Das sozialdemokratische Paradox
Ein Wochenende im Frühjahr 2007, zwei Landesparteitage der SPD. In Hamburg hat der Journalist Michael Naumann, früher eine zeitlang Kulturstaatsminister im Kabinett Schröder, seinen ehemaligen Chef und dessen Innenminister Otto Schily zusammengetrommelt. Schröder wirbt für Naumann, die beglückten Delegierten jubeln ihrem Altkanzler zu. Naumann wird mit 99 Prozent der Stimmen zum Bürgermeisterkandidaten der Hamburger Sozialdemokraten gewählt.
Tags darauf versammelt sich ein paar Dutzend Kilometer weiter die schleswig-holsteinische SPD zu ihrem Parteitag. In Neumünster kandidiert Innenminister Ralf Stegner für das Amt des Landesvorsitzenden. In seiner Bewerbungsrede verkündet er grimmig, Gerhard Schröders Agendapolitik habe „Schaden in der SPD angerichtet“. Auch hier sind die Delegierten begeistert und belohnen Stegner für seine Einsicht mit dem schönen Ergebnis von 89 Prozent der Stimmen.
Das alles passt hinten und vorne nicht zusammen. Die deutschen Sozialdemokraten sind ins Schwimmen geraten. Sie können sich nicht darüber einigen, ob sie in den vergangenen Jahren das Richtige getan haben oder das Falsche. Sie sind nicht sicher, ob sie eine zupackende und optimistische Zukunftspartei in der Mitte der Gesellschaft sein wollen oder doch lieber ein nörgelnder Nostalgieverein am Rand. Sie schwanken zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie den Zeitgeist lieber prägen oder beklagen wollen.
In diesem Zustand lassen sie sich sogar von dem seltsamen Haufen vorgestriger Altkommunisten und radikalisierter Gewerkschaftsfunktionäre aus der Fassung bringen, die sich hinter den verkrachten Populisten Oskar Lafontaine geschart haben. Dessen abwegige Behauptung, ausgerechnet die PDS/Linkspartei mit ihrer totalitären Vergangenheit und ihrem trüben Gebräu aus Protektionismus und Etatismus sei ab sofort die wahre Sozialdemokratie im Land, versetzt derzeit nicht wenige in der SPD in Angst und Schrecken.
Jenseits der rauchenden Schlote
Der Kleinmut solcher Sozialdemokraten ist vollständig rätselhaft. Denn im Grunde erleben wir gerade jetzt einen historischen Augenblick, in dem Zeitgeist und gesellschaftliche Erwartungen an die Politik kaum sozialdemokratischer geprägt sein könnten. Ein wirklich überzeugendes und mit Überzeugung vorgetragenes Leitbild sozialer Demokratie für das 21. Jahrhundert würde sich daher zweifellos als mehrheitsfähig erweisen. Doch die verängstigten, introvertierten und auf Vergangenes fixierten Sozialdemokraten merken nicht einmal, wie gut sie bei den Leuten ankommen könnten. Das ist das neue sozialdemokratische Paradox.
Gewiss, nicht nur Sozialdemokraten tun sich schwer. Überall in Europa sind die alten kulturellen und sozialen Konfliktlinien hinfällig. Die klassische Industriegesellschaft ist Geschichte, ein neues Zeitalter jenseits der rauchenden Schlote von einst hat begonnen. Die überkommene konservative Bürgerlichkeit ist genauso im Aussterben begriffen wie das alte Industrieproletariat. Zugleich ist in jüngster Zeit auch der Kurswert ganz und gar marktfixierter Rezepte aus guten Gründen drastisch gefallen.
In den Hintergrund getreten sind mit diesen Umbrüchen auch frühere politische Polaritäten. Große Mehrheiten innerhalb der breiten Mitte der europäischen Gesellschaften sind heute nicht mehr Insassen fest gefügter Gruppen, Milieus und politischer Glaubensgemeinschaften mit immer gleichen Loyalitäten. Diese pragmatischen gesellschaftlichen Mehrheiten erwarten heute von der Politik wirtschaftliche Dynamik und soziale Sicherheit und ökologische Verantwortung und kulturelle Liberalität. Alles auf einmal und alles zugleich.
Gesellschaftliche Mehrheiten werden sich in Zukunft regelmäßig für diejenigen Parteien entscheiden, die diese Kombination gerade am besten hinzubekommen scheinen. Das könnten wache, beherzte und moderne Sozialdemokratien sein, im Grunde sogar gerade sie. Doch derzeit sind es – nicht nur in Deutschland – die Parteien der rechten Mitte, die den „sozialdemokratischen Moment“ geistesgegenwärtiger erfassen und für sich zu nutzen verstehen.
In Schweden beispielsweise präsentieren sich die Konservativen heute nicht mehr als konservativ, sondern als die zeitgemäßere Ausgabe der Sozialdemokraten. Denselben Weg haben unter Führung von David Cameron die britischen Tories eingeschlagen. In Deutschland wiederum stehen Christdemokraten wie Ursula von der Leyen oder Ole von Beust für dieses Erfolgsrezept. Selbst der Hesse Roland Koch gibt sich neuerdings als Vertreter einer vorsichtig progressiven und weltoffenen Mitte. Sie alle tun, was sie tun, weil es mehrheitsfähig ist und in die – prinzipiell – sozialdemokratische Grundstimmung der Gesellschaft passt.
