sich derzeit am Ende einer Abwärtsspirale, an deren Anfang keineswegs die vielzitierte „Kostenloskultur“ und die Bereitstellung sämtlicher Inhalte im Netz stand, sondern das Unvermögen, sich verändernden Erwartungen und Mediennutzungsmustern der Konsumenten zu stellen, wie sie nicht zuletzt im Internet ihren Ausdruck finden. So ließen sich eine Reihe von Anzeichen für Konsolidierungs- und Abwärtstrends im Zeitungsgeschäft, ebenso wie Veränderungen im Nutzungsverhalten und abnehmende Zeitungsverbreitung bereits in den achtziger Jahren beobachten – zu einer Zeit, in der die Nachrichtenagenturen, Rundfunkanbieter und Verlage ein De-facto-Monopol über die Selektion, Aufbereitung und massenmediale Verbreitung von Nachrichten hatten und Zeitungshäuser hochprofitable Unternehmen waren. In den „multi-media-saturierten Gesellschaften“ (John Keane) der Gegenwart konkurrieren die Verlage plötzlich nicht nur mit anderen, früher auf verschiedenen Vertriebskanälen operierenden Medienorganisationen, sondern auch mit unzähligen neuen Anbietern um die Aufmerksamkeit der Rezipienten: Blogs, Suchmaschinen und Nachrichten-Aggregatoren wie Google sowie Facebook und Twitter. Entsprechend verschieben sich die Einnahmeanteile der Mediengruppen, erodiert die historisch gewachsene Erlösstruktur des Journalismus aus Anzeigenvermarktung und Vertrieb. Das Schema ist stets dasselbe: Auf die sinkenden Erlöse der Printausgaben wird mit Verkleinerungen der Redaktion bei gleichzeitiger Erhöhung des Verkaufspreises der Printausgabe geantwortet. Wenn sich Zeitungen nach Jahren der Stagnation endlich zu einer Paywall durchringen, hat die journalistische Qualität der Zeitung meistens derart gelitten, dass nur wenige bereit sind, für ein kostenpflichtiges Abo zu zahlen. Die Leserschaft geht weiter zurück.
Der Niedergang der Washington Post
Die Washington Post ist ein Lehrstück für einen fatalen Mix aus Auflagenrückgängen durch veränderte Lesergewohnheiten, groben Managementfehlern und einem schleichenden journalistischen Qualitätsverlust. So wurden im September 2010 erstmals großflächige Anzeigen auf der Titelseite geschaltet – Zeitungspuristen gilt die erste Seite als heilig. Lokale investigative Recherchen konnte sich die „Post“ da schon längst nicht mehr leisten. Die Zeiten, in denen Chefredakteur-Legende Len Downie eine Reportage über unfaire Häuserkredite für verarmte Afroamerikaner veröffentlichte, die der Washington Post über eine Million Dollar an Werbegeldern der Immobilienindustrie kostete, sind definitiv vorbei. Vermutlich aus Finanznöten kam Herausgeberin Katharine Weymouth im Jahr 2009 auf die Idee, in ihren eigenen vier Wänden so genannte „salons“ zu veranstalten. Politikern und Lobbyisten sollte die Möglichkeit gegeben werden, gegen Bezahlung (25 000 bis 250 000 Dollar) mit Redakteuren off the record beim gemeinsamen Abendessen zu plaudern. Das Vorhaben wurde jedoch von der Zeitung Politico aufgedeckt und führte zu einem Imageverlust, wie es die Zeitung seit ihrer kritiklosen Befürwortung des Irak-Kriegs nicht mehr erlebt hatte. Symptomatisch für den wirtschaftlichen und ethischen Verfall der Redaktion war auch ein bewegendes Porträt über eine Modedesignerin mit Behinderung, deren Veröffentlichung Weymouth verhinderte und in Redaktionskonferenzen als Beispiel für Journalismus benutzte, wie sie ihn künftig nicht mehr sehen möchte. Solche Geschichten, so Weymouth, seien zu depressiv. Sie würden Werbekunden abschrecken.
