Das Gegenteil von langweilig
Fast auf die Stunde genau liegt ihre Wahl zur neuen Bürgermeisterin von Neukölln ein Jahr zurück, als Franziska Giffey mit strahlendem Lächeln die Villa Rixdorf betritt. Genau am 15. April 2015 trat sie die Nachfolge des legendären „Mr. Neukölln“ Heinz Buschkowsky an, jetzt ist sie direkt aus ihrer ersten Bilanz-und-Ausblick-Pressekonferenz in ihr Lieblingslokal geeilt.
Im hellen Gastraum wird die Bürgermeisterin erst einmal ausgiebig vom Team der Villa Rixdorf begrüßt. Franziska Giffey ist oft hier. Weil das Essen gut sei, das Ambiente zugleich international und gutbürgerlich. Aber auch, weil das Restaurant direkt am pittoresken Rixdorfer Richardplatz liegt. Die Fotos und Karten an der Wand erzählen von der Geschichte des alten böhmischen Dorfes, das den historischen Kern des heutigen Neukölln bildet. Die Villa Rixdorf selbst stammt aus dem Jahr 1870. Heute bietet die Gastwirtschaft ein überraschend kunterbuntes Crossover an Gerichten aus aller Herren Länder, dazu klassische Berliner Spezialitäten sowie die mit einem Meter Durchmesser angeblich riesigste Pizza Europas – trotz der gediegenen Atmosphäre alles zu „Neuköllner Preisen“, wie Giffey betont.
Wir bestellen Kalbsleber Berliner Art, Königsberger Klopse sowie Rigatoni Petti Pollo und kommen sofort auf Giffeys erstes Amtsjahr zu sprechen. Ihr prägnantes Resümee: „Es war turbulent.“ Das lag natürlich besonders an der Flüchtlingskrise, die habe alles andere überlagert. Über Nacht waren Unterkünfte für hunderte von Menschen zu organisieren, Turnhallen mussten requiriert werden und entrüstete Bürger besänftigt – monatelang sei alles ein einziger Ausnahmezustand gewesen. Giffey war ununterbrochen in ihrem Bezirk unterwegs, fast 400 Außentermine hat sie in diesem einen Jahr absolviert. Um zu motivieren, um Gesicht zu zeigen, „damit die Leute wissen, da ist jetzt jemand Neues im Rathaus“. Schließlich war Neukölln zuvor 14 Jahre lang vom omnipräsenten Heinz Buschkowsky repräsentiert worden, der den Bezirk mit seinen provokanten Zuspitzungen deutschlandweit in die Schlagzeilen brachte.
Die Neue im Neuköllner Rathaus pflegt einen ganz anderen Stil als ihr oft etwas bärbeißig daherkommender Vorgänger. Auch Franziska Giffey redet Klartext, wenn sie Neuköllns Probleme analysiert. Doch selbst dabei strahlt sie stets Zuversicht aus und vergisst nie, die Potenziale ihres Bezirks zu erwähnen. Giffeys Glas ist immer mindestens halbvoll: „Man kommt nicht weiter, wenn man alles nur negativ sieht“, sagt sie – Optimismus als regulative Idee. Andererseits könne sie niemandem raten, den „eisernen Willen“ zu unterschätzen, der sich hinter ihrem freundlichen Auftritt verberge. Dass sich die neue Bürgermeisterin mit den Neuköllner Verhältnissen bestens auskennt, ist sowieso klar. Bereits seit 2002 arbeitet die Diplom-Verwaltungswirtin und promovierte Politologin für den Bezirk mit seinen fast 330 000 Einwohnern. Sie war Europabeauftragte, danach Stadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport, bevor sie schließlich Buschkowsky beerbte.
Giffeys Megathema heißt Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Oder genauer: sozialer Aufstieg, Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt durch gute Bildungschancen für alle. Die Grundidee des vorsorgenden Sozialstaats ist in Neukölln wichtiger denn je. Jedes Jahr verlassen hier 400 Jugendliche die Schule ohne Abschluss – 17 Prozent eines Jahrgangs, die meisten von ihnen „NDH“, also nichtdeutscher Herkunft. Ihre Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt habe immense Auswirkungen im Hinblick auf Jugendkriminalität oder das Abgleiten in extremistische Strukturen. Dabei würden die Weichen für viele Kinder schon in den Elternhäusern gestellt. Bei der Einschulung weisen etliche ABC-Schützen ein katastrophales Sprachniveau auf. „Viel zu viele Kindergartenkinder kennen es gar nicht, dass ihnen jemand mal ein Buch vorliest“, sagt Giffey.
