Das Raubtier an die Leine legen
Ohnmacht zersetzt Vertrauen
Nun könnte der Unterschied zur Sozialdemokratie kaum größer sein. Wir haben die vergangenen beiden Jahre genutzt, um nach dem Debakel von 2009 wieder auf die Beine zu kommen – durch intensive Diskussionen in der gesamten Partei, durch gute Arbeit in der Fraktion. Das Fundament ist also gelegt. Aber es gibt noch viel zu tun, damit wir für die Menschen auch bei der kommenden Bundestagswahl mehr sind als das kleinere Übel. Entgegen dem TINA-Prinzip (There Is No Alternative) lebt die Demokratie von der Alternative. Wenn wir wieder eine Mehrheit für uns gewinnen wollen, geht es genau darum: Alternativen aufzuzeigen und für sie einzustehen.
Nichts frustriert Menschen mehr als das Gefühl der Ohnmacht – Ohnmacht, die das Vertrauen in unsere Demokratie langsam aber sicher zersetzt. Deshalb wandelt sich nicht nur unser Parteiensystem rasant, auch außerparlamentarisch ist vieles im Umbruch. Die Occupy-Bewegung ist dafür nicht das einzige Beispiel, aber ein wichtiges. Wer sind die Menschen, die weltweit demonstrieren, um ihrem Unmut über die Auswüchse des Finanzsystems Luft zu machen? Was treibt sie auf die Straße? Und vor allem: Was sind ihre Ziele? Wer einfache Antworten erwartet, wird enttäuscht sein. Doch wer den Protest deshalb abtut, begeht einen großen Fehler.
„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“, fragt Mackie Messer in Brechts Dreigroschenoper. Aber die Menschen, die in New York, Brüssel oder Frankfurt ihre Stimme erheben, wollen die Banken gar nicht ausrauben. Vielmehr fühlen sie sich selbst ausgeraubt von einem Finanzsystem, das einer kleinen Minderheit auf Kosten der großen Mehrheit unvorstellbaren Reichtum verschafft. Deswegen besetzen sie die Wall Street, deshalb schlagen sie in Frankfurt ihre Zelte auf und vernetzen sich weltweit im Internet.
Zukunftsangst treibt die Menschen um
Wie bei jeder Welle des Protests treibt auch die Occupy-Bewegung mitunter seltsame Blüten; Jon Stewart nimmt sie in seiner Daily Show in den Vereinigten Staaten regelmäßig auf die Schippe. Wer sich noch an die Bilder vom „Schweigemarsch“ der S21-Gegner in Stuttgart erinnert, der weiß, dass so etwas einfach dazugehört. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Nicht ominöse „Berufsdemonstranten“ prägen das Bild, sondern ganz normale Leute. Zwar geht bislang nur ein Bruchteil der „99 Prozent“, für die die Bewegung sprechen will, tatsächlich auf die Straße. Doch die Angst um den eigenen Wohlstand und die Zukunft der Kinder und Enkel treibt die Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung um. Auch wenn die üblichen Verdächtigen aus der extremen Linken den Protest gern als Vorhut der bevorstehenden Weltrevolution deuten wollen und sogar Rechtsextreme bis hin zur NPD versuchen, die Demonstrationen zu unterwandern – im Kern ist der Protest Ausdruck einer tiefen Verunsicherung der Mittelschicht, die um ihre Jobs, ihre Ersparnisse, ihre Zukunft fürchtet. Diese Menschen sind enttäuscht von einer Politik, die angesichts einer entfesselten Finanzwirtschaft ohnmächtig erscheint und von der sie sich kaum noch Lösungen versprechen.
In den Vereinigten Staaten, wo ein fester Glaube an die Segnungen freier Märkte spätestens seit der Präsidentschaft Ronald Reagans zum politischen Grundkonsens gehörte, spürt man diesen Schock besonders stark. Für Präsident Barack Obama ist die Occupy-Bewegung als Gegengewicht zur radikal-libertären Tea Party die vielleicht letzte Hoffnung auf eine zweite Amtszeit. Sie stellt die Ideologie der Rechten fundamental in Frage und bietet Obama zugleich die Gelegenheit, sich in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren.
Doch es geht um weit mehr als um politische Strategien. So diffus das Gefühl der Ohnmacht auch sein mag, so wenig lässt sich von der Hand weisen, dass zu lange zugesehen wurde, wie die internationalen Finanzmärkte das Primat der demokratischen Politik langsam ausgehöhlt haben. Auch wir Sozialdemokraten konnten die Deregulierung nicht verhindern. Damit müssen wir selbstkritisch umgehen – ohne allerdings zu vergessen, dass ein breiter Konsens darüber bestand, den Finanzplatz Deutschland zu einem Global Player zu machen.
Der schlimmste Fehler von Schwarz-Gelb besteht darin, dass die Regierung die historische Gelegenheit zu einer Re-Regulierung nach der Finanzkrise 2008 nicht genutzt hat – und wohl auch gar nicht nutzen wollte. Drei Jahre nach Ausbruch der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Bilanz der Finanzmarktregulierung mehr als ernüchternd. Auf dem G20-Gipfel vom 15. November 2008 in Washington wurde noch gefordert, kein Produkt, kein Akteur, kein Markt dürfe unreguliert bleiben. Dieses Postulat bleibt weiterhin Wunschdenken.
Bei der Herrschaft der Märkte darf es nicht bleiben
Die Menschen auf der Straße fordern nicht die Abschaffung der Märkte. Sie verfolgen keine ideologischen Ziele. Sondern sie erwarten vor allem, dass sich die demokratisch verfasste Politik endlich ihre Handlungsspielräume zurückerkämpft und diese dann auch nutzt. Der Raubtierkapitalismus soll zurück an die Leine, damit er nicht das auffrisst, was Millionen Menschen durch harte Arbeit geschaffen haben. Das ist nicht nur verständlich, das ist völlig berechtigt. Darum müssen wir Sozialdemokraten beweisen, dass wir nicht vor den Märkten kuschen. Denn die Forderung, dass nicht anonyme Märkte darüber bestimmen, wie wir leben, sondern wir Menschen selbst, ist ursozialdemokratisch. «