Gemischte Erfahrungen mit Bezahlschranken im Netz
Erst im vergangenen Juni verkündete das Management der Washington Post, eine Bezahlschranke im Stil der New York Times einzuführen. Ob sie die Zeitung zurück auf die Erfolgsspur bringt, bleibt abzuwarten. Ein Allheilmittel gegen die Zeitungskrise sind Paywalls jedenfalls nicht. Für Titel, die nicht gerade als paper of record gelten und über eine globale Leserschaft verfügen wie die New York Times (die seit geraumer Zeit Gewinne mit ihrer „porösen“ Bezahlmauer generiert) oder auf die Publikation von Finanzdaten spezialisierte internationale Wirtschaftszeitungen wie das Wall Street Journal und die Financial Times, ist die Paywall-Strategie wohl keine Option. Von dem Drittel aller amerikanischen Zeitungen, die in den vergangenen Jahren damit experimentierten, haben die meisten inzwischen wieder Abstand davon genommen, zuletzt der San Francisco Chronicle. Rupert Murdochs Versuch, eine eigenständige kostenpflichtige iPad-Zeitung zu etablieren, scheiterte grandios. Weder schaffte es The Daily, den tagesaktuellen Diskurs zu prägen, noch wurde auch nur ein Cent Gewinn erwirtschaftet. Dennoch lassen es die Erfahrungen, die die New York Times, die Financial Times oder die britische Times mit Paywalls machen, durchaus möglich erscheinen, dass sich journalistische Bündelprodukte unter bestimmten Bedingungen auch in der digitalen Zukunft refinanzieren können. Schon heute spielen Tablets und mobile Endgeräte wie iPhones eine vor wenigen Jahren nicht für möglich gehaltene Rolle. Diese Geräte ermöglichen nicht nur das bequeme Konsumieren, sondern auch den einfachen Erwerb von digitalen Inhalten. Längst versuchen Zeitungen wie die Neue Zürcher Zeitung, Print- und Digital-Abonnements zu bündeln, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, Printprodukte langfristig auslaufen zu lassen. Vor diesem Hintergrund liegt für Verlage die große strategische Herausforderung der kommenden Jahre darin, Strategien für den Übergang von Print zu Online zu entwickeln, die auf die eigenen Marken und die Bedürfnisse ihrer Nutzer zugeschnitten sind. Die Bezahlschranken reichen von hermetischen „Mauern“ wie bei der Times of London und der Financial Times bis zu den offeneren Modellen von New York Times und Neuer Zürcher Zeitung. Das zeigt, dass die Geschäftsmodelle vielfältiger und komplexer werden – und der Erfolg voraussetzungsvoller wird.
Bei allen Ungewissheiten ist eines sicher: Mit austauschbaren Inhalten, die anderswo umsonst zu bekommen sind, wird sich auch in Zukunft im Netz kein Geld verdienen lassen. Gerade journalistische Inhalte im Internet basierten bisher häufig auf identischem Agenturmaterial. Hingegen wurden die Möglichkeiten des Netzes, Nachrichten im Sinne des interaktiven und multimedialen Storytelling aufzubereiten und dadurch einen digitalen Mehrwert zu schaffen, zugunsten sich im Wesentlichen an Print orientierender, textlastiger Produkte vernachlässigt. Interaktivität und Lesereinbindung erschöpfen sich in stupiden Votings und Klickstrecken. Der Dialog mit dem Leser, also ein Journalismus „auf Augenhöhe“, bringt enorme Potenziale mit sich – nicht nur für die gezielte Vermarktung, sondern auch für die Produktion journalistischer Inhalte, etwa indem die Leser als Zuarbeiter und Informanten in die Recherche eingebunden werden. Doch diese Potenziale werden gerade in Deutschland bislang kaum erkannt, geschweige denn genutzt. Auf diese Weise wird im Zeitalter digitaler Überall-Kommunikation und -Information kein tragfähiges Erlösmodell mehr aufrechtzuerhalten sein.