Als Ex-Bildungsstadträtin weiß sie bei dem Thema genau, wovon sie spricht. Ebenso gut weiß sie aber, dass sie als Neuköllner Bürgermeisterin nur sehr beschränkte Möglichkeiten hat, solche grundlegenden Probleme zu lösen. So fließen aus den 800 Millionen Euro Jahresbudget des Bezirks drei Viertel direkt in die Sozialleistungen. Giffey: „Ich kann nur ein einziges Prozent des Haushalts für Investitionen ausgeben.“ Unter solchen Bedingungen könne man leider nur langfristig etwas bewegen: mit Sprachförderung in den Kitas, mit motivierteren Schulleitern, mit mehr und besser qualifizierten Schulabgängern. Denn das ist das Paradox, auch in Neukölln: Fachkräfte werden inzwischen händeringend gesucht, bloß genug geeignete Bewerber finden die Unternehmen nicht mehr.
Franziska Giffey berichtet das alles ganz ohne resignative Untertöne. Überhaupt helfe Schwarzweißmalerei nicht weiter, weder in Neukölln noch sonst irgendwo. Und gibt es da nicht auch die vielen Menschen, die ehrenamtlich für positive Veränderungen arbeiten? „Die Leute brauchen vor allem Anerkennung. Die wollen nicht ständig bloß hören, was alles schlecht läuft.“ Zumal der Schmelztiegel Neukölln unglaublich vielfältig sei: Es gebe eben nicht nur Integrationsprobleme, Hartz IV-Empfänger und die „arabischen Großfamilien“, sondern inzwischen auch über 1 000 junge Kreativunternehmen, jede Menge Studierende und Künstler, dazu alteingesessene Berliner und bürgerliche Milieus wie hier am Richardplatz.
Die Vielfalt zwischen Avantgarde- und Problembezirk politisch unter einen Hut zu bringen sei allerdings nicht so einfach. „So viele unterschiedliche Dinge finden gleichzeitig und nebeneinander statt“, sagt Giffey. „Und im Alltag nimmt das jeder anders wahr, immer abhängig von den eigenen Ambitionen, Sorgen und Bedürfnissen.“ Zumal sich die meisten Bewohner eher an ihrem eigenen Kiez als am gesamten Bezirk orientieren. Zwischen Rudow oder Britz im Süden und dem Herrmannplatz in Nord-Neukölln können soziale, ökonomische und kulturelle Welten liegen. „Da braucht es jeweils ganz unterschiedliche Handlungsansätze.“ Überall aber müsse man aufrichtig mit den Leuten kommunizieren. Ihnen zuhören und dann ehrlich und transparent erklären, warum sich manche Probleme, ob steigende Mieten oder renovierungsbedürftige Schulen, nicht so schnell lösen lassen. Dann würden die Bürger viele Zwänge nachvollziehen und ihre Erwartungen an die Politik überdenken. Schließlich kann Kommunalpolitik in vielen Fragen nur der Vermittler zwischen den Bürgern und der Landes- oder Bundesebene sein.
Nach dem ebenso vorzüglichen wie reichhaltigen Essen diskutieren wir, welche Lehren der Mikrokosmos Neukölln für Deutschland und Europa bereithält. Franziska Giffey berichtet, dass viele den Bezirk als eine Art Laborversuch wahrnehmen, weil hier so viele gesellschaftliche Phänomene besonders ausgeprägt auftreten, mit denen es andere europäische Regionen erst nach und nach zu tun bekommen. Migration und Integrationsprobleme, Jugendarbeitslosigkeit, Gentrifizierung und „Glocalisierung“ – alles findet in Neukölln besonders drastisch statt. „Was dann beim hard case Neukölln als Lösung funktioniert, das funktioniert sehr wahrscheinlich auch woanders“, sagt Giffey.
Nach anderthalb Stunden Gespräch am Freitagnachmittag muss die Bürgermeisterin weiter. Ein Moscheebesuch steht noch an, am Abend dann ein politischer Salon. Als Franziska Giffey gegangen ist, erklärt uns der Wirt der Villa Rixdorf noch, wie er das seinerzeit heruntergekommene Gebäude vor 12 Jahren eigenhändig renoviert und hergerichtet hat. Auch so eine Erfolgsgeschichte aus dem „neuen Neukölln“, das unendlich vieles zugleich ist, nur langweilig ganz sicher nicht. Weshalb der Bezirk bei Franziska Giffey offensichtlich in genau den richtigen Händen ist.