Das Luxemburg-Szenario
Jens Lehmann passt einfach besser zu unserer Spielphilosophie“ – so begründete Nationaltorwarttrainer Andreas Köpke die Entscheidung des Bundestrainers, den hoch gewachsenen Arsenal-Keeper zur Nummer eins der deutschen WM-Auswahl zu berufen. Kurz zuvor hatte sich Bundestrainer Jürgen Klinsmann mit Oliver Kahn getroffen.
Dieses Vorgehen ist formal korrekt und das Gespräch mit dem Torwart des FC Bayern war sicher nicht gerade einfach für Klinsmann. Vielleicht kann man es am Beispiel einer Ehescheidung nachvollziehen: Nachdem die holde Gattin gemäß dem Rotationsprinzip ein Jahr lang abwechselnd mit ihrem Mann und dem charmanten Zahnarzt aus dem Nachbardorf ausgegangen ist, drängt der Ehepartner im April auf eine endgültige Entscheidung. Obwohl seine Frau eine solche erst für den Mai angekündigt hatte, verliert der Mann letztlich die Geduld. Angespornt von wohlmeinenden Freunden aus dem Fußballverein, besonders von Manager und Präsident, setzt der frustrierte Gatte seiner unentschlossenen Ehefrau die Pistole auf die Brust und fordert ein klärendes Gespräch unter vier Augen. Tatsächlich stellt die Bedrängte dann nach einem schier endlosen Austausch von Nettigkeiten und drei Schoppen Rotwein das Glas auf den Tisch und blickt tief in die erwartungsvollen Augen ihres Ehemannes: „Schatz, der Zahnarzt passt einfach besser zu meiner Spielphilosophie!“
Stellt man sich das Rendezvous zwischen Klinsmann und Kahn dergestalt vor, erreicht das Verständnis für Kahns Enttäuschung noch einmal eine ganz andere Dimension. Allerdings liegt zugegebenermaßen die Vermutung näher, dass sich das besagte Treffen ganz anders abspielte und der „philosophisch“ untermauerten Begründung eher die Funktion einer offiziellen Sprachregelung zukommt. „Der Kahn spielt im Moment nur Bockmist, deshalb stellen wir den Lehmann ins Tor“, wäre vielleicht ehrlicher gewesen. Aber Wahrheiten sind wohl angesichts der ohnehin schon strapazierten Stimmung in Fußball-Deutschland nur schwer auszusprechen.
Wenn nun einmal von Wahrheit die Rede ist, dann stellt sich dem aufmerksamen Beobachter freilich doch die Frage nach der „Spielphilosophie“. Denn aus der offiziellen Sprachregelung geht jedenfalls hervor, dass sich zumindest Klinsmann und Köpke im Besitz einer solchen wähnen. Bloß: „Spielphilosophie“ – was soll das denn eigentlich sein? Und vor allem: Kann man eine Philosophie einfach so haben? Als Fußballtrainer gar?
Klinsis ganzheitliches Erkenntnisbemühen
Gemeinhin versteht man unter Philosophie eine Art ganzheitliches Erkenntnisbemühen um das Wesen aller Dinge und deren innere Zusammenhänge. Demnach müsste die Köpkesche Einlassung ungefähr so interpretiert werden: Jens Lehmann passt besser zum Erkenntnisbemühen des Trainerstabes im Hinblick auf das Wesen und den inneren Zusammenhang des Spiels der deutschen Nationalmannschaft. Aber kann denn ein Fußballtorwart zu einem Bemühen um Erkenntnis passen? Klingt doch irgendwie ganz schön kompliziert.