Angesichts der anhaltenden Ratlosigkeit wurde Jeff Bezos nach seiner Übernahme der Washington Post von Teilen der Wirtschaftsmedien geradezu als Messias gefeiert. Nur ein Technikvisionär wie Bezos, der schon die Bücherwelt auf den Kopf gestellt hatte, sei in der Lage, den Zeitungsjournalismus zu retten, befanden Kommentatoren. Was mag Bezos dazu bewogen haben, die Post zu kaufen? Experten und Beobachter haben mehrere, sich widersprechende Gründe identifiziert: Zufall (Bezos hat sich sozusagen ungeplant im Vorbeigehen von Washington Post-CEO Donald Graham überreden lassen); Mitleid (Bezos sei ein Philanthrop, der von der Notwendigkeit einer starken Presse überzeugt ist und seinem Land mit dem Kauf etwas von seinem Erfolg zurückgeben möchte); strategische Weitsicht (Bezos weiß bereits ganz genau, wie er das Blatt mit den diversen Amazon-Diensten verknüpfen kann); Narzissmus (Bezos hat sich die Post als Trophäe gekauft, wie sich andere Millionäre eine Yacht zulegen); Größenwahn (Bezos, der im Leben alles erreicht hat, reizen nur noch Selbstmord-Missionen wie die Rettung der klinisch toten Post); und schließlich knallhartes politisches Kalkül (Bezos will den nach wie vor großen Einfluss der Zeitung in der Hauptstadt nutzen, um die Belange Amazons zu fördern).
Der Besitz von Zeitungen war schon immer mit Prestige und Einfluss verbunden
Träfen alle diese Motive gleichermaßen zu, könnte man Bezos zum Kauf der Zeitung nur gratulieren (übrigens taxiert er die Einstellung der Printausgabe selbst auf das Jahr 2030). Er besäße dann eine journalistische Marke, mit der er gleichzeitig sein Geschäft beleben (naheliegend erscheint eine enge Verknüpfung der digitalen Distribution mit Amazons Tablet-Computer Kindle), sich als gönnerhafter Retter des Qualitätsjournalismus feiern lassen und die bereits engen Verbindungen mit der amerikanischen Regierung weiter ausbauen kann. Vor allem der letzte Aspekt hat in den Vereinigten Staaten für reichlich Unbehagen gesorgt, besonders aufseiten der großen Medienreform-NGOs wie FreePress oder FAIR. Tatsächlich ist es demokratiepolitisch problematisch, wenn eines der wichtigsten Meinungsorgane dem Chef eines Megakonzerns gehört, der sich in der Vergangenheit geweigert hat, Milliarden an Umsatzsteuern zu zahlen, der die Wikileaks-Enthüllungen proaktiv von seinem Cloud-Datendienst entfernt hat und der neuerdings im Rahmen eines Regierungsauftrags die technische Infrastruktur für den Geheimdienst CIA bereitstellt.
Dass mit Bezos nun einer der reichsten Männer der Welt im Besitz der wohl berühmtesten Zeitung der Welt ist, verwundert nicht. Zeitungen zu besitzen hatte für wohlhabende Unternehmer schon immer Trophäen-Charakter und war mit Prestige und Einfluss verbunden. Doch Verlegerdynastien, die durch den Zeitungsbetrieb reich geworden und die mit dem Geschäft nostalgisch über lange Jahre verbunden sind, gibt es fast nicht mehr. Stattdessen werden Zeitungen zu Spekulationsobjekten von renditeorientierten Investoren und Private Equity-Gruppen. Die Produktion journalistischer Inhalte wird zu einem geringfügigen Teilbereich von Investoren-Portfolios, die bei Bedarf kurzfristig wieder abgestoßen werden können. Investitionen in die Redaktionen sind bei solchen Konstellationen eher die Ausnahme; stattdessen wird durch Rationalisierungsmaßnahmen ihre professionelle und ethische Integrität unterminiert.
