Das Ende der erlebten Vergangenheit

Der Jenaer Historiker Norbert Frei hat untersucht, wie sich die Wahrnehmung des Nationalsozialismus im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verändert hat

Das Jahr der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes liegt hinter uns. An Quantität übertraf das öffentliche Gedenken alles Vorausgegangene. Die Herren Speer und Goebbels sind einmal mehr dingfest gemacht und mancherorts samt ihrer Satelliten gar als Menschen wie du und ich medial vermarktet worden. Das Holocaust-Denkmal wurde eröffnet als ein Ort, zu dem die Deutschen „gerne hingehen“ (Gerhard Schröder) und auf dessen Stelen die Enkel der Tätergeneration ungeniert herumturnen. Können wir uns also bequem zurücklehnen, bis zum 70. oder 75. Gedenktag? Gar einen Schlussstrich ziehen und endlich – wie in den vergangenen Jahrzehnten vielfach gewünscht – den Fokus wechseln „von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfern“?

Der Jenaer Historiker Norbert Frei sieht solche Tendenzen, fürchtet sie und besteht darauf, dass „eine angemessene – und das heißt nicht zuletzt: auf sich verändernde Fragen Auskunft gebende – Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit (...) auch im 21. Jahrhundert politisch-moralisches Gebot und intellektuelle Herausforderung (bleibt).“ In seinem Buch 1945 und wir stellt Frei die Zeitgeschichtsschreibung und Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik sowie die wechselnden Bewusstseinslagen auf diesen Feldern in den Mittelpunkt. Seine Studie handelt davon, inwieweit Veränderungen der zu unterschiedlichen Zeiten gestellten Fragen ihrerseits den Diskurs über den Nationalsozialismus verändert haben – zum Positiven wie zum Negativen.

Die Ära der Zeitzeugen geht zu Ende

Gegenwärtig sieht Frei so etwas wie einen Epochenwechsel heraufziehen: „Für die allermeisten von uns ist die Hitler-Zeit keine erlebte Vergangenheit, sondern Geschichte. History, not memory.“ Das habe entgegen manchen Befürchtungen zwar nicht zu dem seit der Zeit Adenauers immer wieder gewünschten Schlussstrich unter die Vergangenheit geführt, aber doch die „Inhalte und Formen ihrer Vergegenwärtigung dramatisch verändert“. Demgegenüber qualifiziert Frei die neunziger Jahre als „Dekade der Zeitzeugen“, nicht ohne auf das Dilemma hinzuweisen, das dabei entstanden ist: Politische und gesellschaftliche Fragen treten in den Hintergrund, Geschichte wird personalisiert und „enthistorisiert“, Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischen, die Perspektive des Zeitzeugen gewinnt die Deutungshoheit. „Der Nationalsozialismus erscheint (...) als ein System, das aus der Summe der retrospektiven Selbsterklärungen seiner (letzten) Zeitgenossen zu begreifen ist.“ Ein besonders gutes Beispiel dafür bietet Heinrich Breloers Speer-Feature in der ARD: Hier wurde deutlich, wie Joachim C. Fest und Wolf Jobst Siedler der vermeintlichen Authentizität Speers aufsaßen.

Die Tendenz zur Revision sieht Norbert Frei auch im Umfeld der Achtundsechziger-Generation und erklärt sie als Ergebnis eines späten Wunsches nach Aussöhnung mit den alten Eltern. Die Kinder der Täter versuchen, ihre Eltern zu verstehen und entdecken sich dabei selbst als Opfer: als Opfer des Bombenkriegs, als Opfer der Vertreibungen, als zu Unrecht mit Schuldgefühlen Überladene. Belege für diese Haltung findet Norbert Frei sowohl in Günter Grass’ Novelle über die Opfer des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ („Fast musste man den Eindruck bekommen, als habe der Nobelpreisträger seine Blechtrommel beiseite gestellt.“); in der emotionalisierenden Veröffentlichung Jörg Friedrichs über den Bombenkrieg; und in den anhaltenden Bemühungen von Vertriebenenfunktonären, „in demonstrativer Konkurrenz zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten, ungeachtet aller daraus resultierenden Irritationen in Polen und Tschechien.

„Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“

Für nicht minder bedenklich hält Norbert Frei den Versuch, der Singularität des Holocaust den nivellierenden Begriff der „doppelten deutschen Diktatur“ an die Seite zu stellen – wie in einem Antrag der Unionsfraktionen im Bundestag vom 17. Juni 2004, der ein „Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen“ verlangte. Der frühere DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke, der den Antrag einbrachte, beteuerte: „Es steht ohne Zweifel: Bautzen ist nicht Auschwitz!“ Diesen Satz kennzeichnet Frei zutreffend als „Rhetorik der Platitüden“.

Überzeugend zeichnet der Autor die verschiedenen Phasen der sechzigjährigen bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung nach, etwa den Perspektivwechsel von „Nie wieder Krieg“ zu „Nie wieder Auschwitz“ während des Kosovo-Krieges 1999. An anderer Stelle belegt er überzeugend, dass die These von der „Kollektivschuld“ der Deutschen – in der deutschen Debatte heftig diskutiert – in keinem einzigen offiziellen Dokument der alliierten Siegermächte zu finden ist. Norbert Frei deutet diese „reflexartige Antizipation eines pauschalen Schuldvorwurfs“ als „ein durchaus verbreitetes Gefühl der persönlichen Verstrickung“. Mit genau diesem Gefühl erklärt er übrigens auch das überraschende Ausbleiben von individuellen Racheakten unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes.

Der Autor zeigt, wie es nach den von Verdrängung geprägten fünfziger Jahren in den folgenden zwei Jahrzehnten zu einer Periode intensiver Auseinandersetzung mit den Jahren 1933 bis 1945 kam. Er würdigt die Rolle des hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den Frankfurter Auschwitz-Prozess vorantrieb und damit den entscheidenden Anstoß für die Vergangenheitsbewältigung gab. Darüber hinaus thematisiert Norbert Frei die Schwierigkeiten, die auch seriöse Zeitgeschichtler im Umgang mit bestimmten Themen aus dem Bereich des Nationalsozialismus hatten: Manchmal hätte genaueres Hinsehen nämlich noch lebende Personen beschädigt und vielleicht sogar das eigene Verhalten in der Nazi-Zeit in den Blick geraten lassen. Dass zu Beginn der Aufarbeitung der Nazivergangenheit die „Machtergreifung“ im Zentrum des Interesses stand, interpretiert Frei einerseits als Folge des Wunsches, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Andererseits habe man so aber zugleich der Thematisierung von Krieg und Holocaust ausweichen können.

Und immer droht der Absturz

Bis auf zwei Kapitel hat der Autor seine Überlegungen schon an anderen Stellen veröffentlicht. Das ist aber kein Vorwurf, denn nun liegen Freis Gedanken gebündelt einem breiteren Leserkreis als dem Fachpublikum vor. Dass seine Studien nicht immer leicht zu lesen sind, liegt an der Materie: Was Frei hier leistet, ist ja nicht nur Geschichtsschreibung, sondern auch Reflexion über Geschichtsschreibung und die mit ihr in Wechselwirkung stehenden kollektiven Bewusstseinslagen.

Das Titelbild des Buches zeigt eine Artistengruppe, die auf einem Hochseil ihre Kunststücke vorführt. Die Zuschauer darunter stehen auf den Trümmern einer zerbombten Stadt. Das ist ein treffendes Bild. Geschichtsschreibung, zumal Geschichtsschreibung über Abgründe wie den Nationalsozialismus und seine Verbrechen, muss sein wie ein Seilakt: hochartifiziell und hochprofessionell. Und sie ist immer vom Absturz bedroht.

Norbert Frei, 1945 und wir: Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München: Verlag C.H. Beck 2005, 224 Seiten, 19,90 Euro

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