Um die Komplexität noch weiter zu treiben, muss auch die Frage gestellt werden, wen Torwarttrainer Köpke eigentlich mit „uns“ meinte. In jedem Fall wohl sich selbst und Jürgen Klinsmann nebst Co-Trainer Joachim „Jogi“ Löw, so viel scheint klar. Aber darüber hinaus vielleicht auch Teammanager Oliver Bierhoff. Eventuell noch Kapitän Michael Ballack. Oder meinte Köpke sogar die gesamte Nationalmannschaft, als er von „unserer Spielphilosophie“ sprach? Das allerdings wäre ein echter intellektueller Paukenschlag im deutschen Fußball. Rund zwei Monate vor Beginn der Weltmeisterschaft im eigenen Land übt sich der gesamte Nationalmannschaftskader in philosophischer Suche nach dem innersten Sein und der Wesenhaftigkeit des Fußballspielens. Wie muss sich der viel gescholtene „kleine Mann“ ein solches Mannschaftsphilosophieren am Ende vorstellen?
Versammeln sich etwa die hochdotierten Nationalspieler regelmäßig um den Mittelkreis und interpretieren gemeinsam, auf antiken Steinblöcken sitzend die platonischen Dialoge? Über das Italien-Debakel haben sich die Philosophen in Trainingsanzügen dann vielleicht mit Platons berühmtem Höhlengleichnis hinweggetröstet: „Ach Männer, die vier Gegentore waren nicht wirklich, sondern nur ein subjektiv verfärbter Schatten des eigentlichen Spiels, in dem wir klar die Besseren waren.“ Schade nur, dass sich die oberflächliche Sportpresse seit Jahren solchen erkenntnistheoretischen Relativierungen verweigert. Aber Gott sei Dank erkämpften unsere Helden ja kurz darauf gegen die berüchtigte B-Auswahl der USA einen fulminanten Sieg.
Überhaupt riecht die Abfolge der deutschen Testspiele schon wieder arg nach Philosophie – fernöstlicher diesmal. Denn hinter dem Nach-einer-Spitzentruppe-kommt-eine-Gurkentruppe-Phänomen steckt in Wirklichkeit das konfuzianische Bemühen um das vollkommene Gleichgewicht zwischen positiven und negativen Energien unserer Spieler. Jing und Jang. Wahrscheinlich war Klinsmann nach der peinlichen Vorstellung seiner Elf gegen China bei einem mitgereisten Konfuzianer zum philosophischen Consulting und hat, als ihm der weise alte Mönch die Sache mit Jing und Jang erklärt hatte, zum Handy gegriffen und in Luxemburg angerufen. Der Fußballzwerg sagte schließlich zu, sich als Testspielgegner vor der WM von Ballack und Co wegputzen zu lassen – wegen des Gleichgewichts.
Was aber geschieht, wenn sich der vermeintliche David plötzlich zum Goliath aufschwingt, die DFB-Elf besiegt und die gesamte Nation am nächsten Morgen auf Seite eins dieser großen deutschen Tageszeitung lesen muss: „Krasse Klatsche! Klinsmann kaputt!“? Weil einfach nicht sein kann was nicht sein darf, organisierte sich Klinsmann im Hinblick auf dieses Szenario schnell noch eine Audienz beim Papst. Denn wenn die Philosophie nicht weiter weiß, dann gibt es immer noch Gott. Bei dem soll nun Papst Benedikt XVI. ein gutes Wort für die Nationalmannschaft einlegen, schließlich ist er ja Deutscher.
Klinsmann zwischen Papst und Kaiser
Vermittelt hatte die Audienz beim Stellvertreter Gottes auf Erden übrigens kein geringerer als „Kaiser Franz“ Beckenbauer. Nun gut, deutsche Kaiser haben bekanntlich traditionell einen guten Draht nach Rom. Dummerweise fand zum Zeitpunkt der Audienz gerade das Treffen mit den Vertretern der WM-Teilnehmer in Deutschland statt. Eingeladen dazu hatte das Organisationskomitee unter Leitung von niemand anderem als – Franz Beckenbauer. Und weil der nicht auf den Kopf gefallen ist, beschwerte er sich sogleich öffentlich über das Fernbleiben Klinsmanns. Dabei wusste natürlich niemand so gut wie der Kaiser persönlich, dass der Bundestrainer nicht daheim im sonnigen Kalifornien weilte, sondern gerade wegen der Luxemburg-Eventualität beim Heiligen Stuhl vorsprach. Eine wahrhaft starke Kommunikationsleistung! Nun hofft Klinsmann, dass der Papst seinen Vertreterjob gut macht und gegen Luxemburg nichts anbrennen lässt – wegen des Gleichgewichts.