Investor Warren Buffett, der mehr als vierzig Jahre im Aufsichtsrat der Washington Post Company saß und als enger Berater von Donald Graham gilt, hatte kein Interesse daran, die Washington Post zu kaufen. Stattdessen investierte er mit seiner Berkshire Hathaway Holding in Regionalzeitungen. Nach einer zweijährigen Einkaufstour besitzt Buffett nun allein im Großraum Virginia/North Carolina 17 Regionalblätter. Diese operieren, wie oben beschrieben, allesamt profitabel. Vom in der Region neu entstandenen Meinungsmonopol einmal abgesehen, darf davon ausgegangen werden, dass Buffett die offensichtlichen Synergien zu nutzen gedenkt und Druckereien, Lager und Redaktionen zentralisiert. Der 82-Jährige hat in einem Brief an die Aktionäre von Berkshire Hathaway betont, dass er „Zeitungen liebt“, sie jedoch nur gekauft habe, weil es „wirtschaftlich Sinn macht“. Das wirtschaftliche Potenzial, dass Buffett sieht, besteht in dem nach wie vor vorhandenen Interesse der Bürger an Lokalnachrichten, die nur unzureichend durch Online-Angebote abgedeckt werden. Übernationale „General-Interest-Zeitungen“, die mit zehnstündiger Verspätung über die Ereignisse des Vortages berichten, hält Buffett für nicht mehr zeitgemäß.
Die Krise des Journalismus ist vor allem eine Krise der Massenmedien
Parallel zum vermehrten Engagement von Investoren im Zeitungs- und Mediensektor sind Verlagshäuser und Medienkonzerne in den vergangenen zehn Jahren selbst zu Private Equity-artigen Hybridunternehmen geworden – zu Konzernen, die das aus dem Mediengeschäft erwirtschaftete Kapital renditeorientiert in medienfremde Märkte investieren. Die Hearst Corporation (Houston Chronicle, San Francisco Chronicle, Seattle Post-Intelligencer), die als Privatunternehmen keine Geschäftszahlen veröffentlicht, gleicht mögliche Verluste längst durch Beteiligungen an der Rating-Agentur Fitch oder Krankenversicherungs-Dienstleistern aus. Springer erwirtschaftete schon vor dem Verkauf seiner Regionalzeitungen und Zeitschriften einen erheblichen Teil seines Umsatzes mit Preissuchmaschinen, Immobilien und Auto- und Shopping-Portalen. Und die Washington Post Company, die sich nach dem Verkauf ihres Flaggschiffs umbenennen muss, finanzierte ihren Zeitungsbetrieb jahrelang durch Kaplan quer, einen Betreiber überteuerter und dubioser Privatuniversitäten und sonstiger Bildungsangebote. Zwei Wochen vor dem Verkauf der Post sorgte das Unternehmen bereits für Verwunderung, als es still und heimlich die Übernahme eines Zubehör-Herstellers für chinesische Industrie-Öfen verkündete. Ebenfalls im Portfolio des Verlagshauses, das einst amerikanische Präsidenten stürzte: ein Betreiber privater Altenheime. Böse Zungen behaupteten, es sei das einzige Investment, das thematisch zum langsam aussterbenden Zeitungssegment passte.
Die Krise des Journalismus ist vor allem eine Krise der Massenmedien – ein Konzept, dessen Ära sich möglicherweise dem Ende zuneigt. Ihre zentrale Stellung in einer sich zusehends ausdifferenzierenden digitalen Kommunikationslandschaft sichern sich die Protagonisten dieser Ära nicht, indem sie digitale Innovation und Investitionen in die Weiterentwicklung originär journalistischer Arbeit mit Ausfallschritten in nichtjournalistische digitale Projekte wie Datingsites oder Handelsportalen verwechseln und ansonsten weitermachen wie bisher. Google (gegründet 1998), Wikipedia (2001) und Facebook (2004) stehen für an Tempo und Tragweite kulturhistorisch beispiellose Veränderungen, die nicht nur bestehende Strukturen, sondern auch gewohnte Routinen und soziale Identitäten in Frage stellen. Kein Wunder, dass viele Journalisten und Medienmanager lange dazu neigten, die Vergangenheit als Modell für die Zukunft zu nehmen und sich schwer damit taten, den gegenwärtigen Wandel als anzuerkennen und anzunehmen. Doch das Beharren auf bewährten Strukturen und Gewissheiten mag der kurzfristigen Selbstbestätigung dienen, zur Lösung von Problemen, die sich dem Zugriff gängiger Herangehensweisen entziehen, trägt es nicht bei und wird daher in ökonomischer wie auch demokratiepolitischer Perspektive zum Problem. Der Gesellschaft droht ihr wichtigstes Korrektiv zu zerfallen – und dies zu einer Zeit, in der der Bedarf an sorgfältig recherchierten, professionell aufbereiteten und nicht zuletzt wahrheitsgetreuen Informationen größer denn je ist.