Manches besser machen? Jetzt von rechts!
Nicht die neoliberale und konservative Weltsicht hat sich gesellschaftsweit durchgesetzt, wie uns (und sich selbst) die Vertreter des verhockten linkskonservativen Milieus beharrlich einreden. Auf diffuse Weise hegemonial ist – im Gegenteil – längst eine latent sozialdemokratische und kulturell offene Haltung, die auch die sozialen und bildungsbezogenen Voraussetzungen ökonomischen Erfolgs in Rechnung stellt. Vor fast genau einem Jahrzehnt propagierten Gerhard Schröder und andere Vertreter des sozialdemokratischen Dritten Weges: „Wir werden nicht alles anders machen, aber manches besser.“ Heute sind es überall in Europa Konservative, die nach exakt diesem Muster erfolgreich sind.
Die Idee einer erneuerten sozialen Demokratie (gleichsam mit kleinem „s“) hat demnach auf breiter Linie gesiegt. Zweifelhaft ist allein, ob es die sozialdemokratischen Parteien sein werden, die in den kommenden Jahren vom neuen, prinzipiell sozialdemokratischen Zeitgeist unserer Gesellschaften profitieren. Denn dieses neue sozialdemokratische Lebensgefühl ist nicht parteigebunden. Es kann sich ohne weiteres auch gegen Sozialdemokraten wenden.
In Finnland ist genau das erst vor wenigen Wochen geschehen. Hier haben die zuvor mitregierenden Sozialdemokraten bei den jüngsten Parlamentswahlen eine deutliche Niederlage eingesteckt. Ab sofort werden damit sämtliche nordischen Mitgliedsländer der Europäischen Union von Mehrheiten der rechten Mitte regiert. Zum Konservatismus konvertiert oder vom neoliberalen Bazillus befallen sind die skandinavischen Konsensgesellschaften deshalb noch lange nicht.
Darin liegt eine wichtige Botschaft für Sozialdemokraten überall in Europa – und gerade auch in Deutschland. Diese Botschaft lautet, dass sich Sozialdemokraten entscheiden müssen: Sie müssen sich entscheiden zwischen der Welt ihrer alten Milieus, ihrer überkommenen Gewissheiten und Organisationen, aus der sie hervorgegangen sind – und der modernen, breiten Mitte der Gesellschaft, in der sie heute agieren müssen. Wer es beiden Welten zugleich recht machen will, der macht es am Ende niemandem mehr recht: Das Vergangene lässt sich so nicht festhalten – und eine Zukunft mit neuen Projekten und Bündnissen nicht gewinnen. Genau das erlebt gerade die deutsche Sozialdemokratie.
Untote aus den fernen siebziger Jahren
Aber keineswegs allein die deutschen Sozialdemokraten stecken ratlos in diesem Dilemma fest. In Finnland verloren die Sozialdemokraten die jüngste Parlamentswahl auch deshalb, weil die Gewerkschaften im Wahlkampf eine Kampagne gegen „die Reichen“ vom Zaun brachen. Das sollte den Sozialdemokraten helfen, ging jedoch mit Wucht nach hinten los. Die Hälfte der sozialdemokratischen Wähler in Finnland (aber beileibe nicht nur dort) schätzt sich heute selbst als Mitglieder der modernen, aufstrebenden „Mitte“ ein. Aus ihrer Sicht erschienen die Sozialdemokraten plötzlich wie gruselige Untote aus den fernen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Der sozialdemokratische Geist unserer Zeit verlangt also nach einer wirklich erneuerten Sozialdemokratie. Das wäre eine Sozialdemokratie, die den Wunsch der breiten gesellschaftlichen Mitte nach einer sozialen Form von Demokratie für unsere Zeit verstehen und verarbeiten würde, statt die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als gute alte Zeit zu verklären. Es wäre eine Sozialdemokratie, die wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit als zwei Seiten derselben Medaille begriffe. Es wäre eine Sozialdemokratie, die nicht ein für allemal Vergangenes zur Messlatte für Gegenwart und Zukunft machte. Und es wäre eine Sozialdemokratie, die endlich damit aufhören müsste, einen Zeitgeist zu bejammern, der doch eigentlich auf ihrer Seite ist.
Die gesellschaftliche Nachfrage nach solch einer zeitgemäßen Variante von Sozialdemokratie wächst beständig. Doch weder in Deutschland noch anderswo in Europa sieht es einstweilen so aus, als könnten die nominell sozialdemokratischen Parteien von dieser Lage profitieren. Unterdessen schlafen die Parteien der rechten Mitte kein bisschen. Sie profitieren, wo immer sie stark sind, vom Traditionalismus der Linken und staffieren sich mit Erfolg als die moderneren, effizienteren und pragmatischeren Sozialdemokratien aus.
Wo verunsicherte Sozialdemokraten auf diesen cleveren Winkelzug der Konkurrenz mit einem noch defensiveren Traditionalismus reagieren, verschärfen sie ihre schwierige Lage nur immer weiter. Die zögerlichen und allzu introvertiert mit sich selbst beschäftigten Sozialdemokraten täten daher gut daran, sich wieder der breiten, modernen Mitte der Gesellschaft zuzuwenden. Sie wären erstaunt, wie sozialdemokratisch der Zeitgeist dort weht. Vielleicht könnte dieser dann irgendwann auch wieder sozialdemokratische Segel füllen.