Bleibt die Frage, warum nicht auch Olli Kahn Beckenbauers Beziehungen nach ganz oben in Anspruch genommen hat, um die Torwartfrage für sich zu entscheiden. Dafür gibt es gleich mehrere Erklärungsansätze. Zunächst könnte der Münchener so viel teutonisches Selbstbewusstsein haben, dass er meinte, das Torwartduell auch ohne göttlichen Beistand zu seinen Gunsten entscheiden zu können. Schließlich hört der Bayern-Keeper auch auf den Namen „Titan“. Für sein enormes Selbstvertrauen spricht zudem eine Äußerung des Bundestrainers nach Bekanntgabe der Entscheidung für Lehmann: „Er ist vom Typ her keine Nummer zwei“, soll Klinsmann nämlich über Kahn gesagt haben. Nun muss sich Jürgen Klinsmann die Frage gefallen lassen, wie eine typische Nummer zwei aussieht. Abgesehen davon ist es auch nicht sonderlich ergiebig, von einem dreimaligen Welttorhüter, langjährigen Mannschaftskapitän und 84-maligen Nationaltorwart zu behaupten, er sei vom Typ her keine Nummer zwei. Das ist erkenntnisphilosopisch so ergiebig wie von einem Baum zu behaupten, er sei kein Haus.
Ist Benedikt „vom Typ her“ Fußballfan?
Aber zurück zu Kahn und dem Heiligen Stuhl. Es gibt noch eine weitere Erklärung, warum Kahn keine päpstliche Fürbitte in Anspruch genommen hat: Womöglich ist der Papst vom Typ her gar kein Fußballfan. Dann allerdings wäre auch die Klinsmann-Audienz vergeblich gewesen. Was passiert demnach aber im Falle des Luxemburg-Szenarios? Zurückgreifen auf Platons Höhlengleichnis? Da wird die Presse nicht mitspielen! Alle Schuld dem chinesischen Mönch in die Schuhe schieben? Wäre schlecht wegen der Exportrate! Beten? Wie gesagt, der Papst ist zwar Deutscher aber vielleicht kein Fußballfan!
Also müsste ein Personalopfer her. Aber wer? Der neue Sportdirektor? Nein, denn Sammer ist ein Ostdeutscher, und wenn wir in Deutschland eines ganz bestimmt nicht brauchen, dann einen weiteren arbeitslosen Ostdeutschen! Bierhoff feuern? Das könnte auch nach hinten losgehen, denn wer soll dann die Werbeverträge des DFB erfüllen? So einen smarten Teammanager bekommen wir so schnell nicht wieder. Und Jogi Löw ist schon wegen seiner Unschuldsmine unverzichtbar. Also müsste Klinsmann selbst dran glauben? Geht nicht, denn dann gibt es Ärger mit Washington von wegen Antiamerikanismus und so!
Man kann es drehen und wenden wie man will, eine Niederlage gegen Luxemburg wäre ein Riesendilemma. Doch solche Dilemmata und Aporien sind schließlich das Salz in der Suppe der Philosophie. Dann setzen sich die Spieler wieder auf ihre Steinblöcke am Mittelkreis, und Klinsmann beruft eine Anhörung auf dem Spielfeld ein, zu der alle Philosophieprofessoren, Konfuzianermönche und der Papst mit sämtlichen Kardinälen eingeladen werden. An die hoch dekorierte Versammlung stellen die frisch von Luxemburg vorgeführten DFB-Spieler nur eine Frage: „Was sollen wir jetzt machen?“ Die Antwort kommt wie aus einem Munde: „Werdet Weltmeister!“
Das Schicksalsspiel Deutschland – Luxemburg wird am 27. Mai 2006 um 17 Uhr im Freiburger Dreisamstadion ausgetragen. Das ZDF überträgt leibhaftig.