Letztlich stehen Medienunternehmen vor dem Problem, sich einer Kultur anpassen zu müssen, die „ihre Eigenwerte und Eigenfunktionen“ verstärkt in „Netzwerken der Verknüpfung ihrer Entscheidungen in Wertschöpfungsketten ‚flussaufwärts‘ in Richtung der Lieferanten und ‚flussabwärts‘ in Richtung der Kunden“ findet, wie Dirk Baecker schreibt. Es gilt, unter den schwierigen Bedingungen rückläufiger Werbe- und Vertriebserlöse, die Arbeits-, Produktions- und Distributionsweisen zu hinterfragen, neue Lösungen zu testen und systematisch zu analysieren.
Unabhängig von der Frage, ob es gelingt, den Nutzer an das digitale Bezahlen journalistischer Produkte zu gewöhnen, stehen vielen Medienunternehmen in Folge weiter sinkender Vertriebs- und Werbeerlöse zusätzliche schmerzhafte Konsolidierungsschritte bevor. Das heißt jedoch nicht, dass dem Journalismus in der „digitalen Moderne“ zwangsläufig Niedergang und Verflachung bevorstehen. Digitale Medien bieten auch Chancen für eine revitalisierte Publizistik, etwa durch
• den Beitrag, den das Internet leisten kann durch Dialog, Nutzer-Einbindung und neue Darstellungsformen für die Qualität journalistischer Recherche sowie für ein Verständnis von Journalismus als dynamischen, sich fortschreibenden Erkenntnisprozess;
• die Potenziale hinsichtlich Vertrauen und Markenbindung, die aus der Miteinbeziehung vormals passiver Publika, aus der Zusammenarbeit mit „neuen Akteuren“ wie Bloggern oder zivilgesellschaftlichen Journalismusprojekten sowie aus Transparenz über Strukturen, Prozesse und Entscheidungen entstehen;
• oder die simple Tatsache, dass die physische Materialität von Zeitungen (Druck und Vertrieb) über 50 Prozent der Kostenbasis ausmacht und mit der Migration von Print ins Netz potenziell auch Mittel für journalistische Inhalte frei werden.
Nie war unabhängiger und professioneller Journalismus so nötig wie heute
Neue Technologien, schreibt Paul Starr, „können uns von unseren alten Verpflichtungen nicht entbinden“. Komplexität und Geschwindigkeit nehmen zu, die Gefahr von Fehlinformation und der Einfluss von PR werden größer: Ein unabhängiger, redaktionell organisierter Journalismus ist heute, in Zeiten des kommunikativen Surplus, notwendiger denn je, die Anforderungen an seine Protagonisten waren nie höher. Doch muss er sich unter veränderten Rahmenbedingungen nicht nur bewähren, er muss sich auch weiterentwickeln. Weg von „Print vs Online“, vom Denken in klar unterscheidbaren Auslieferungstechnologien und starren Organisationsformen. „Heilig ist die Schrift, nicht das bedruckte Papier“, so Claudius Seidl. Es geht um die Frage, wie ein unabhängiger, bestimmten professionellen wie ethischen Standards verpflichteter Journalismus gesellschaftlich anschlussfähig bleiben und seinen Funktionen für die Demokratie auch in Zukunft gerecht werden kann.